Die Denkwende: Ist jemand zu Hause? Die Wirklichkeit des Hierseins.

Arbogast Schmitt, Gyburg Radke und Markus Gabriel

In diesem Blog beziehe ich mich häufig auf bestimmte andere Menschen, deren Einsichten ich versuche zu denken und weiterzudenken im Hinblick auf eine zeitgemäße Menschenkunde.(z.B. Wolf-Ulrich Klünker und Rudolf Steiner, Aristoteles, Thomas von Aquin und Albertus Magnus) Ich habe es aber noch nicht geschafft,  aktuelle Bemühungen und Bewegungen  in der Philosophie, die für eine solche Menschenkunde grundlegend seien können, ausführlicher darzustellen, obwohl ich mich in den letzten Jahren sehr intensiv mit einigen aktuellen erkenntnistheoretischen Forschungen auseinandergesetzt habe. Bevor ich inhaltlich einmal ausführlich darauf eingehe, hier einige Hinweise  auf  zwei interessante Denkrichtungen: Das Projekt von Arbogast Schmitt zur Erkenntnistheorie der Antike und das Projekt von Markus Gabriel zum ‚Neuen Realismus‘.

Unterscheidungsphilosophie oder Bewusstseinsphilosophie: Zwei Grundformen europäischer Rationalität

Beide Projekte sind  Forschungsrichtungen, die die geistesgeschichtliche Entwicklung der letzten 2000 Jahre reflektieren und die dabei eine Art Bruch der platonisch-aristotelischen Erkenntnistradition im Ausgang der Scholastik diagnostizieren. Dieser Bruch, der philosophisch im Detail erst einmal sehr wenig bedeutend erscheint, hat aber massive Folgen darauf gehabt, wie wir die Welt  und uns selbst denken und erleben.(Ich werde das demnächst einmal konkreter beschreiben). Wer dies selbst nachvollziehen möchte, kann dies sehr gut in dem Buch von Arbogast Schmitt tun: Die Moderne und Platon, Zwei Grundformen europäischer Rationalität. (2008 bei Metzler erschienen). Arbogast Schmitt hat als Professor in Marburg in den neunziger Jahren grundlegende Forschungen zur Erkenntnistheorie der Antike (im Vergleich zur Moderne) betrieben. Um diesen Forschungsansatz herum haben verschiedene Wissenschaftler*innen bestimmte Gebiete der antiken Erkenntnistheorie bearbeitet. Erwähnen möchte ich insbesondere Gyburg Radke bzw. Uhlmann, die für ihr Buch ‚Die Theorie der Zahl im Platonismus‘ den Leibnitz-Preis bekommen hat. Diese systematische und vor allem auch philologisch gründliche Arbeit hat dann vor allem in den letzten Jahren zu vielen Veröffentlichungen geführt, die viele bisherigen Anschauungen über den Platonismus und den Aristotelismus revidieren konnten. So zum Beispiels die Anschauung, die antike Erkenntnistheorie sei naiver als die moderne Bewusstseinsphilosophie. Die Auswirkungen eines begriffsrealistischen Ansatzes (im Sinne der antiken Erkenntnistradition) für die Menschenkunde (also beispielsweise wie Denken, Fühlen und Wollen zusammenhängen), wird gerade im Buch von A. Schmitt sehr schön herausgearbeitet. Auch für die Auffassung der Wahrnehmung als aktive Erkenntnisleistung  findet sich in dieser Richtung viel Grundlegendes (z.B. Michael Krewet, Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles, 2011) Die moderne Geisteswissenschaft (nicht das, was akademisch darunter verstanden wird) braucht diesen Bezug zu ihren eigenen Wurzeln, weil sie sonst wie in der Luft schwebt, und mehr als Behauptung auftritt, als ein argumentativ begründetes Weiterdenken. Eine solche Fundamentierung ist aber eine so umfangreiche Arbeit, dass dies nur geleistet werden kann, wenn viele Menschen die Quellenlage gründlich erforschen können, was z.B. im Marburger Antikenprojekt geleistet wurde. (Dies bezieht sich insbesondere auf die gründliche Erarbeitung der Quellen der sogenannten Neuplatoniker). Insofern bin ich diesen Forschern immer dankbar, dass ich mir mit ihrer Hilfe diese geistesgeschichtlichen Entwicklungen im Detail erarbeiten kann. Dieses Erarbeiten hat dann ganz persönlich für mich als Wirkung gehabt, dass ich eine Art innerer Sicherheit im Denken gewonnen habe. Dies ist auch eine Voraussetzung für ein konsistentes Verständnis von Ich-Entwicklung als geistesgeschichtliche Entwicklung. Ich-Entwicklung rein psychologisch zu denken und nicht geistesgeschichtlich zu verorten führt  doch in eine gewisse (irdische) Engführung.

Hiersein! Der ‚Neue Realismus‘ von Markus Gabriel

Ein ganz eigener neuer Zug in der Erkenntnistheorie und Philosophie zeigt sich im Denken von Markus Gabriel, Professor für Philosophie in Bonn, der sehr radikal eine Denkwende fordert und wissenschaftlich begründet. Sein ‚Neuer Realismus‘ ist hochinteressant und für eine aktuelle Menschenkunde eine wichtige Grundlage. Anbei deshalb ein Link zu einem Radiogespräch mit ihm. Wer lieber lesen möchte, Markus Gabriel hat eine mehr populäre Trilogie seines Themas verfasst: Warum es die Welt nicht gibt; Ich ist nicht Gehirn und Der Sinn des Denkens. Bei Suhrkamp ist u.a. erschienen: Sinn und Existenz. Dort begründet Gabriel seine Sinnfeldontologie.  Neben vielen mehr inhaltlich interessanten Aussagen, und Zusammenhängen quer durch die Geistesgeschichte finden sich auch immer wieder Stellen, die bei mir ein intensives Umschmelzen tief verankerter Denkansätze angeregt haben, und in der Folge eine ‚Neukalibrierung‘ (Gabriel) meines Erlebens in der Wirklichkeit.

24.12.2019

Radiopodcast SWR mit Markus Gabriel von 2018

 

2 Gedanken zu “Die Denkwende: Ist jemand zu Hause? Die Wirklichkeit des Hierseins.

  1. im Hinblick auf Markus Gabriel:
    Für ihn ist Denken ein Sinn, wie der Hörsinn und der Sehsinn, wobei er „Sinn“ nennt „die Art und Weise des Zusammenhangs von Gegenständen“ (in seinem Werk „Der Sinn des Denkens“ S. 37).
    Seiner Meinung nach denken auch Tiere.

    1.Ist Denken ein Sinn?

    2.Meint Steiner, dass Denken ein Sinn ist, wenn er vom Gedanken- oder auch Begriffssinn -auch Denksinn von ihm genannt- als einer der 12 Sinne spricht?

    Dazu der Aufsatz von Detlef Hardorp https://sehenundschauen.ch/wp-content/uploads/2019/09/Denksinn_und_Denken-aus-dem-Rundbrief-der-Pa%CC%88dagogischen-Sektion-Michaeli-2010.pdf

    Er weist dort die ganz spezielle Bedeutung dieses Sinns nach im Hinblick auf die Wahrnehmung der freien Individualität.

    3.Wenn Wolf-Ulrich Klünker in dem Interview „Eine totale Seelenrevolution“ (info3 November 2019) sagt: „Zusammenhänge zu bemerken, bedeutet ja eigentlich denken.“:
    also Denken ein Sinn, der Zusammenhänge wahrnimmt (bemerkt)?

    4. Könnte man sagen: Denken ist ein Sinn der Möglichkeit nach (im Anschluss an die Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit bei Aristoteles)?

  2. „im alltäglichen Farbensehen denken wir über Farben nach, in Farbe.“ Gabriel zitiert hier John Cambell, und fährt dann selbst fort:. „Dies lässt sich verallgemeinern: im alltäglichen Sehen denken wir zum Beispiel über den Mond nach, in Perspektive. Noch allgemeiner kann man sagen, dass wir über Gegenstände nachdenken, in Sinnen. So wie man auf einer anderen Ebene, in einem anderen Sinnfeld, über die Ursachen unseres Farbsehens nachdenken kann, ohne dies in Farbe zu tun, kann man über die Ursache des Mondensehens in einem anderen Sinnfeld nachdenken, ohne dies in Perspektive zu tun.“ Markus Gabriel, Sinn und Existenz, S. 409

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