Der Tastsinn im Ich, und das Ich im Tastsinn 2. Teil

2.Teil in dem der Tastsinn bei Aristoteles etwas genauer angeschaut wird.

„Der Tastsinn ist wie eine Mitte (mesotes) für alle Gegenstände“ Aristoteles

Der Blick in die antike Psychologie ermöglicht zweierlei, einerseits sind dort einige Grundannahmen der menschlichen Seele herausgearbeitet, die für eine gegenwärtige Psychologie noch gelten, andererseits kann man auch bemerken, dass die menschliche Entwicklung fortgeschritten ist und einige Beobachtungen heute anders ausfallen würden.

Hier einige Grundaussagen zum Tastsinn aus dem 3. Buch ‚Über die Seele‘ von Aristoteles:

  1. Ohne Berührung, Tasten kann es auch keine andere Wahrnehmung geben.
  2. Jeder beseelte Körper ist tastfähig.
  3. Die anderen Sinne nehmen durch einen anderen Körper wahr, nämlich durch die Dazwischenliegenden; der Tastsinn besteht darin die tastbaren Gegenstände selbst zu berühren. Das Tasten berührt durch sich selbst.
  4. Der Tastsinn ist wie eine Mitte für alle Gegenstände.
  5. Er besteht weder(nur) aus Erde, noch aus anderen Elementen.
  6. Beim Verlust des Tastsinns stirbt das Lebewesen.
  7. Die anderen Wahrnehmungsgegenstände wie Schall oder Farbe zerstören lediglich die Wahrnehmungsorgane; das Übermaß des Tastbaren dagegen zerstört das Lebewesen.

Der Tastsinn der grundlegende Sinn aller Lebewesen, das ist noch relativ einfach nachzuvollziehen (Aristoteles begründet dies auch). Aber was er eigentlich ist, wird nicht so recht deutlich, nur was er nicht ist. Er ist auf jeden Fall existentieller als die anderen Sinne, denn sein Verschwinden beendet auch das Leben. Wenn das Tastende abnimmt, nimmt das Tastbare zu. Oder, die andere Variante: Zuviel Tastbares verdrängt das Tastende, bzw. den Tastenden. (Man könnte also auf den Gedanken kommen, dass das Tastende in der Zukunft des Lebewesens besteht, während das zu Tastende die Vergangenheit ausmacht.)

Schwieriger wird es bei den Aussagen 3 und 4. Der Tastsinn nimmt nicht wie das anderen Sinne durch ein Medium (wie Luft, oder das Durchsichtige, oder Wasser) wahr, sondern berührt das zu Tastende direkt und durch sich selbst.  Und auf den ersten Blick ebenso unverständlich ist die zweite Aussage, der Tastsinn ist wie eine Mitte für alle Gegenstände.

Der Begriff ‚mesotes‘ wird in der Literatur in der Regel als ‚maßhaft bestimmte Mitte‘ übersetzt. Maßhaft bestimmte Mitte meint aber nicht nur eine Art quantitative Mitte, sondern auch oder eigentlich eine durch den logos bestimmte Einheit schaffende Mitte. Für die einzelnen Wahrnehmungsorgane bedeutet dies: Sie sind auf diese maßhafte Bestimmtheit hin organisiert. Diese maßhafte Bestimmtheit wird zerstört, wenn das Wahrnehmungsorgan zu stark bewegt wird. Man sogar noch die aufnehmende Mitte des Organs von der hervorbringenden Mitte der Wahrnehmung unterscheiden. (Simplikios bei Bernhard S.95). In der Wahrnehmung ist eine unterscheidende Instanz tätig, die eine unteilbare Einheit ist (so Bernhard S.180). Sie kann also die Gegensätze dieser Mitte wahrnehmen. Maßstab dieser Mitte, und damit aller Wahrnehmungen ist der Mensch. Bei der Wahrnehmung durch das Ohr ist das einfach zu verstehen, da verursacht ein zu lautes Geräusch eine zu heftige Bewegung (der Luft als Träger) und diese kann das Organ schädigen. Auch können bestimmte Arten vor Geräuschen, zum Beispiel sehr plötzliche Geräusche wie Knall solche Bewegungen auslösen, die das Ohr mehr schädigen als Geräusche gleicher Lautstärke, die aber nicht so unvermittelt auftreten. Die Einheit schaffende Kraft der Wahrnehmung wird durch solche Gegenstände aufgelöst und zerrissen. Hören ist also ein ganz bestimmter Zusammenhang von Hörbarem und dem Medium Luft, dass diese Hörbare trägt. Nicht alles was heute gehört werden kann entspricht dieser Einheit. Das Hören schafft dadurch, dass ich in das innere eines Gegenstandes eindringen kann, also seine innere Beschaffenheit erhöre, ein Raumerlebnis für den Wahrnehmenden, das auch den äußeren Raum erst konstituiert. (Dieser ist ein anderer Raum als der optische Empfindungsraum der Farbe)

Für den Tastsinn scheint dies aber noch einmal in besonderer Weise zu gelten, weil er ohne Medium (also etwas Dazwischenliegendes und Vermittelndes) wahrnimmt. Er nimmt durch sich selbst wahr. Er ist die Mitte aller Gegenstände. Das, was die Gegenstände zu etwas Bestimmten macht, also ihre maßhafte Einheit, schafft die Wahrnehmung des Tastens. Und diese Einheit nimmt das im Menschen wahr, was den Menschen zu einer ebensolchen Einheit macht, also die Mitte des Menschen. Das Einheitliche haben Gegenstand und Mensch gemeinsam, und doch unterscheiden sie sich. Und dieses ist das Tasterlebnis. Wenn der Mensch dieses Einheitliche in seinem Leib nicht mehr immer wieder neu schaffen kann, dann wird die tastbare Welt auch immer weniger zusammenhänglich und löst sich auf, bzw. wird undurchdringlich.

Literatur: Aristoteles Über die Seele, Meiner 2017 (die neue Übersetzung), Wolfgang Bernhard, Rezeptivität und Spontanität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden-Baden 1988

Im nächsten Teil werde ich einige Ergebnisse der beiden Delos-Seminare zum Tastsinn erörtern (ergänzt um einige Seitenblicke in die letzten schriftlichen Aussagen Steiners im Heilpädagogischen Kurs und in den Klassenstunden). Damit soll der Zusammenhang zwischen Tastsinn und Ich für eine gegenwärtige Menschenkunde  beleuchtet werden.

Roland Wiese 2.7.2018

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