Der Tastsinn im Ich, und das Ich im Tastsinn

Teil 4

„Es gibt nur Wahrnehmbares und Denkbares.“

Was ist eigentlich eine Wahrnehmung? Passives Erleiden von Reizen aus der Umwelt, wie es das 20. Jahrhundert weitgehend formuliert hat [1]? Die moderne Aristoteles Forschung hat herausgearbeitet, dass Wahrnehmung weder etwas rein Subjektives, noch etwas rein Objektives ist, sondern eine reale Berührung, ja Identität von Wahrnehmbarem und Wahrnehmung existiert. „Die Tätigkeit des Wahrnehmbaren und die Tätigkeit des Wahrnehmungssinnes ist dieselbe und eines.“ [2] Die Wahrnehmung ist eine unterscheidendes Erkenntnistätigkeit. Sie ähnelt dem Denken darin, dass sie das Vermögen zur Selbstbewegung hat, selbst aktiv unterscheiden kann, d.h. die Tätigkeit ist ein „aktives Moment der Seele, d.h. das Subjekt kann selbst in Beziehung zu dem Wahrnehmungsgegenstand treten“[3].  Andersherum wird das Wahrnehmen durch den Gegenstand der Wahrnehmung „aufgeweckt“, der Gegenstand dient dazu die Tätigkeit des Unterscheidens aufzuwecken. Die Tätigkeit des Unterscheidens im Wahrnehmen ist damit auf den Gegenstand angewiesen, also auf die Aktualität des Hier und Jetzt. Damit ist sie eindeutig auf die irdischen Bedingungen verwiesen. Ich nehme, wenn ich z.B. die Farbe ‚Gelb‘ wahrnehme, nicht irgendeine Information wahr, einen Reiz, den ich in die Farbe Gelb verwandele, ich nehme eine Realität, eine Tätigkeit wahr, die Gelb ist. Das das Gelb die Oberfläche eines Gegenstandes ist, hat damit erst einmal nichts zu tun, es ist nur der Anlass für die Gelb-Wahrnehmung. Ich nehme also das wahr, w a s Gelb ist. Das, was ich da wahrnehme ist immer wahr. Es gibt keine Täuschung in den einfachen Wahrnehmungen. Täuschung entsteht erst, wenn ich verschiedene Wahrnehmungen zusammensetze. Das Wahrnehmbare versetzt das Wahrnehmungsorgan in eine Tätigkeit, die ich dann wahrnehme. „Im Moment, in dem das aktuale Wahrnehmungsvermögen und der aktuale Wahrnehmungsgegenstand gleich sind, unterscheidet die aktuale Wahrnehmungstätigkeit den aktualen Wahrnehmungsgegenstand und erkennt so das wahrnehmbare Eidos (Erkenntnisform R.W.), wobei sie selbst aktual der Tätigkeit nach dieses Eidos wird.“ [4]

Ein ähnlicher Vorgang wie im Denken. Auch dort wird das Denkende und das Gedachte eines. Der Unterschied ist nur, dass das Denken nicht an das Hier und Jetzt eines Wahrnehmungsgegenstandes gebunden ist. Wahrnehmen ist eine aktive geistige Unterscheidungstätigkeit, die durch den Gegenstand aufgeweckt wird, dann aber aktiv ist. Erkennen bedeutet ja sich dem Erkenntnisgegenstand anzugleichen und dadurch zu erkennen, dass ich diese Tätigkeit selbst vollziehe. Während das Denken ein Vorgang ist, in dem Gedachtes und Denkender sich im Inneren des Erkennenden befindet, sind beim Wahrnehmen Wahrnehmender und Wahrnehmbares anscheinend getrennt in Innen und Außen. Ohne Wahrnehmbares keine Wahrnehmung, ohne Wahrnehmenden ebenso. Ebenso ist Bedingung für die Wahrnehmung das Wahrnehmungsorgan, in dem sich die Veränderung durch das Wahrnehmbare vollzieht. Alle drei Anteile der Wahrnehmung müssen wiederum sich in einer ‚maßhaften Mitte‘ befinden, sonst kann die Wahrnehmung nicht vollendet werden. Ist der Wahrnehmungsgegenstand zu leise, oder das Ohr taub, oder die Aufmerksamkeit abgelenkt, wird nichts bewusst gehört. Ist er zu laut, wird das Organ geschädigt, und es kann auch nichts mehr unterschieden werden. Der Begriff der maßhaften Mitte (grch. Mesotes), den wir schon bei dem Tastsinn angeschaut haben, betrifft alles Sinneswahrnehmungen. Bei allen bezieht er sich aber auf etwas Bestimmtes. Beim Sehen auf die Farben, beim Hören auf die Töne, beim Tasten auf die maßhafte Mitte aller Gegenstände.

Ein wichtiges weiteres Faktum gehört zur ‚Wahrnehmung‘ als Unterscheidungstätigkeit dazu, dass sie uns angeboren ist. Sie differenziert sich zwar im Verlauf der Kindheit immer weiter aus, wie wir oben angesprochen haben (der ‚eine Sinn des Kindes‘), aber wir besitzen von Geburt an ein aktives geistiges Unterscheidungsvermögen, das wahrheitsfähig ist, und aus dem sich das Denken, als von Einzelwahrnehmungen unabhängiges Erkenntnisvermögen entwickelt. Dies ist eine wichtige menschenkundliche Tatsache, die für eine weitere Forschung zum Ausgangspunkt werden kann. Wahrnehmen, scheint so betrachtet eine Art Denken zu sein, dass sich in einem Dornröschen-Schlaf befindet und aufgeweckt werden muss. Es ist abhängig von seiner Umgebung, vom Wahrnehmbaren in seiner Umgebung, und abhängig von seinen leiblichen Wahrnehmungsorganen und von seinem Wahrnehmungsvermögen. Würde man auf der frühen Kindheitsstufe fragen was das ‚Ich‘ ist, müsste man alle drei Faktoren als eine Art ausgebreitetes äußeres und inneres Ich denken. Das Ich ist auf Objekt und Subjekt, Außen und Innen verteilt und kommt in der Entwicklung durch die Berührung beider Anteile, Tätigkeiten zu sich selbst. Und so ist das kindliche Erleben ja auch charakterisiert: Eine Übergänglichkeit zwischen Innen und Außen, und Außen und Innen, die sich erst im in der weiteren Entwicklung auftrennt in inneres Erleben und äußere Welt.

Die Ursache für diese Trennung hat Rudolf Steiner in der entsprechenden Klassenstunde, aber auch in seinem Buch ’Seelenrätsel‘ in der Auseinandersetzung mit den irdischen Kräften, z.B. der Schwerkraft gesehen. Das direkte sich Verbinden und Auseinandersetzen mit diesen Kräften in den unteren Sinnen, gibt den mehr lichtartigen und luftigen Wahrnehmungen der oberen Sinne erst ihre Schwere und Gebundenheit (sowohl an den Gegenstand, wie auch an das Subjekt). Das Durchschauen und Erleben dieser unbewussten Verbindung, und der damit sich bildenden Urteile, kann so Rudolf Steiner dazu führen, die Übergänglichkeit des Ich wieder in ähnlicher Weise, wie das Kind zu erleben, ohne auf die Bewusstseinsstufe des Kindes zurückzukehren. Denn die Bildung des zentralen Ichs durch die beschriebene Verbindung mit den Erdenkräften und ihrer Stützfunktion ist eine Erfahrung, die jetzt als ‚Ich‘ Erlebnis in die Wahrnehmung mit hineingenommen werden kann. Sprich, verkürzt ausgedrückt, kann das Tasten als Ich-Tätigkeit in allen Wahrnehmungen (und im Denken?) ausgeübt und bemerkt werden.

14.7.2018

 

 

[1] (siehe Wikipedia: „Wahrnehmung (auch Perzeption genannt) ist der Prozess und das Ergebnis der Informationsgewinnung und -verarbeitung von Reizen aus der Umwelt und dem Körperinnern eines Lebewesens. Das geschieht durch unbewusstes (und beim Menschen manchmal bewusstes) Filtern und Zusammenführen von Teil-Informationen zu subjektiv sinn-vollen Gesamteindrücken. Diese werden auch Perzepte genannt und laufend mit gespeicherten Vorstellungen (Konstrukten und Schemata) abgeglichen.)“

[2] Arist.,de An. , 425b26-27

[3] Krewet, Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles, Heidelberg 2011 S.  258 (Dissertation)

[4] Ebd.S.259

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