Neurogenese, oder was hat die Bildung von Nervenzellen mit dem Ich-Bewusstsein zu tun?
In der SZ von heute findet sich auf der Seite ‚Wissen‘ ein Artikel mit dem Titel ‚Achterbahn im Kopf‘. Eigentlich müsste er den Titel haben: Achterbahn in der Wissenschaft. Vordergründig geht es um die Frage, ob Menschen auch im Alter noch neue Nervenzellen bilden, oder ob die Neurogenese auf die Kindheit beschränkt ist. Früher galt die letztere Annahme als richtig, dann wurde dieses Dogma von zwei Jahrzehnten durch neue Forschungen in Frage gestellt, um vor einem Jahr durch eine neue Studie wieder aufgestellt zu werden. Ein Jahr später hat ein spanisches Forscherteam nun erneut diese Frage untersucht und knapp 60 Gehirne von gesunden und von Alzheimer erkrankten Menschen untersucht. Dabei hat man herausgefunden, dass bei den gesunden Erwachsenen durchaus heranreifende Nervenzellen nachweisbar waren. Weniger zwar als bei jüngeren Menschen, aber selbst 80 Jahre alte Menschen produzieren noch neue Nervenzellen. Allerdings ist die Neurogenese bei Menschen mit Alzheimer-Erkrankungen deutlich eingeschränkt, und die Regenerationsfähigkeit des Gehirns schwindet bereits vor dem Auftreten der ersten Symptome um ein Drittel. Die Bildung der neuen Nervenzellen wird in einem Abschnitt des Hypocampus vermutet, einem Bereich, der zentral für die Gedächtnisbildung zuständig ist.
Soweit der Artikel in der SZ, der sich wiederum auf einen Bericht im Nature Medicine beruft. Beim Lesen des Artikel, stellten sich mir allerdings ganz andere Fragen, als die, die dort verhandelt wurden. Ich will versuchen den Zusammenhang, der sich mir (spontan) beim Lesen erschloss darzustellen. Das ist nicht ganz einfach, weil mein Zusammenhang einen komplexen Hintergrund anthroposophischer Menschenkunde als Vorlauf hat, der jetzt hier nicht vollständig dargestellt werden kann. Vielleicht ist aber der Hauptgedanke trotzdem nachvollziehbar. Womit hängt die Regenerationsfähigkeit des Gehirns zusammen? Mit der Produktion neuer Nervenzellen. Aber womit hängt die Produktion neuer Nervenzellen zusammen? Die ganze Auseinandersetzung darüber, ob das Gehirn noch im Alter neue Nervenzellen produzieren kann, oder nur in der Kindheit hat ja seine Grundlage darin, dass die Kindheit ja die Zeit ist, in der der Mensch sich seinen Organismus komplett neu bildet. Die Bildung des Gehirns ist bei Kindern aber abhängig von der Anregung und von Tätigkeit, die das Kind in diesem Alter bekommt und vollzieht. Gleichzeitig ist das Gehirn in der frühen Bildezeit noch so ‚unreif‘, noch so in der Bildung, dass die Erinnerung und das Ich-Bewusstsein noch nicht so stark vorhanden sind. Der andere Pol, das Gehirn im Alter, scheint wiederum davon bedroht zu sein nicht mehr ausreichend Nervenzellen zu bilden und dadurch Erinnerung und Ich-Bewusstsein zu verlieren. Das Ich-Bewusstsein und die Erinnerung scheint also von einer bestimmten Relation neuen und alten Nervenzellen abzuhängen. Dabei scheinen die vorhandenen Nervenzellen mehr Einzelwahrnehmungen ins Bewusstsein bringen, während die unreifen neuen Nervenzellen mehr den Zusammenhang der einzelnen Wahrnehmungen herstellen können. Man kann sich das vielleicht so vorstellen, dass der Mensch in der Produktion der Nervenzellen noch ein tätiges Verhältnis zu seiner Organisation hat. Er schafft sie und ist in diesem Schaffen anwesend. In den fertigen Nervenzellen ist er nur noch erhaltend tätig und dies ist deutlich weniger produktiv. Ähnlich wie bei Stammzellen, sind die unreifen Nervenzellen noch mehr in der Lage neue Zusammenhänge zu verknüpfen und diese neuen Zusammenhänge braucht das Ich, um sich bewusst zu erhalten, also den Zusammenhang mit sich selbst nicht zu verlieren. Dieser Zusammenhang besteht in der Tätigkeit des Ich in der Leibbildung, und dieser Zusammenhang ist in der Kindheit gespeist aus dem Vorgeburtlichen. In der Bildung von neuen Nervenzellen ist also gleichzeitig die Anwesenheit des Ich zu sehen, das hier leibbildend tätig ist. In den reifen Nervenzellen ist das Ich nur noch wenig anwesend, die dienen mehr als Gegenpart für die unreifen Nervenzellen um das Bewusstsein selbst zu ermöglichen. (siehe ausführlich in meinem Beitrag in Psychologie des Ich, S.61 ff)
Das Ich-Bewusstsein und die Erinnerung erzeugt sich wahrscheinlich in einem Wechselspiel zwischen neu und alt. Wenn der Zusammenhang schaffende Ich-Prozess im Alter nachlässt oder ganz aufhört, nehmen die Symptome des Vergessens zu. Das Vergessen im sogenannten Kurzzeitgedächtnis ist dabei der Anfang. Das bedeutet die Wahrnehmung leuchtet im Bewusstsein auf, wird aber nicht mehr mit einem organischen Prozess, der Schaffung von neuen Zellen verbunden und verbindet sich dadurch auch nicht mit dem produzierenden Menschen. Dieser ist eigentlich in diesem Bereich des Organismus nicht mehr tätig und deshalb auch nicht mehr anwesend. Die Ursachen für eine solche Abwesenheit des Menschen in diesem Bereich des Organismus können sehr vielfältig sein und sind deshalb auch individuell anzuschauen. Man kann aber schon im Umgang mit Menschen mit dieser Problematik bemerken, dass es ihnen hilft, wenn man im Kontakt mit ihnen nicht auf die Einzelwahrnehmung setzt, sondern ganz bewusst den hinter dem Organismus anwesenden Menschen anspricht. In vom Gegenüber erzeugten Zusammenhang können sie dann in guten Stunden auch anwesend sein.
Denkt man diesen Zusammenhang noch einen Schritt weiter, dann kann man sich fragen was eigentlich ein Äquivalent zu der Organismus schaffenden Tätigkeit des Ich in der Kindheit sein könnte? Denn das Kind scheint ja aus einem Zusammenhang zu schaffen, der schon vorhanden ist. Der anthroposophische Begriff des Ätherischen meint ein solches lebendiges Zusammenhängliches. Ein solches noch nicht mit den Elementen verbundenes Zusammenhängliche findet sich (und das kann hier nur verkürzt behauptet werden) im freien Bilden von Denkzusammenhängen. Das Denken als Phänomen ist immer ein Zusammenhang von Begriffen, das individuelle Denken ist ein selbst gebildeter Zusammenhang innerhalb dieser Begriffszusammenhänge. Dem Ich das im organischen bildet, ist das Ich ähnlich, dass selbst begriffliche Zusammenhänge bildet, nur dass diese Tätigkeit erst einmal abgezogen vom lebendigen Organischen erfolgt. Eine solche Tätigkeit im Denken verschafft dem Menschen ein Bewusstsein und einen Zusammenhang seiner selbst, ‚Selbstständigkeit‘ und ‚Unabhängigkeit‘ (wie Hegel es in der Logik nennt). „Er wird in dem Abstrakten und in dem Fortgehen durch Begriffe ohne sinnliche Substrate einheimisch und zur unbewussten Macht (…)“ (S.55). Möglicherweise hängt die Regenerationsfähigkeit des Organismus zunehmend davon ab, wie unabhängig ich mich vom Organismus gemacht habe, um diesem immer wieder neue Impulse zur Bildung geben zu können.
Roland Wiese 27.3.2019