Der Tastsinn im Ich, und das Ich im Tastsinn – Teil 6

Teil 6

Inneres und Äußeres

Will man verstehen wie Ich und Tasten zusammenhängen, muss man sich intensiver mit dem Verhältnis von Innen und Außen beschäftigen. Das Tasterlebnis besteht ja aus dem Effekt, dass ein Inneres ein Äußeres als Grenze erlebt. Dieses Erlebnis ist insofern existentiell, dass es dem Inneren ein Erlebnis des eigenen Seins vermittelt. Rudolf Steiner schreibt in seinem Buch ‚Anthroposophie‘ (Ein Fragment), dass das Ich im Wahrnehmen (aber auch im Denken) sein Erleben nach allen Seiten entfaltet. „In diesem Erleben kann es sich nicht selbst erleben. Es muss sich zum Selbsterleben sein eigenes Erleben entgegenstellen. Es stellt sich selbst als Empfindung sich entgegen.“[1] Man kann also von einem noch nicht bewusstseinsfähigen Erleben ausgehen, das sich nach allen Seiten entfaltet. Indem ihm nun die Sinneserlebnisse „entgegenwachsen“ wird aus diesem sich entfaltenden Erleben eine Art „Ich-Organismus“. Das Ich wird erlebbar und dauerhafter. Das was das zentrale Ich-Erleben des Menschen ausmacht ist also zweierlei, das sich Entfalten eines geistig-seelischen Erlebens und das diesem Entfalten entgegen Kommende der Sinneswahrnehmungen. „Es ergibt sich daher ohne weiteres, dass das menschliche Ich-Erleben ein solches ist, dass aus einer übersinnlichen Welt fließt, aber erst wahrgenommen werden kann, wenn es sich einwurzelt in einen Organismus, der in sich ein Gefüge ist von Ich-, Begriffs- und Lautorganismus.“ (S.191). Rudolf Steiner sieht im Begriffssinn den obersten der Sinne, in ihm liegt die Möglichkeit Begriffe als Äußerung des Innersten eines Wesens wahrzunehmen. „Ein weiteres Untertauchen in ein anderes Wesen als bis zur Empfindung dessen, was in ihm als Begriff lebt, ist nicht auf sinnenfällige Art möglich. Der Begriffssinn erscheint als derjenige, der in das Innerlichste eines Außenwesen dringt.“ Im nächsten Satz kommt dann wieder die Wendung auf den Wahrnehmenden, der in der Wahrnehmung sein eigenes Inneres erlebt: „Der Mensch nimmt mit dem Begriffe, der in einem anderen Menschen lebt, dasjenige wahr, was in ihm selbst seelenhaft lebt.“ Ein sehr wichtige Beobachtung für eine realistische Psychologie. Indem ich den anderen Menschen in seinem in ihm lebenden Begriffswesen wahrnehme, komme ich auch zu einer (Selbst)Wahrnehmung meines in mir lebenden Begriffswesen! Wir haben hier das Was-Erlebnis des Ich. Und dieses fällt noch unter die Sinneswahrnehmungen!

Inneres und Äußeres müssen für eine solche Denkweise anders angeschaut werden als heute normalerweise üblich. Ich komme nicht in ein Inneres eines Gegenstandes hinein, indem ich ihn immer mehr auseinandernehme. Dadurch erzeuge ich immer nur neues Äußeres. Auch nicht indem ich die Körperlichkeit einer Wesenheit (eines bestimmten Was) zerstöre, durch verschiedene physikalische oder chemische Aktionen – dadurch schaffe ich zwar reale neue Wirklichkeiten, entferne mich aber vom Wesen des Gegenstandes immer weiter. Rudolf Steiner (bewusst, oder unbewusst basierend auf der aristotelischen Sinneslehre) sieht dagegen in jeder Sinneswahrnehmung die Möglichkeit in unterschiedliche Seinsebenen  e i n e r  Sache einzudringen. „Bei jedem Sinn ist das Verhältnis, in das der Mensch zu einem äußeren Gegenstand tritt, ein anderes als bei den übrigen Sinnen.“ (ebd. S.169) So komme ich mit dem Begriffssinn als oberstem Sinn in das Wesen des Gegenstandes (der Pflanze, des Tieres, des Menschen) hinein, während ich mit dem Geschmackssinn eine ganz andere innere Wirklichkeit dieses Wesens erlebe. Wichtig ist aber die Tatsache, dass ich mittels der Sinneswahrnehmungen ganz viele unterschiedliche Schichten einer Sache von ganz Außen bis ins Innerste erleben kann. Und gleichzeitig jedes Mal auch eine analoge Rückstrahlung in die entsprechende Wirklichkeit des eigene Wesens habe. Subjekt und Objekt berühren sich permanent.

Mit dem Tastsinn (der für Steiner im Fragment noch analog zum Ich aus dem eigentlichen Sinnesbereich herausfällt) komme ich jetzt in die äußerste Wirklichkeit eines Gegenstandes: „Was durch ihn über einen Gegenstand ausgesagt wird, stellt sich als etwas dar, was ganz außerhalb des Menschen liegt. Es muss also der Mensch als Ganzes aus der übersinnlichen Welt heraus so aufgebaut sein, dass er auf Grund der Tasterlebnisse sich eine außer ihm liegende Welt gegenüberstellt.“ (S. 172) Während ich also mit dem sich entfaltenden übersinnlichen Ich mich erlebend in die Welt hinein entfalte, schaffe ich mit dem Tastsinn eine mir gegenüberstehende Welt, eine Welt, die außerhalb meiner selbst ist. Erst dieses Erlebnis ist aber die Basis für das Erleben eines Gegenübers, eines Äußeren, dass ich nicht durchdringen kann, einer Grenze. Dieses Erlebnis ist die Grundlage dafür, dass der Mensch im irdischen Leben sich einer objektiven Außenwelt gegenübergestellt sieht. Dieses Verhältnis ist nun wiederum bedeutend für die Entwicklung eines gegenüber der Außenwelt autonomen Subjekts. Das bedeutet, das das Verhältnis Ich-Tastsinn auch anthropologisch sich erst im Lauf der Menschheitsentwicklung bis zu diesem Punkt hin entwickelt hat. So dass ältere Beschreibungen dieses Verhältnis nur den jeweiligen Stand der Menschheitsentwicklung ausdrücken.

21.7.2018

Worin liegt nun der Sinn dieser anthropologischen Entwicklung? Welche Funktion hat sie für die Ich-Entwicklung?  Wie wird sie sich weiter entwickeln? Dies werde ich im nächsten Teil versuchen zu skizzieren.  

 

 

 

 

 

 

 

[1]  Steiner, R. in Clement, S. 190 SKA Bd. 6

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