Die Ich-Entwicklung der Wahrnehmung
Auf einem Spaziergang vor einigen Tagen durch die Felder kam mir eine ‚Übung‘ in den Sinn, die Wolf-Ulrich Klünker in seinem Buch ‚Die Erwartung der Engel‘ schildert: Der Versuch in der eigenen Wahrnehmung „die Subjekt- und die Objektseite gleichermaßen im Bewusstsein zu halten“ (S.42). Der Versuch, und das Bemerken wie schwer es ist eine solch „ausgeglichene Wahrnehmungshaltung“ herzustellen, macht einerseits deutlich, dass dies nur durch eine unmittelbare Präsenz in dem Wahrnehmungsaugenblick möglich ist, andererseits entsteht diese genau durch ein solches Bemühen. Der Berührungspunkt zwischen Subjekt und Objekt – innen und außen entsteht nur im Bemühen um einen solchen Berührungspunkt. Es ist eine Wahrnehmungsübung und gleichermaßen eine Selbsterkenntnisübung. Die Frage, was ist jetzt außen und was innen – hat eine aufweckende Wirkung. Sie führt dazu zu bemerken, wie verschränkt außen und innen in mir sind. Ein möglicher Anlass mich an diese Übung zu erinnern und ein Bedürfnis zu haben in eine wirkliche Anwesenheit auf diesem Feldweg oder in mir, zu gelangen, mag in der etwas diffusen Dunststimmung des späten Nachmittags gelegen haben – es war kein Naturbild oder keine Naturstimmung, die einen eindeutig mit der Wahrnehmung in sich aufnimmt. Es war mehr eine Stimmung, die einen etwas ratlos darin herumgehen ließ. Möglicherweise war es aber auch die eigene innere Lage der Unbestimmtheit, die ihre Ursache in einem freien, nicht arbeitsmäßig bestimmten Duktus hatte. Der Versuch sich, wie oben angedeutet, im Wahrnehmen zu greifen, führte aber ziemlich direkt zu einem deutlicheren Dasein in der Situation und in der Wahrnehmung.
Man kann das als eine erste Stufe eines Vertiefungsvorganges bezeichnen, der sich dann weiter fortsetzte. Für diese erste Stufe ist noch wichtig, dass dazu gehört zu bemerken, wie man selbst dieses Naturbild und Naturgeschehen entstehen lässt. (Klünker zitiert in dem Kapitel Steiner, der 1918 in einem Aufsatz davon spricht, dass ein solches Naturbild nur entsteht durch ein Interesse des Menschen, das er als ‚Liebefähigkeit‘ bezeichnet. S.39) „Die Natur wird dem Menschen sinnlich-anschaulich dadurch, dass sein Wesen liebefähig ist. Für ein Wesen, dass innerhalb des Sinnesfeldes nicht liebefähig wäre, fiele das ganze menschliche Naturbild hinweg. (…) Für denjenigen, der vermag sich selbst einerseits im Naturerkennen, andererseits in der Liebeentfaltung selbsterkennend zu erleben, wird diese Eigenheit der menschlichen Organisation unmittelbar anschaulich.“ Es gibt eine objektive äußere Landschaft, eine äußere objektive Witterung und es gibt den Menschen der diese äußere Welt als einen Wahrnehmungszusammenhang erschafft.
Diese Wahrnehmungsart, die die eigene Tätigkeit mit wahrnimmt, führt dazu, dass eine Art Atem, eine Art Pendeln wahrnehmbar wird, zwischen der eigenen Wahrnehmungstätigkeit und dem, was man als objektives Äußeres wahrnimmt, das auf einen zukommt. Weder erlebe ich passiv die Welt um mich herum, noch schaffe ich mir einen rein subjektiven Wahrnehmungsinhalt. Innen und außen werden gegeneinander durchlässig. Der Mensch fühlt sich durch diesen Prozess verbunden mit der wahrgenommenen Welt. Er befindet sich in dieser wahrgenommenen Welt und gleichzeitig in sich.
Eine zweite Stufe in der Folge eines solchen Prozesses kann sich dann so darstellen, dass der objektive Wahrnehmungsinhalt der Umgebung wie innerlich angenommen wird, als existierender Zusammenhang, der nicht in irgendeiner Weise hinterfragt wird, oder kritisiert. Es ist ein Zusammenhang, der nicht in einzelne Bestandteile aufgelöst wird (Der Putenstall, die Straße, das Maisfeld etc.). Dann kann sich in einer dritten Stufe das Ganze wie umdrehen und man bekommt merkwürdigerweise aus der Naturwahrnehmung einen Eindruck des eigenen Ich. In der Naturwahrnehmung, genauer noch aus der Naturwahrnehmung heraus kommt auf einen zu: eine Ich-Wahrnehmung. Mit der Naturwahrnehmung verbunden, in ihr aufgehoben, ist etwas, das man als das eigene Ich erlebt. (Eine solcher Eindruck ist natürlich einfacher in einer Landschaft/Umgebung wahrzunehmen, mit der man auch biographisch verbunden ist. Ich würde aber denken, dass dies nicht ausschließlich dort wahrzunehmen ist). Die mit der Naturwahrnehmung verbundene Ich-Wahrnehmung ist im Gegensatz zur nur innerlichen subjektiven Ich-Wahrnehmung, die man normalerweise im Alltag hat, objektiver. Eine Art objektiver Innerlichkeit, ausgebreitet in der Natur, zurückstrahlend in der Wahrnehmung ins eigene Ich. Die Ich-Wahrnehmung übertönt dabei den wahrgenommenen Naturzusammenhang, so dass dieser etwas zurücktritt in seiner Bedeutung. Sie verändert ihn aber nicht im Sinne einer Epiphanie. Die Ich-Wahrnehmung selbst hat keine besondere seelische Bedeutung oder Stimmung. Sie wirkt nur in der Rückstrahlung objektiv dem Innen-Ich ein Sein gebend, einen Zusammenhang bildend. Wenn man sich fragt, was da eigentlich in der Wahrnehmung auf einen zurückwirkt, dann kann man den Eindruck haben, das in der Rückstrahlung eine Verdichtung und Kumulierung allen bisherigen Wahrnehmens meines Ich auf mich zurückkommt. Man kann auch den Eindruck haben, dass diese Rückstrahlung abgedämpft ist dadurch, dass man sich noch in einem Körper befindet, und dass diese Wirkung möglicherweise stärker und existentieller wäre, wenn die Existenz nicht durch die Körperlichkeit gegeben wäre. Aber schon der zugegeben leise Eindruck des (mich) von außen konstituierenden Ichs, kann deutlich werden lassen, in welche Richtung sich das eigene Wahrnehmen entwickeln kann, und was aus den eigenen Wahrnehmungen in der Zukunft im Sinne einer Ich-Entwicklung wird.
Roland Wiese 22.3.2019