Ich-Entwicklung und die Entwicklung der Welt

Ein Beitrag mit dem Hintergrund unseres 2. Treffens – Ich-Entwicklung Begleiten

Ich beschäftige mich gerade mit Claus Otto Scharmer, der mit seiner „Theorie U – Von der Zukunft her Führen“ versucht Ich-Entwicklung als eigentlichen Durchgangspunkt zur Weltentwicklung deutlich zu machen. So bemerkt er bei allen bisherigen Systemen der Weltentwicklung, dass die Perspektive des sich entwickelnden Selbst ausgeblendet wird. Es sind meist ‚Vogelperspektiven‘, und er fragt: „Welche Perspektive würde sich ergeben, wenn wir das Schlachtfeld nicht nur von oben, sondern aus Sicht der Akteure sehen könnten – aus der Perspektive des sich entwickelnden Selbst?“ (Claus Otto Scharmer Therie U, Heidelberg 2015, S. 115)
Ein zweites Kriterium für eine menschliche Wissenschaft des 21.Jahrhunderts ist für ihn die Frage, ob sie ein Wissen generiert, dass die Realität nur beschreibt, oder „ob sie die Realität, die sie beschreibt, auch hervorbringen kann.“ Es gebe einen ‚blinden Fleck‘ in unserer Wahrnehmung: „Wir nehmen unsere Realität als etwas Äußeres wahr, als etwas, das mit uns geschieht. Wir sehen den Prozess nicht, durch den wir selber die soziale Realität gemeinsam hervorbringen. (…) Dieser blinde Fleck, der den Prozess von sozialer Wirklichkeitsentstehung betrifft, steht einem direkteren Zugriff auf die tieferen Quellen unserer Kreativität im Wege. Das betrifft die Kreativität von Individuen und Gemeinschaft gleichermaßen. Von einem strukturellen Blickwinkel aus betrachtet, spiegelt sich dieser gesellschaftliche blinde Fleck in einem Fehlen von Begegnungs- und Wahrnehmungsräumen, in denen Akteure über die Grenzen von Institutionen und Sektoren hinweg Zukunftsmöglichkeiten sehen, entwickeln und realisieren lernen. Die Gegenwart ist dadurch geprägt, dass organisierte Interessengruppen Antworten auf die gegenwärtigen Probleme anstreben, dabei aber meist nur ein Sonderinteresse vertreten.“ (S.116)
Wenn man dies auf die die Arbeit im Sozialen bezieht, also auf eine professionelle Begegnungs- und Beziehungsarbeit mit einzelnen Menschen, dann wird einem sehr schnell klar, dass der ‚blinde Fleck‘ in dieser Arbeit darin liegt, dass die Entwicklung nur eines Menschen in den Blick genommen wird, die des anscheinend Hilfebedürftigen. Aus dieser Perspektive heraus verschwindet der Helfer als eigenständiges Selbst beinah vollständig aus dem Blick. Er wird zu einem objektiven Werkzeug – zu einer Assistenz, ohne Gesicht, Geschichte, Vergangenheit und Zukunft. Er vollbringt eine ‚Beziehungsdienstleistung‘, wie es fachlich und menschlich verfehlt, manchmal dargestellt wird. Es gibt in der Geschichte der Sozialarbeit und auch der spezifischeren Geschichte der sozialen Psychiatrie nur wenige Beispiele, die die wechselseitige Entwicklung der Beteiligten und ihre Bedingungen in den Blick nehmen und vertreten. Nahezu überall wird versucht verobjektivierte Wirksamkeiten in der sozialen Arbeit zu kreieren, die dann möglichst auch noch planbar und messbar sind. Die Reduktion der Wirklichkeit im Modell führt aber auf die Dauer auch zu reduzierter Wirklichkeit, dass heißt zu einer Reduktion des Erlebens und Lebens.
Claus Otto Scharmer sieht, dass das Kernproblem der Gesellschaft diese Trennung zwischen Selbst und Umfeld ist. „Diese Trennung materialisiert sich beispielsweise in sozialen Konflikten“ – und ich würde ergänzen auch in Problemen des Selbsterlebens inklusive vieler psychischer Probleme. „Im Kern der ökologischen Krise steht die Trennung zwischen meinen Wahrnehmungen und meinem Selbst. So wie die soziale Kluft den Verlust des anderen auf einer interpersonellen Ebene widerspiegelt, spiegelt die ökologische Krise den Verlust der Wahrnehmung des Lebendigen inder Natur wider. Die daraus entstehende Leere ist das Kernproblem der darübergelagerten Prozesse und Strukturen.“ (S. 122)
In unserem 2. Treffen zur Frage der Begleitung von Ich-Entwicklung hatten wir gestern ein überzeugendes Beispiel dafür, welche Vertiefung und damit auch welche Erfüllung möglich ist, wenn man diese Verbindung zwischen Selbst und Erleben wieder ernst nimmt. In unserem kleinen Experiment ist es diesmal gelungen, durch den Hintergrund der Ich-Entwicklungsfrage einen Raum zu schaffen in dem die Erfahrungen der einzelnen sich gegenseitig vertiefen konnten. Diese Vertiefung kann ganz unterschiedliche Dimensionen annehmen. Sei es, dass die persönliche Entwicklung an einem Erleben deutlich wird, oder weitergeht, sei es, dass menschenkundliche Forschungsfragen in der Einzelgeschichte aufleuchten sei es, dass sich Erfahrungen gegenseitig vertiefen. Man hat kann dann plötzlich bemerken, dass auch die dramatischsten Erfahrungen, meist mit Schmerz verbunden, zu einer Art Erfahrungssubstanz werden, ja zu einer Art Schatz. Man fühlt sich durch die Ich-Entwicklungsfrage als leitende Perspektive nicht mehr unlösbaren Problemen ausgeliefert, sondern in einem ungeheuer produktiven Entwicklungsmilieu aktiv tätig. Kennzeichnend für ein solche Milieu ist, dass die Situationen offen bleiben für zukünftige Entwicklungen, das heißt, sie sind nicht abgeschlossen, selbst wenn vielleicht sogar punktuell Lösungen entstanden sind. Man verliert in einem solchen gemeinsamen Entwicklungsraum auch die Engführung auf Lösungen und Ziele, die normalerweise in der Arbeit vorherrscht. Es ist überhaupt nicht klar in welche Richtung sich Entwicklungen und Lösungen vollziehen werden. Das heißt soziale Arbeit, Entwicklungsarbeit am Selbst muss immer gekennzeichnet sein von einer solchen Ergebnisoffenheit – dies teilt sie mit aller geistigen Produktion, sei es wissenschaftliche Forschung, sei es künstlerische Produktion. Die Verrechtlichung der sozialen Arbeit hat zu einer Entindividualisierung dieser Produktion geführt. Ein solcher Freiraum, eine solche Arbeit kann auch immer nur frei erbracht werden, aus eigener Entscheidung, ein solcher Freiraum muss erst einmal wieder gegen den Mainstream gegenwärtiger Entwicklung geschaffen werden. Auch dies wurde gestern deutlich, Ich-Entwicklung kann nur gegen die Nicht-Ich-Strukturen errungen werden – nur im Kontrast wird der Unterschied wirklich deutlich. Ihre Potentialität würde sie sonst vollständig in der imaginativen Schwebe halten. Aber ohne die Entwicklung zum Ich hin, vernichtet die Sozialarbeit auf die Dauer ihre eigene Grundlage, den sich selbst entwickelnden Menschen.
Roland Wiese 1. Advent 2018

2 Gedanken zu “Ich-Entwicklung und die Entwicklung der Welt

  1. Aus dem Text ist mir nicht klar worin denn nun das Experiment miteinander bestanden hat. Da ich selber nicht am Treffen teilnehmen konnte suchte ich hier nachzulesen was geschehn ist.

    1. Lieber Sinclair, das Treffen bildet nur den Hintergrund für weiterführende Überlegungen. Das Treffen selbst wollte ich nicht konkret beschreiben, dafür war es zu intim! Roland

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