Von der alten Technik zur neuen Natur des Ich

Karma 3

Pressefoto http://www.currenta.de


Was Fritz in diesen acht Jahren gewonnen hat, das und mehr, habe ich verloren, und was von mir eben übrig ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit … Wollte ich selbst noch mehr von dem bisschen Lebensrecht opfern, das mir geblieben ist, so würde ich Fritz zum einseitigsten, wenn auch bedeutendsten Forscher eintrocknen lassen, den man sich denken kann. Fritzens sämtliche menschlichen Qualitäten ausser dieser einen sind nahe am Einschrumpfen und er ist sozusagen vor der Zeit alt …

Clara Haber in einem Brief an Richard Abegg


In Leverkusen sind im Juli 2021 einige Tanks in einer Sondermüll-Verbrennungsanlage explodiert. Dabei gab es wahrscheinlich sieben Tote und  31 Verletzte. Eine dicke schwarze Rauchwolke zog über die umliegenden Stadteile bis ins Bergische Land. Mir brachte das Ereignis meine Kindheit und Jugend (ich bin 1957 in Leverkusen geboren) in Erinnerung und meine ganz persönliche Verbindung mit der Chemieindustrie. Durch diese Verbindung, die ich vor einigen Jahren auch inhaltlich bis in die Geschichte hinein noch einmal ganz bewusst aufgearbeitet habe, ergaben sich mir einige Perspektiven auf die chemische Industrie des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie dienen mir in diesem Beitrag als Ausgangspunkt für die Frage wie sich Ich-Entwicklung und technische Entwicklung zueinander verhalten, und wie die technische Entwicklung aussehen würde, die aus einer Ich-Entwicklung hervorgeht.

Hier ein link zu der Giftmüll Verseuchung in Leverkusen (https://www.youtube.com/watch?v=xgxRf0FeRhI

Karma, also Schicksal, ist diese Frage insofern, als ich biographisch, also in meinem Leben mit der Leben gewordenen Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts konfrontiert worden bin, in ihr gelebt habe und lebe. Ich habe also ihre Wirklichkeit am eigenen Leibe und im eigenen Erleben erfahren. Gleichzeitig habe ich aber einen innerlichen Bezug zu einer anderen Denkart, zu jener Wissenschaftsrichtung, die sich historisch – zu Beginn des 20. Jahrhunderts – durch Rudolf Steiner als notwendige Alternative zu der herrschenden Wissenschaftsart  entwickelt hat. Auch diese Entwicklung ist inzwischen ‚Leben‘  und damit auch mögliches ‚Erleben‘ geworden. In der eigenen Biografie sind also Leben gewordene Denkrichtungen und Denkarten zu finden, die diese möglicherweise viel mehr bestimmen als psychologische Phänomene. Das Freilegen solcher geistigen Strömungen im eigenen Leben hilft die die darin liegenden Erkenntnisprobleme und -aufgaben zu bemerken und anzugehen.

Da der Beitrag sehr lang ist, habe ich ihn als PDF beigefügt. Außerdem gibt es auf der Seite Forschungsstelle für Psychologie DELOS einen Beitrag von Wolf-Ulrich Klünker zum Thema Mischung und Entmischung der Elemente inklusive einer Erstübersetzung eines Textes von Thomas von Aquin über die Mischung der Elemente.

Hinzufügen möchte ich auch, dass ich in keiner Weise technikfeindlich eingestellt bin, sondern mich sogar als technikaffin erlebe. Es geht hier nicht darum die aktuelle Technik zu kritisieren, sondern ihre Entwicklung und Grundlagen zu verstehen und einen ganz anderen Ansatz für eine neue Technik zu suchen.

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Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich als kleines Kind sehr stark den Gestank des Bayerwerkes wahrnahm und immer versuchte nicht durch die Nase zu atmen, um eben diesen nicht riechen zu müssen. Es muss irgendetwas Schwefeliges gewesen sein, denn der Geruch war irgendwie faulig. Geboren wurde ich gegenüber einem Stahlwerk der Theodor Wuppermann AG. Ab meinem 3. Lebensjahr wohnten wir in einer modernen Etagenwohnung in der Nähe des Bayerwerkes in der Karl-Krekelerstraße. Karl Krekeler war mit Carl Duisberg einer der führenden Chemiker und Werksleiter der Bayer AG in der Zeit von 1888-1933. Später ging ich dann auf das Carl-Duisberg-Gymnasium und auch der Name der Stadt, Leverkusen, stammt von Carl Leverkus, dem Gründer einer Chemiefabrik, der der Siedlung für seine Arbeiter den Namen Leverkusen gab. Als Kind und als Jugendlicher war man immer mit dem in der Stadt alles beherrschenden Bayer-Werk in vielfältiger Weise konfrontiert. Die Schule, der Sportverein, das Erholungshaus, die Kolonien der Mitarbeiterwohnungen, als Arbeitgeber der Eltern, und später auch für einen selbst als Ferienjob. In den siebziger und achtziger Jahren wurde das Verhältnis zunehmend kritischer und politischer. Man wachte auf für die inhaltliche Seite für die Produktion und ihre Wirkungen auf Mensch und Umwelt. Man erfuhr immer mehr über die Risiken und Folgen dieser Produktion, von Holzschutzmitteln/Pestiziden, die Menschen vergifteten, über die Giftmülldeponien in der Stadt, über die Dünnsäure-Verklappung in der Nordsee usw.

Ich habe mich also in eine solche Umgebung hinein inkarniert, die, und das ist mir erst viel später klar geworden, von Menschen wie Carl Duisberg (oder auch Karl Krekeler) geschaffen worden ist und dies nicht nur hinsichtlich der chemischen Fabrik, sondern auch als ganze Lebenswelt für die Menschen, die dort arbeiteten und ihre Familien. In meiner Kindheit existierte diese Duisberg’sche Welt noch nahezu unverändert. Eine klare Lebensstruktur mit Siedlungen für Direktoren, Angestellte, Arbeiter. Ich erinnere mich noch gut an die roten Fahrräder der Bayer-Angestellten. Aber auch die Gebäude, wie der Bahnhof, das Bayer-Kaufhaus, das Erholungshaus, die gesamte damalige Anlage der Stadt war eine Schöpfung von Duisberg und seinen Zeitgenossen als Gesamtkunstwerk. Solche Stadtgebilde, die sich um eine Fabrikanlage herum bilden, sind typische Schöpfungen des 19.Jahrhunderts, die sich bis ins erste Viertel des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Mit dem Jahrtausendwechsel löste sich der alte Typus dieses Zusammenhanges zwischen einer geschlossenen Fabrik und der Stadt immer mehr auf. Heute kann man durch die Fabrik hindurchfahren und sie heißt jetzt Chempark (einer dieser Euphemismen, die die Wirklichkeit dieser Produktion verbergen), einer der größten in Europa, keine einheitliche Fabrik mehr, stattdessen ein Cluster von diversen Chemiefirmen.

Geblieben ist aber eine Produktion von Stoffen, die unseren Alltag prägen, die aber gleichzeitig hochgefährlich und giftig sind. Die gesamte Diskussion der Vergiftung von Mensch und Natur durch Pestizide, Herbizide, aber auch durch Medikamente, Farben, Kunststoffe bis hin zu dem gefährlichen Sondermüll durch die Produkte, aber auch durch die Produktion und ihre Abfälle (das was jetzt in Leverkusen explodiert ist) hat bis heute noch nicht dazu geführt, dass man diese Art der Stoffbearbeitung grundsätzlich in Frage stellt. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass bis heute eigentlich kein Ansatz zu erkennen ist, dem ein ganz anderes Produktionsprinzip zugrunde liegt. Es soll deshalb hier einmal der Versuch unternommen werden in den Anfängen der Chemieindustrie ihre grundsätzliche Problematik freizulegen. Wenn man das problematische Prinzip erkennt, das hinter dieser Art der Produktion steckt, wird man vielleicht erkennen, dass eine solche Art der Stoffproduktion nicht wirklich zu heilen ist und dass eine ganz andere Produktion nötig wäre und wie deren Prinzip wiederum aussehen müsste. Es geht also nicht um das Verbot oder die Regulierung einzelner Stoffe oder die regulatorische Einhegung der Produktion, sondern um einen ganz neuen Ansatz für eine Chemie, die dem Leben nicht widerspricht, sondern neues Leben schaffen kann, eine neue Verbindung zwischen Mensch und Natur.

Als Carl Duisberg sich als Schüler entschloss Chemiker zu werden (ca. 1870) da steckte diese Wissenschaft noch in den Kinderschuhen, man kannte den ‚Apotheker‘, aber Chemiker war zu dieser Zeit noch keine etablierte Wissenschaft. Duisberg war inspiriert von Justus von Liebig, dem (deutschen) Urvater der analytischen Chemie. „Möchte es mir in diesem ersten Briefe gelingen, die Überzeugung zu festigen, dass die Chemie als selbständige Wissenschaft eines der mächtigsten Mittel zu einer höheren Geisteskultur darbietet, dass ihr Studium nützlich ist, nicht nur insofern sie die mächtigsten Mittel zu einer höheren Geisteskultur darbietet, sondern weil sie Einsicht gewährt in die Wunder der Schöpfung, welche uns unmittelbar umgeben, an die unser Dasein, Bestehen und unsere Entwicklung geknüpft ist. (…) Ohne eine genaues Studium der Chemie und Physik werden die Physik und Medizin in ihren wichtigsten Aufgaben, in der Erforschung der Gesetze des Lebens und der Hebung und Beseitigung von anomalen Zuständen im Organismus kein Licht erhalten. Ohne Kenntnis der chemischen Kräfte kann die Natur der Lebenskraft nicht ergründet werden.“ Dies schreibt Liebig 1841 im ersten Brief seiner  „Chemische Briefe“ (zitiert nach H.J. Flechtner, Carl Duisberg, Eine Biographie S. S. 20 ff) Liebig grenzt sich entschieden gegen die alte Philosophie ab und sieht sich in der Folge von Francis Bacon und Galilei.   „Wenn es einem Naturforscher gelang, das Leben durch seine Forschungen zu bereichern, so zeigt die Geschichte der Naturwissenschaften, dass alle seine Erfolge lediglich auf einer Untersuchungsmethode beruhten, von welcher behauptet werden kann, dass von ihr die ausserordentlichen Fortschritte bedingt und hervorgerufen sind, welche die Gewerbe, die Industrie, die Mechanik, die Naturwissenschaften in den letzten 50 Jahren gemacht haben. Es sind dies die Wege der Erkenntniss und Forschung, die wir Franz Bacon und Galilei verdanken, welche eine falsche Philosophie Jahrhunderte lang aus der Medicin und den Naturwissenschaften verdrängt hatte, die aber jetzt durch ihre Siege immer mehr Boden im Interesse der Menschheit gewinnen.(…) Seit Jahrtausenden beschäftigt man sich mit der Erklärung von Naturerscheinungen, aber die Erklärung der philosophischen Schulen, von Aristoteles an bis auf die heutige Zeit, haben mit den unsrigen nichts mehr gemein.“

 Die chemische Wissenschaft war von Anfang an keine theoretische oder begriffliche Wissenschaft, sondern eine experimentelle und technische Wissenschaft. Das bedeutet, und dieser Unterschied ist wichtig, sie erforscht nicht die Natur, sie verändert die Natur, die sie erforscht, bevor sie sie erforscht. Das, was sie dann erforscht, ist eine Natur, die sie selbst erst geschaffen hat. Eine solche Naturwissenschaft bezieht ihre Autorität und Geltung nicht aus der Wahrheit ihrer Forschung, sondern aus der Wirklichkeit, die sie schafft. Sie wird durch die Technik, die ihr zugrunde liegt und die aus ihr folgt, wirklich und dadurch überzeugend. Es ist wichtig sich diesen Punkt vor Augen zu halten, denn dieses Prinzip gilt bis heute. Alle philosophische Widerlegung der reduktionistischen Naturwissenschaft führt nicht zu einer Aufgabe dieses Wissenschaftsprinzips, weil sich dieses durch die Erfolge seiner technischen Umsetzung und Anwendung bestätigt sieht. Das sichere wahrheitsgetragene Erkennen wird durch das Prinzip der technischen Verwirklichung ersetzt. Die direkte technische Umsetzung der wissenschaftlichen (technischen) Forschungen gibt dieser ihre erst ihre eigentliche Wirklichkeit. Diese Verbindung ist auch heute noch im Wesentlichen nicht durchschaut. Natürlich wurde dieses Prinzip auch schon in der Zeit seiner Entstehung kritisiert und hinterfragt. Schelling und Hegel haben natürlich den Anspruch der Chemie, mit ihrer Methode die Gesetze des Lebens zu erforschen, als unmöglich hingestellt. Aber die wirklichkeitsschaffende Wissenschaft jener Zeit hat sich bis heute durchgesetzt und vor allem, es gibt überhaupt keine realistische Alternative zu ihr. Selbst die Umweltbewegung ist heute genauso technizistisch geprägt wie die die eigentliche Verursacherin der Umweltprobleme, die Industrie und die hinter ihr stehende Forschung und Wissenschaft. Ja, die Wissenschaft gilt heute als letzter Hort der Erkenntnissicherheit, weil ja auf Messbarem beruhend. Der angerichtete Schaden soll also mit Mitteln behoben werden, die auf den gleichen Prinzipien beruhen, mit denen der Schaden verursacht worden ist.

Als Carl Duisberg beschloss Chemiker zu werden, bestand ein wesentlicher Teil der Chemie in der sogenannten Kohlenteerchemie. Die Kohlenteerchemie basierte auf den Abfallprodukten, die bei der Verarbeitung von Kohle entstanden (so wie heute auf den Abfallprodukten der Erdölchemie). Kohle wurde zu Koks verarbeitet, er wurde für die Produktion von Stahl gebraucht. Die Stahlindustrie und der damit verbundene Maschinenbau expandierten in dieser Zeit mit der Mechanisierung und Industrialisierung der Produktion (vor allem der Textilindustrie) in vorher nicht gekannte Größenordnungen. Man brauchte Maschinen und man brauchte Kraft, um diese anzutreiben. Koks entsteht durch das Erhitzen der Kohle unter Luftausschluss bei 1000 Grad. Dabei entstehen die wichtigen Grundstoffe der Kohlenteerchemie: Steinkohlenteer, Benzol und Schwefelsäure. Aus diesen wiederum wurden in der Zeit Carl Duisbergs die ersten chemischen Farbstoffe (die sogenannten Anilinfarben) entwickelt und aus den Abfallstoffen der Farbprodukten die ersten chemischen Medikamente. Aus dieser Entwicklungsgeschichte heraus erklärt sich, warum ein Konzern wie Bayer, ursprünglich die Farbenfabriken Bayer, oder auch später die I.G. Farben, sowohl Farben herstellte, wie auch Pharmazeutika.( also seelisch wirkende Stoffe und auf den Organismus wirkende Stoffe) Was ist das Grundprinzip der technischen Chemie? Sowohl in den Experimenten wie in der Produktion geht es darum einen bestehenden natürlichen Zusammenhang  aufzulösen. Dies können lebendige (organische) Zusammenhänge sein, wie auch mineralische (anorganische) Zusammenhänge. Um solche Zusammenhänge aufzuspalten, braucht es aber ein Mittel, das dazu geeignet ist. Dafür wird in der Regeln Hitze gebraucht und Druck. Der natürliche Zusammenhang wird durch diese Mittel in etwas aufgespalten, das es vorher, ohne die menschliche Einwirkung,  so nicht gegeben hat. Die entstehenden Stoffe wiederum, sind in der Regel auch nicht, ohne neue künstliche Einbindung, stabil. Sie neigen dazu, zu explodieren, sich zu entzünden, oder in die Umgebung aufzulösen, weil der künstliche Zustand nur durch Abtrennung von der natürlichen Umgebung zu erhalten ist. Oder sie tendieren dazu, sich gar nicht mehr zu verändern und in einer bestimmten Form dauerhaft zu verbleiben, sich also aus dem Bereich des ‚Veränderlichen‘ der normalen natürlichen Umgebung, herauszuziehen. Während in der natürlichen Umgebung alle Prozesse, auch extreme Druck oder Temperaturverhältnisse sich immer wieder miteinander ausgleichen, da sie ja sich offen vollziehen, nicht abgeschlossen, werden in der menschlichen Chemietechnik die Prozesse voneinander getrennt und ein möglicher Ausgleich verhindert. Wenn Forscher wie Liebig also in das Innere der Lebenskraft eindringen wollen, müssen sie diese zwangsläufig in ihrer elementarsten Fähigkeit und Funktion stören, oder sogar ausschalten, in der Funktion des aufeinander Reagierens und des entsprechenden Vermittelns. Aus dem Zusammenhang werden einzelne Teile mit Gewalt herausgetrennt. Die Gewalt besteht in einer massiven Übertreibung einzelner Elementarverhältnisse. Es wird also mit großen Temperaturen, großem Druck oder Unterdruck  usw. auf den Zusammenhang eingewirkt und er wird immer weiter aufgespalten. Das dadurch entstehende Elementarverhältnis der einzelnen Stoffe ist in der Folge natürlich auch ‚übertrieben‘, d.h. diese Stoffe neigen entweder dazu sich übermäßig und abrupt mit der umgebenden Elementarsituation zu verbinden (Explosion) oder sie verhalten sich als unauflöslich und verbleiben in einer extremen Isolierung und werden dadurch zu extrem giftigen Stoffen, die nur mit großem Aufwand wieder umgewandelt oder vernichtet werden können. Beides ist im Laufe der letzten 150 Jahre immer wieder geschehen. Große und kleine Katastrophen durch Explosionen, aber auch das Gegenteil, das Problem des Giftmülls, begleitet die chemischen Fabriken von Beginn an. Ich habe in den siebziger Jahren bei Dynamit Nobel gearbeitet und Bergwerks-Sprengstoff verpackt. Dieser Stoff basierend auf der Vermischung von zwei Stoffen die erst zusammengemischt gefährlich werden (Ich meine, es wäre Nitroglykol und Nitroglycerin gewesen). Das ‚Dynamit‘ das daraus hergestellt wurde (von griech. Dynamis Kraft, Bewegung) war aber so labil, dass es bei bestimmten Wetterbedingungen flüssig wurde und sich wieder trennte, so dass die Arbeit bei solchen Bedingungen eingestellt wurde. Die Gase aus diesen Stoffen, die ständig austraten, führten bei den Arbeitern zu Herzkranzerweiterungen. In den achtziger Jahren als ich für eine alternative Stadtzeitung in Leverkusen arbeitete, sprach mich bei einem Spaziergang in Wiesdorf ein älterer Mann an und wir kamen ins Gespräch über seine frühere Arbeit bei Bayer und er berichtete mir, dass dort, wo wir jetzt standen in einem Wohngebiet auf der Dünnaue am Rhein die Giftmülldeponie von Bayer war. Ich habe das damals achselzuckend zur Kenntnis genommen und nicht die Relevanz dieser Information verstanden. Erst als in den neunziger Jahren dieses Problem an die Öffentlichkeit kam und der gesamte Stadtteil geräumt werden musste wurde (mir)klar was für ein ‚giftiges Erbe‘ die Farbenfabriken Bayer, wie alle anderen Chemiefabriken, über die Zeit in ihrer Umgebung abgelagert hatten. „6,5 Millionen Tonnen Müll lagern auf den Rheinwiesen in Leverkusen, davon 70 Prozent Bauschutt, Siedlungsabfälle und Klärschlämme, 15 Prozent Hausmüll und 15 Prozent Giftmüll des Bayer-Konzerns. Harald Friedrich war als Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Umweltministerium mit der Altablagerung befasst. „Wir wissen, dass da unten in dieser Altdeponie das Giftigste vom Giftigen, was in Deutschland produziert wurde, lagert. Das chemische Gedächtnis von Bayer aus fast 75 Jahren Produktion.“ (Altlast Dhünnaue – Bayers giftiges Erbe (Archiv) (deutschlandfunkkultur.de). Die Sondermülldeponie, in der jetzt die Tanks mit Lösungsmittel explodiert sind, steht genau neben dieser alten Deponie, und sie verbrennt immer noch die Giftstoffe von  damals.

Die Wissenschaft und Technik des 19. Jahrhunderts hat versucht und es ist ihr auch gelungen, Kräfte   und mit ihnen Bewegungskraft und Stoffe und damit bestimmte Qualitäten, zu konzentrieren und zu verdichten. Sie hat sie von der normalen elementaren und kosmischen Umgebung isoliert und eine künstliche elementare Umgebung geschaffen. Wolf-Ulrich Klünker hat dies in seinem Aufsatz „Engel und Technik“ (Die Drei, September 2002) so ausgedrückt : „Alle diese Maschinen haben gemeinsam, dass das Element der Luft hochverdichtet wird, dass bestimmte künstliche Wärmeverhältnisse geschaffen werden müssen, also die Elemente Wasser und Luft in artifizielle Zustände überführt werden müssen.“ Um solche artifiziellen Zustände herzustellen, muss innen und außen extrem voneinander getrennt werden. Für Motoren bedeutet dies z.B.: „ Dazu ist in den Zylindern eine konsequente Abschirmung von der Außenwelt, eine extreme Differenzierung von innen und außen notwendig. Dies gilt auch für die oftmals angeschlossenen Getriebeübersetzungen: in hermetisch abgeschlossenen, lichtlosen Räumen entstehen die Bewegungen und werden übertragen.“(S. 26 ff) Die vorgenommenen künstlichen Zustände müssen wiederum durch zusätzliche Mittel von außen ausgeglichen werden: Schmierung, Kühlung, Lüftung etc. Wenn es in einem dieser Ausgleichsfunktionen Störungen gibt, brechen die Trennungen zwischen innen und außen zusammen, bzw. das zugespitzte künstliche Elementargeschehen neigt dazu wieder seine natürlichen Verhältnisse herzustellen und verbindet sich mit der Umgebung. Dann kann es zu solchen ‚Unfällen‘ wie in Leverkusen kommen (oder auch in Beirut bei der Explosion von Ammoniumnitrat). Und solche Unfälle hat es gerade in der Anfangszeit der chemischen Industrie viele gegeben. In Wirklichkeit sind die Unfälle aber nur der plötzliche Ausgleich von Verhältnissen, die eben in zugespitzter Weise voneinander getrennt worden sind. Das Entscheidende dabei ist zweierlei: Der Mensch greift in die Elementarverhältnisse massiv verändernd ein und er schafft dabei Elementarverhältnisse, an denen er selbst nicht mehr empfindend partizipieren kann. Deshalb muss alles ‚gemessen‘ werden. Er ist gewissermaßen ebenso ‚draußen‘, wie die normale natürliche Umgebung. Der Mensch schafft in der Technik eine ‚kleine Extra-Welt‘ in der er selbst nie leben könnte, und die er auch nicht mitempfinden kann, und in der auch sonst niemand lebt oder empfindet (Kein Naturgesetz des 19. Jahrhundert oder Engel des Mittelalters) und damit steuern und ausgleichen kann. Das Drinnen der Technik ist in Wirklichkeit ein völliges Draußen, eine Blackbox im Verhältnis zu irdisch-kosmischen Gesamtverhältnissen. Raum- und Zeitverhältnisse werden voneinander getrennt.

 Inzwischen hat sich das Verhältnis allerdings umgedreht – das ehemalige Innengeschehen der Technik ist inzwischen allgemeines Geschehen des Außen geworden – wir nennen es Klimawandel oder Umweltzerstörung. Es gibt eben doch keine endgültige Trennung der Innenverhältnisse von den Außenverhältnissen, es gibt nur eine zeitlich begrenzte Trennung. Welche Kräfte benutzt der Mensch mit diesen technischen Verfahren eigentlich wirklich? Er greift eigentlich in den Lebenszusammenhang der Natur so ein, dass er die formende Kraft, die in dem bestimmten Lebenszusammenhang wirkt von dem Lebenszusammenhang trennt. Ein gewordener Landschafts- oder Stoffzusammenhang wird seiner Bestimmung, seiner Tätigkeit entzogen und damit etwas Unbestimmtes. Dann kann dieser Zusammenhang, beispielsweise die Kohle, weiter auseinandergenommen werden. Und jetzt wird eine weitere Aufspaltung möglich, die Aufspaltung zwischen der empfindenden Seite der Natur und der mehr elementaren und lebendigen Seite. In den Sondermülldeponien finden sich dann die Reste dieser Trennung als Giftstoffe, grob kann man sie in drei Gruppen aufteilen: Schwermetalle (wie Chrom und Cadmium), die Lösungsmittel, meist Benzolverbindungen und Dioxine (Die Reste von Kohlenwasserstoffen , die bei der Verbrennung von organischer kohlenstoffhaltiger Verbindungen entstehen). Die Metalle stehen in dem Naturzusammenhang für eine Art Empfindungsreaktion und Vermittlungstätigkeit (deshalb werden sie auch in technischen Verfahren als Katalysatoren genutzt), aber nur, wenn sie in feinsten Verteilungen aktiv sind; die Kohlenstoffverbindungen stehen für sedierte organische Stoffe, also ehemalige Lebensprozesse). Es sind also ehemalige seelische und lebendige Prozesse, die isoliert werden und dadurch konzentriert hochgiftig werden.

Der Mensch hat eine technische Welt gebaut, in der er nicht (und auch niemand anderes) lebt und empfindet, die er nur von außen steuern kann. Inzwischen dreht sich dieser Prozess um: Diese technische ‚Innenwelt‘ wird zunehmend zur eigentlichen Außenwelt, zur Lebensumgebung des Menschen. Diese technische Außenwelt verlangt jetzt nach einer Art Außensteuerung, da sie nicht mehr nach den normalen Lebensprinzipien des Menschen funktioniert. Der Mensch steht jetzt anscheinend vor der Aufgabe nicht nur technische Innenwelten zu steuern, sondern er kann in der Außenwelt nur noch leben und erleben, wenn er alle Verhältnisse misst und steuert, weil die Natur inzwischen nach technischen Prinzipien funktioniert. Das zeigt sich an den zugespitzten Elementarprozessen in den entsprechenden ‚Natur‘-Katastrophen. Damit ist der Mensch jetzt nicht nur ‚draußen‘ in Bezug auf die technischen Verhältnisse,  sondern draußen in Bezug auf alle Naturverhältnisse. Er schaut jetzt seine gesamte Elementarumgebung nach diesen Kriterien an. Sein Leben und Überleben hängen immer mehr von künstlichen Umgebungen und Isolierungen gegenüber der Außenwelt ab. Er lebt auf der Erde wie ein Raumfahrer auf dem Mond. Es hat sich damit ein Prinzip realisiert, was in den Anfängen der technischen Entwicklung Wissenschaftsprinzip war, die Herausnahme des Menschen aus der Wissenschaft, die Trennung von Subjekt und Objekt usw. Und das Entscheidende ist, das dieses Prinzip heute anscheinend gar nicht mehr hinterfragbar ist, da es gar keinen menschlichen Standpunkt mehr gibt, der Subjekt und Objekt integrieren könnte. Das was damals Erkenntnis- und Wissenschaftsprinzip war, wird heute zur Lebens- und Erlebenswirklichkeit. Der biographische Einstieg in dieses Thema soll diesen Übergang aufzeigen.

In den Forscherpersönlichkeiten jener Zeit wird deutlich, dass bei ihnen die geistig-seelischen (inneren) Entwicklungen nicht mit der (äußeren) materiellen Forschung Schritt halten. Wenn man als Kind mit dem Schulbus zum Carl-Duisberg-Gymnasium fuhr, ertönte jeden Morgen und jeden Mittag die Stimme des Busfahrer, der die Haltestelle ‚Haberstraße‘ ausrief. Fritz Haber, der Namensgeber der Straße, ist ein exemplarisches Beispiel für eine solche Forscherpersönlichkeit des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Er bekam  1918 Nobelpreis für die künstliche Synthese des Ammoniak, der als Dünger für die Landwirtschaft das natürliche Salpeter ersetzen sollte (und ersetzt hat). Damit wurde die Ernährung der Menschen verbessert. Dass seine Forschungen, und die der gesamten Chemieindustrie auch die Fortsetzung des ersten Weltkrieges (für Deutschland) erst ermöglichten, weil ansonsten die Munition durch die Blockade von den Salpeter-Vorkommen in Südamerika sehr schnell ausgegangen wäre, ist weniger bekannt. Bekannter ist er dagegen als ‚Vater‘ des Gaskrieges im ersten Weltkrieg. Er entwickelte die entsprechenden Herstellungsverfahren für die nötigen Gaskampfstoffe und begleitete auch ihren Einsatz an der Front mit einer eigenen Kompanie. Aus seiner Sicht ein humaneres Kampfmittel, dass den damals festgefahrenen Stellungskrieg mit den massiven Verlusten an Menschenleben verhindern sollte. Auch die Schädlingsbekämpfung mit Gas wurde von ihm begründet und es waren seine Mitarbeiter, die das Mittel ‚Zyklon B‘ erfunden haben, dass dann später zum „Massenmord im industriellen Maßstab“ (Wikipedia) benutzt wurde. Die unmenschlichen Folgen der eigenen Forschungen und Entwicklungen nicht über- und durchschauen zu können, zeigt das Problem solcher Forschungsart an. Genauso wenig überblicken die Forscher die Folgen für ihre eigene menschliche Entwicklung. Ein Zitat von Habers Ehefrau Clara wirft ein Licht in diesen Zusammenhang: „Was Fritz in diesen acht Jahren gewonnen hat, das und mehr, habe ich verloren, und was von mir eben übrig ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit … Wollte ich selbst noch mehr von dem bisschen Lebensrecht opfern, das mir geblieben ist, so würde ich Fritz zum einseitigsten, wenn auch bedeutendsten Forscher eintrocknen lassen, den man sich denken kann. Fritzens sämtliche menschlichen Qualitäten ausser dieser einen sind nahe am Einschrumpfen und er ist sozusagen vor der Zeit alt …(Clara in einem Brief an Richard Abegg).

Dies gilt letztlich bis heute für dieses Forschungsprinzip. Man will ‚Gutes‘ für die Menschheit in großem Maßstab erreichen und erreicht gleichzeitig immer auch das Gegenteil. Dieser Zusammenhang ist bis heute nicht durchschaut, man nehme nur das Stichwort ‚Digitalisierung‘. Um die jeweiligen ‚Unmenschlichkeiten‘ einer Forschung oder Technik einhegen zu können braucht es dann immer mehr zusätzliche ‚äußerliche‘ ethische Gremien, die dann beurteilen sollen, was von der Forschung angewendet werden und was nicht. Das eine solche Konstruktion weltfremd ist und nicht funktionieren kann, könnte allen Beteiligten klar sein,   deshalb müssen die ethischen Prinzipien immer wieder überarbeitet werden (der Technik hinterher), sprich an das technisch Mögliche angepasst werden.

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Wie ist nun der Zusammenhang zwischen der Ich-Entwicklung und der technischen Entwicklung der letzten 150 Jahre? Auch Psychologie und Anthropologie dieser Epoche verfolgen einen Ansatz, der eigentlich naturwissenschaftlich geprägt ist, bzw. es gilt auch umgekehrt, die Naturwissenschaft ist vom psychologischen und anthropologischen Selbstbild und Selbsterleben geprägt. Das Ich als Steuerungsorgan zwischen überbewusst wirkenden gesellschaftlichen Regeln und unterbewusster Biologie hat gar keine eigene Realität und sieht sich in der Scheinhaftigkeit seines Bewusstseins zum Beobachter und Steuerer von Wirklichkeiten außerhalb seiner selbst verurteilt. Es kommt an diese Wirklichkeiten nicht heran, kommt nicht in sie hinein bleibt außen vor und muss sich deshalb seiner Existenz ständig neu versichern.

Rudolf  Steiner hat  in dieser Zeit versucht mit der Anthroposophie, historisch parallel zu der Entwicklung der naturwissenschaftlich-technisch geprägten Industrie und dem entsprechenden Menschenbild, eine neue Wissenschaftsform und Erlebens- und Lebensmöglichkeit bis hin zu einer neuen Technik, bzw. einer neuen Naturentwicklung anzulegen. Während das Prinzip, auf das sich Industrie und Technik (und entsprechend die Wissenschaft) bis heute stützen, auf dem Abbau der vorhandenen Strukturen beruht, so wie es auch die Bewusstseinstätigkeit tut, versucht Steiner mit der Anthroposophie den Blick auf die hinter der abbauenden Bewusstseinstätigkeit liegenden aufbauenden Denkkraft zu lenken. In seinen Leitsätzen (1924) spricht er von Erkenntnissen der Anthroposophie, „die auf geistige Art gewonnen werden. Sie tut dies aber nur deswegen, weil das tägliche Leben und die auf Sinneswahrnehmung und Verstandestätigkeit gegründete Wissenschaft an eine Grenze des Lebensweges führen müsste, an der das seelische Menschendasein ersterben müsste, wenn es diese Grenze nicht überschreiten könnte.“ (Leitsatz 2) Heute kann man mit Fug und Recht sagen, dass diese Grenze des Lebensweges der Menschheit erreicht ist. Und in Leitsatz 59 vertieft er diese Blickrichtung: „Eine unbefangene Betrachtung des Denkens zeigt, dass die Gedanken des gewöhnlichen Bewusstseins kein eigenes Dasein haben, dass sie nur wie Spiegelbilder von etwas auftreten. Aber der Mensch fühlt sich als lebendig in den Gedanken. Die Gedanken leben nicht; er aber lebt in den Gedanken.“ Der Mensch ist aber so stark auf die toten Gedanken-Inhalte ausgerichtet, dass er sich selbst als  lebenden Mensch völlig vergisst und sich in der Anschauung der Wirklichkeit als Mitproduzenten jener Wirklichkeit herausnimmt. Das Funktionieren der Technik basiert weniger auf der Wahrheit der entsprechenden Gedanken (und naturwissenschaftlichen Grundlagen), sondern auf der realisierenden Tätigkeit des Menschen. Die funktionierende Technik beweist insofern nicht die hinter liegende Wissenschaft, sondern den in ihr tätigen Menschen.  Was in dieser Wissenschaft und Technik in Wirklichkeit für die Ich-Entwicklung geleistet wird, ist das Erüben absoluter Präzision in Wahrnehmung und Handhabung der Prozesse, die sich immer wieder an der objektiven Außenwelt korrigieren muss. Das Erlangen einer „mathematisch-mechanischen Klarheit“ . Darin liegt ihre anthropologische Funktion. „Wir sind gewissermaßen ins Licht gekommen, aber wir haben den Boden unter den Füßen verloren. Wir finden keine Begriffe, die uns das Leben, die uns das Bewusstsein selber irgendwie verbildlichen ließen.“ (R. Steiner, Grenzen der Naturerkenntnis 1920, S. 17). Die Präzision und Klarheit, die durch Naturwissenschaft und Technik erlangt worden sind, können und müssen jetzt genutzt werden um „in das wirkliche, menschliche Innere hineinzukommen, mit jener Stärke, die wir nicht umsonst für die äußere Welt viel mehr diszipliniert erlangt haben in der Naturwissenschaft.“ (Ebd. S. 120) Diese Aussagen liegen nun einhundert Jahre zurück und man kann bemerken, dass eine solche Entwicklung nur in kleinsten Ansätzen angegangen worden ist. Stattdessen ist der Weg der äußeren technischen Entwicklung geradezu hypertrophiert und hat zu der Sackgasse geführt, in der wir uns jetzt befinden. Diese Sackgasse kulminiert  in der Möglichkeit sich eine Naturentwicklung vorzustellen, in der der Mensch gar nicht mehr vorkommt oder auch im Transhumanismus, in dem der Mensch selbst zur Maschine wird.

Will man aus dieser Sackgasse herauskommen muss man einen anderen Weg einschlagen. Es geht dann um eine Wirklichkeit, die sich nicht generiert aus dem Gegenüberstehen von Mensch und Natur, sondern die sich daraus entwickelt, dass der Mensch sich mit der Welt (bewusst) verbindet. Anscheinend braucht es ein anderes Drinnenstehen des Menschen in der Wirklichkeit, eine entsprechende Entwicklung seiner Ich-Fähigkeiten, um aus der existierenden Spaltung in eine neue bewusste und lebendige Verbindung mit der Welt hineinzukommen.  Klünker schreibt dementsprechend in seinem Aufsatz von 2002: „Für die Technik stellt sich die Frage, wie der Mensch in seinen Empfindungen und Tätigkeiten ähnlich erlebnispräsent und anwesend sein kann wie in seinem Leib. Kann der Mensch eine Art >>Innenbewusstsein<< , ein Dabeibleiben für seine Erfindungen und Entwicklungen hervorbringen?“ (S.30).

Rudolf Steiner hat in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts versucht einen solche Weg für den Wissenschaftler aufzuzeigen und damit ein Wissenschaftsprinzip anzulegen, dass den menschlichen Innenprozess mit dem Außengeschehen wieder verbindet. In den Vorträgen vom 27. Oktober  bis zum 16. Oktober 1920 im Rahmen des ersten anthroposophischen Hochschulkursus, die dann unter dem Titel ‚Grenzen der Naturerkenntnis‘ veröffentlicht worden sind ( GA 322, 1981) wird dieser Weg ansatzweise skizziert. Man findet dort einen Ansatz für eine Psychologie und eine Anthropologie der Wissenschaft, also einen Ansatz dafür, wie die menschheitliche Entwicklung mit der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung verbunden ist und im Weiteren einen Ansatz, wie die Weiterentwicklung der Wahrnehmung und des Denkens durch den Wissenschaftler nötig ist, um zu einer neuen Wissenschaft zu kommen. Nötig ist eine solche Weiterentwicklung nicht nur für die Natur oder die ‚Umwelt‘, für das Außen, sondern vor allem für den Menschen selbst. Die anthropologische und psychologische Perspektive Steiners ermöglicht einen ganz anderen Blick auf die Wissenschaftsfrage. Denn sie sieht die Wissenschaftsentwicklung im Zusammenhang mit der Bewusstseins- und Ich-Entwicklung. Die (damals) vorhandene Bewusstseinsstruktur, das normale Bewusstsein der Menschen, wird als Ergebnis einer menschheitlichen Entwicklung angesehen. „Wie wir im  Grunde genommen jeden Morgen, wenn wir die Augen aufschließen, das Bewusstsein wiedererlangen an unseren Wechselbeziehungen mit der äußeren Welt, so war es auch im Entwicklungsgange der Menschheit. An dem Verkehr der Sinne, des Denkens mit dem äußeren Gange der Natur sich erst das Bewusstsein entzündet, ist erst das Bewusstsein so geworden, wie es jetzt ist. Die Tatsache des Bewusstseins sehen wir einfach historisch sich entwickeln an dem Sinnenverkehr des Menschen mit der äußeren Natur.“ Das Bewusstsein ist also Ergebnis einer Tätigkeit, nämlich der sinnlichen Wahrnehmung und des Denkens darüber. Und die Folge dieser Entwicklung ist eine Veränderung der Vorstellungen von einer mehr träumerischen Verschwommenheit der einzelnen Vorstellungsbilder zu klaren begrifflichen Vorstellungen. „Wir müssen, um zu diesem Erwachen, das heißt zum vollen Menschendasein zu kommen, jeden Morgen erwachen zum Sinnenverkehr mit der Natur.“ Wenn Liebig das Erklärungsbedürfnis der alten Wissenschaft kritisiert als unfruchtbar für das Leben, vergisst er, dass dieses Erklärungsbedürfnis in erster Linie ein Element der Ich-Entwicklung oder der Bewusstseinsentwicklung ist und war, und er überhaupt nicht in der Lage wäre empirisch technisch zu forschen, wenn diese Entwicklung ihn nicht zu den klaren Vorstellungen, Steiner spricht von „mathematisch-mechanischer Klarheit“, gebracht hätte. „Wir bilden klare Begriffe, die mechanistisch-mathematische Naturordnung. (…)Wir streben nach Klarheit. Wir machen uns mit dieser Klarheit ein Weltbild. Aber in diesem Weltbild ist keine Möglichkeit, den Menschen, uns selbst, drinnen zu finden. Wir sind an unsere Oberfläche gekommen mit unseren Begriffen bis zum Verkehr mit der Natur. Wir kommen zur Klarheit, aber wir haben auf dem Weg den Menschen verloren.“ (S. 17) Für das ‚Innen‘ des Menschen lässt sich diese ‚Klarheit‘, lassen sich die mechanistischen-mathematischen Begriffe nicht anwenden und es bleibt das Subjektive, als irrationales Element gegenüber dieser äußeren Klarheit und Bewusstheit, es bleibt das Unbewusste. „Man kann rechnen, aber die Rechnungen schweben in der Luft. Man kann keine Ansätze machen, weil die Rechnungsformeln nicht erfassen können dasjenige, was in der Seele eigentlich vorgeht.“ (S. 18). Wenn man diese Linie bis in die Gegenwart weiterzeichnet, dann würde man zu dem Ergebnis kommen, dass sich ein solches Bewusstsein immer weiter ausgeweitet hat, aber der Inhalt des Selbst gleichzeitig immer fragwürdiger geworden ist. Gleichzeitig ist das Bewusstsein immer abhängiger geworden von seinem ‚Sinnenverkehr‘ und benötigt immer mehr Intensität im Erleben, um dem Erleben noch weitere Bewusstseinsstabilität abringen zu können. Alle inneren und äußeren Verkehrsprozesse sind ins Unermessliche gewachsen und kaum noch zu bewältigen. Dabei ersetzt die Technik inzwischen den Verkehr mit der direkten Natur. (Nicolas Born schreibt schon in den siebziger Jahren von der „Welt der Maschine“, die die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmt) Das Bewusstsein ist ‚mehr‘ geworden, hat zugenommen, ist aber nicht stark genug geworden, „nicht intensiv genug, um den Mensch zu erfassen.“ (R. Steiner, S. 19). Das bedeutet aber nichts anderes, als dass eine weitere Entwicklung des Bewusstseins innerhalb des normalen ‚Sinnenverkehrs‘ nicht zu erwarten ist. Wir haben es eher mit einer Hypertrophie des vorhandenen Bewusstseins zu tun, nicht mit einer positiven Entwicklung. Dies erklärt auch die Entleerung aller Bewusstseinsverkehre, sei es Kultur, Politik und auch des Wissenschaftsbetriebes, die den Menschen meist unbefriedigt zurücklassen, ja geradezu auf die Dauer langweilen, wenn nicht künstliche Kraftelemente (Lautstärke, Spannung, Sexualität, Drogen) als Geschmacksverstärker eingesetzt werden.

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Es geht also um eine Weiterentwicklung des Bewusstseins zu einem Selbstbewusstsein, welches in sich selbst tragfähig ist und damit dauerhaft an Entwicklungsprozessen ‚dranbleiben‘ kann, das eine Ich-Form oder Ich-Linie in das Erleben des Außen hineinbringen kann und dadurch einen ersten Ansatz eines „Innenbewusstseins“ für die eigenen Bewegungen in der Wirklichkeit erreicht. Klünker schreibt in dem zitierten Aufsatz 2002: „Das Selbstgefühl entsteht nicht aus der gegebenen Leiblichkeit, sondern das eigene Leiberleben wird in die Umgebung hin erweitert.“ (S. 30). Interessanterweise hat Steiner 1920 genau dieses „Leiberleben“ im Blick, wenn er von der Möglichkeit spricht das Wahrnehmungsvermögen dahingehend zu entwickeln, dass wir anders als über äußere Erfahrung zu einem Inhalt kommen. In Steiners Ansatz von 1920 wird eine mögliche Erweiterung des Leiberlebens in der Weiterentwicklung der Sinne gesehen, die im Leib tätig sind und deren Tätigkeit den Hintergrund des durch den Leib gegebenen Selbstgefühls bilden: Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn und Lebenssinn. Steiner hat die Sinne schon in dem Fragment ‚Anthroposophie‘ von 1910 untersucht, dort werden die unteren Sinne (erstmals?) ausführlich geschildert. Im Buch ‚Von Seelenrätseln‘ von 1917 arbeitet er das Thema weiter aus in Richtung des Ursprunges der Sinnestätigkeit aus Imagination, Inspiration und Intuition, in den Vorträgen von 1920 wird das Thema noch einen Schritt weiterentwickelt in Richtung eines Entwicklungsweges für den Wissenschaftler und damit auch für den heutigen Menschen.

An diesem Punkt wird es wissenschaftspsychologisch und anthropologisch interessant. Denn Steiner sieht in Mechanik und Mathematik, mit denen wir die Außenwelt versuchen wissenschaftlich exakt zu begreifen und dann auch technisch zu bearbeiten, eine Art Ausdehnung der inneren Sinnestätigkeit, mit der wir in der Wirklichkeit der Raumverhältnisse, der Zeitverhältnisse, der Gewichtsverhältnisse usw. drinnen stehen. „In Raum und Zeit stehen wir so drinnen, dass diese Dinge gleichsam durch uns hindurchgehen, ohne dass wir sie erst wahrnehmen. Die anderen Dinge müssen wir erst wahrnehmen.“ (Also Farbe, Ton usw.) Im Heilpädagogischen Kurs (1924) finden sich ähnliche Formulierungen, aber weniger ausführlich hergeleitet, wie in den Vorträgen von 1920. Auch dort spricht er von einem unmittelbaren Drinnenstehen in den irdischen Kräften und er unterscheidet dieses unmittelbare Drinnenstehen von dem mehr mittelbaren Wahrnehmen mit den oberen Sinnen. Er spricht den unteren Sinnen einen Bezug zum Ich zu, während die oberen Sinne erst einmal mehr rezeptiv sind und insofern dem ‚Astralleib‘ zuzurechnen seien. (Ob diese Aufteilung heute noch so gilt, wäre zu hinterfragen!). Für diesen Zusammenhang ist die Unterscheidung Steiners zwischen den Kräften, die wir als Subjekt erst wahrnehmen müssen und den Kräften, in denen wir unmittelbar tätig sind, von Belang. In der innerlichen Verbindung mit den lebensgestaltenden Kräften sieht Steiner die Möglichkeit, „ dass wir auf etwas kommen, was nach innen zu ein solches Wahrnehmungsvermögen entwickelt, dass uns nur in den ersten Jahren unbewusst bleibt (…)“ (S. 39)

Durch die „drei sinnesähnlichen Funktionen“ wird in den ersten Lebensjahren eine „in gewissem Sinne mathematisierende“ Tätigkeit in uns ausgeübt. Die eine Funktion ist der „Lebenssinn“, In der Kindheit ist er „in der Vitalität des Kindes ganz besonders tätig bis zum Zahnwechsel hin.“ Die zweite Funktion ist der Bewegungssinn, die „innerliche Wahrnehmung von der Bewegung der Glieder, von Veränderungen, in dem wir uns bewegen.“ Die dritte Funktion ist der Gleichgewichtssinn, „er ist in uns dasjenige, wodurch wir uns in einer gewissen Weise in die Welt hineinstellen, nicht umfallen, in eine gewissen Weise wahrnehmen, wie wir uns in Harmonie bringen mit den Kräften unserer Umgebung. Und dieses In-Harmonie-Bringen mit den Kräften unserer Umgebung nehmen wir innerlich wahr.“ (S.40) Diese Funktionen, die in der frühen Kindheit als ein „lebendiges Mathematisieren“ im Kind tätig sind, und diese Funktionen sind natürlich Empfindungen, sensibles Empfinden der organischen Prozesse, der Bewegungen, der Gleichgewichtsprozesse, Empfindungen, Sensibilitäten von Stimmigkeit, die nur in der Tätigkeit selbst sich entwickeln können. Deshalb hat  das kleine Kind zu Beginn noch kein Gleichgewicht, kann sich noch nicht zielgerecht bewegen und kann auch seine Lebensvorgänge noch nicht vollständig empfinden. Dieses Relationsempfinden wird als  „Mathematisieren“ im Laufe der Kindheit frei und damit auch vom Menschen als abstrakte Mathematik nutzbar. „Wir gehen dann, nachdem wir uns freigemacht haben diese Mathematik, mit ihr an die Außenwelt heran und erfassen die Außenwelt mit demjenigen, was bis zum Zahnwechsel in uns gearbeitet hat.“ (S.41).

Das unbewusste Anwenden der inneren Lebens-, Bewegungs- und Gleichgewichtsempfindungen als abstraktes ‚mathematisch-technisches Denken‘ auf die Außenwelt führt in die technische Welt, in der wir heute leben. So wie uns diese drei Sinne das Gefühl des Daseins verleihen, also uns ein unbewusstes Selbstgefühl geben, so verleihen sie allen äußeren Tatsachen, die wir mit ihnen erfassen oder bearbeiten, ein Gefühl der Stabilität, Sicherheit, Evidenz. Sie erscheinen als Naturgesetze. Und wir bemerken nicht einmal, dass wir als Menschen es selbst sind, die sich die Natur gegenüberstellen. Eine Weiterentwicklung unserer technisierten Außenwelt würde sich dann vollziehen, wenn wir die Sinnestätigkeit der unteren Sinne weiterentwickeln, von der unbewussten Abstraktion in die Außenwelt, zu einer mehr inspirativen Wahrnehmung der Wirklichkeit. In der Sinneswahrnehmung der oberen Sinne haben wir ein äußeres Geistiges, was durch die Sinneswahrnehmung in uns eintritt und dadurch Bewusstsein erzeugt; bei der Empfindung der unteren Sinne haben wir ein „inneres Geistiges“ das in uns wirkt. „Wir bekommen Inhalt auf andere Weise als  durch äußere Erfahrung in unsere Vorstellungen hinein.“ Das, was in unserem Organismus geistig arbeitet während unserer Kindheit, „muß durch den menschlichen Leib am Menschen angeschaut werden“. (S. 43) Wir können uns bei dieser Erkenntnisart nicht herausziehen aus dem Erkennen. „Man erwirbt sich nicht nur neue Ergebnisse zu den alten Erkenntniskräften, wenn man zu dieser Inspiration aufrückt, sondern man erwirbt sich dabei die Möglichkeit, neu anzuschauen.“ Mit der ‚Inspiration‘ hat man in seinem inneren Erleben eine Wahrnehmung, die nicht von uns selbst erzeugt wird, sondern wie von außen gegeben, als objektiver Inhalt auftritt. Insofern ähnelt sie tatsächlich der Mathematik oder der kosmischen Bewegungsharmonie, die ja in der Mathematik wirkt. Aber sie tritt auf als Ergebnis, nicht als Prozess. Sie tritt auf als ein Begriff, der aus dem Leben und aus dem kosmischen Zusammenhang heraus punktuell einen Inhalt gibt, der dann aber bemerkt werden muss und mit dem man sich frei verbinden kann. Um solche inspirativen Inhalte in die Wahrnehmung zu bekommen, muss man sich an das leise und nicht so helle Auftreten dieser Inhalte ‚gewöhnen‘. Auch die Tätigkeit der inneren Sinne wird in der Regel nicht wahrgenommen, außer wenn Störungen auftreten, weil sie „wie ein  kleines Licht in seiner Stärke durch ein größeres Licht ausgelöscht wird.“ Auf diesen Zusammenhang hat schon Aristoteles hingewiesen. Die Wahrnehmung der Zukunft, sei in Wirklichkeit eine Wahrnehmung, die durch die Organtätigkeiten sich vollziehe, die aber tagsüber durch das Wahrnehmen durch die helleren oberen Sinne abgedimmt würde, und  sich deshalb meist nur im Traum offenbare. Im Traum verbinden und vermischen sich die Bilder der Vergangenheit mit den Kräften und Intentionen, die aus der Zukunft wirken.

Für die Frage nach einem ‚Innenbewusstsein‘ des Menschen für seine Entwicklungen und Erfindungen haben wir in dem geschilderten anthropologischen Zusammenhang eine erste Grundlage. Ein solches Innenbewusstsein muss erst einmal im Menschen und vom Menschen selbst entwickelt werden. Dann wird die Grenze zwischen Innen und Außen durchlässiger. Dann vollziehen sich nicht außen objektive Vorgänge, die man untersucht und innen hat man subjektive Erlebnisse, die mit den äußeren Vorgängen nichts zu tun haben, sondern beide Seiten, subjektiv und objektiv, beginnen sich neu zu verbinden. Dazu ist es aber nötig die Intensität der eigenen inneren Aktivität zu verstärken, damit die inneren Empfindungen nicht übertönt werden von den äußeren Wahrnehmungen. Klünker schreibt deshalb in seinem Aufsatz 2002: „Der Zugang (zu einer neuen Technik) scheint darin zu liegen, den Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Naturerkenntnis zu bemerken und daraus ein neues Verständnis von Kraftwirkungen zu entwickeln: Der Mensch hat die Sinneswahrnehmung, den äußeren Sinn; daneben die Fähigkeiten der Selbstwahrnehmung bzw. Selbsterkenntnis als eine Tätigkeit des Ich. Diese Tätigkeit kann als innerer Sinn bezeichnet werden. Wäre nur der innere Sinn tätig so wäre das Ich in höchstem Maße geistig selbstwahrnehmend; es hätte nur sich selbst punktuell zum Gegenstand. Wäre dagegen nur der äußere Sinn im Menschen bewusstseinsschaffend, so würde sich das Ich auflösen, der Punkt wäre zur Allheit erweitert. Uneingeschränkte Ich-Tätigkeit wäre Konzentration, Intensität, während uneingeschränkte Weltwahrnehmung totale Exzentrik, aller Intensität zu Gunsten der absoluten Extension wäre. (…) Die schaffende Kraft als entscheidender Gegenstand der neuen Technik wird erst möglich, wenn es gelingt, die Extensität der Raumesbewegung mit der Intensität sich vertiefender geistiger Selbsterkenntnis wirklich zu durchdringen.“ Denn, und hier zitiert Klünker Schelling: „Das Objekt ist äußerer Sinn bestimmt durch inneren Sinn.“ (S. 14)

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Die bisherige Technikentwicklung basiert auf der Naturzerstörung, so wie die bisherige Bewusstseinsentwicklung auf dem Abbau des eigenen Lebens beruht. Will man in eine naturschaffende, Natur entwickelnde Tätigkeit hineinkommen, so muß man erst in seinem eigenen Denken in eine aufbauende Tätigkeit kommen. In seinen Vorträgen ‚Die Grenzen der Naturerkenntnis‘ skizziert Rudolf Steiner 1920 einen Weg für die Wissenschaft und den Wissenschaftler in Richtung einer solchen aufbauenden Tätigkeit. Es wird im Verlauf der Vorträge deutlich, dass Steiner diesen Weg nur in Ansätzen schildern kann, weil die Teilnehmer damals diese Schilderungen noch nicht mit eigenen Erfahrungen in Beziehung bringen konnten. Die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ermöglichen heute aber einen ganz anderen Blick auf diesen Ansatz. Ein solcher Blick könnte den Zusammenhang zwischen  der naturzerstörerischen Technikentwicklung und der parallel verlaufenden Erosion eines kohärenten Selbstgefühls, mit den entsprechenden psychiatrischen Effekten, deutlich machen. Steiner spricht 1920 von ersten Anfängen einer solchen Auflösung des Bewusstseins durch die Berührung mit einer Kräftewirklichkeit, die, wenn sie nicht durch eine Steigerung der Ich-Kräfte im Bewusstsein geordnet werden können, psychiatrische Symptomatiken hervorrufen. Er spricht von pathologischem Skeptizismus, Grübelsucht, Zweifelsucht, aber auch von Ängsten und Zwangsstörungen, Panikattacken, damals als Agoraphobie und Klaustrophobie diagnostiziert ( „in der besonderen modernen Form erst in jüngster Zeit beschrieben wird“). Zerfall der Natur und Zerfall des Bewusstseins hängen zusammen, es wird nur nicht zusammen gedacht. Das, was zu Steiners Zeit noch ganz anfänglich zu beobachten ist, die Auflösung des kohärenten Selbstgefühls, kann heute als flächendeckendes Phänomen erlebt werden. Nur dass der Zusammenhang zwischen der technischen Entwicklung und der (unbewussten) Bewusstseinsentwicklung nicht gesehen wird. (Joseph Beuys war einer der wenigen, der diesen Zusammenhang in den siebziger/achtziger Jahren immer wieder betont hat.)

Nimmt man Steiners damalige anfängliche Beobachtungen ernst, dann entwickeln sich die inneren (inspirativen) Fähigkeiten auch unbewusst in der Menschheit. Dies führt dazu, dass im Menschen reale geistige (intentionale) Kräfte wirken, aber ihnen eine angemessene Bewusstseinsmöglichkeit fehlt. Es kommt deshalb zu Erlebnissen von „Unruhe“, einer Unruhe als Bewegungserlebnis ebenso wie als Bewusstseinsphänomen: die oben erwähnte Zweifelsucht. Man kommt mit einer lebendigen Wirklichkeit in Berührung, kann sich diese aber gar nicht gar klarmachen, und ist deshalb ihren Wirkungen ausgesetzt. Der zentrale Ort für ein solches Geschehen ist im Menschen das Fühlen oder das Gefühl. Hier treffen die inspirativen Impulse auf die Bewusstseinsmöglichkeiten des abstrakten Denkens, den ‚toten Gedanken‘, und können sich nicht zu einem einheitlichen Eindruck verbinden. Die ‚inspirative‘, aber unbewusste Wahrnehmung bleibt als Zukunftswirkung in den unteren Sinnen als Rumoren eingesperrt. Und dieses unterbewusste Rumoren irritiert auch das Denken, das jeden Wirklichkeitsbezug verliert, weil der Erkennende selbst wie absorbiert ist von seiner eigenen Wirklichkeit. (Am deutlichsten zeigt sich eine solche Symptomatik der Unruhe in der fortgeschrittenen Demenz, in der Gefühle nicht mehr vollbewusst erlebt werden können, sondern nur noch als reine Bewegungsunruhe sich zeigen).

Wenn man sich den Gesamtzusammenhang noch einmal  vor Augen stellt, hat man folgende Situation: Das naturwissenschaftliche Denken und das sich daraus entwickelnde Leben hat anthropologisch die Funktion den Menschen zur Bewusstseinsklarheit zu bringen. Dies geschieht dadurch, das der Mensch in der sinnlichen Beobachtung und seinem Nachdenken über die Wahrnehmungen immer genauer und präziser wird; gleichzeitig verliert er dabei sich selbst als Erkennenden immer mehr. Er verliert immer mehr die Wirklichkeit, das eigene Selbstgefühl, das sich aus der Tätigkeit der unteren Sinne in den Kräften der Umgebung speist. Evidenz und Wahrheit werden immer mehr in die äußere Wahrnehmung und Messung verschoben, ohne dass dies wirklich befriedigen kann. Ursache dafür ist, dass das Nachdenken über die Sinneswahrnehmungen das Denken immer mehr an einen Sinneseindruck koppelt, und das Denken als eigene Kraft nicht mehr bemerkt wird, es wird nur noch der Bewusstseinsinhalt bemerkt. Das Selbstgefühl knüpft sich in der Folge immer mehr an den aktuellen Bewusstseinsinhalt, der aber ein wirkliches Selbstgefühl immer nur für einen kurzen Augenblick generieren kann.  Dies führt zu einem zusammenhangslosen Erleben und Erlebnissen, also zu einem Erleben, das nichts mit mir wirklich zu tun hat. Man kann es auf die einfache Formel bringen: einer sich immer weiter verstärkenden Sensitivität der Außenwelt gegenüber fehlt eine innere Sensibilisierung, die eine solche erhöhte Empfindlichkeit in einen Ich-Zusammenhang bringen kann, und dadurch ein Ausfließen in die Außenwelt verhindern würde.

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Inzwischen sind die wissenschaftlich-technischen Weltanschauungen so tief in uns eingedrungen, dass unser ganzes Erleben und Selbsterleben von ihnen bestimmt ist. Man bemerkt dies gar nicht mehr. Umso schwieriger und aussichtsloser erscheint heute jeder Versuch einen komplett anderen Ansatz des Selbst- und Naturbezuges zu finden. Dies gilt es als Ausgangssituation und als Schwelle mitzunehmen, das ‚Ignorabimus‘, also die Erkenntnisgrenze des naturwissenschaftlichen Weltbildes vom Anfang des 20. Jahrhunderts, ist zu einer wirklichen Lebensgrenze geworden. Dies bedeutet aber auch, es geht heute nicht mehr um ein Erkenntnisproblem, sondern um ein existentielles Lebensproblem. Diese Situation gilt es zu berücksichtigen, wenn man den Steiner‘schen Ansatz der Ich-Entwicklung von 1920 anschaut. Womöglich ist dieser Ansatz erst mit den heutigen Möglichkeiten und Grenzerfahrungen freizulegen und weiterzuentwickeln.

Was sind die wesentlichen Grundannahmen in Steiners Ansatz von 1920? Steiner diagnostiziert für das Denken seiner Zeit eine „Trägheit“, die dazu führt, dass das Denken über die Grenze der möglichen Naturerkenntnis hinausgeht. Hier geht es um den, meist unbemerkten, Übergang von der phänomenalen Welt in eine  konstruierte Welt von „hinterphysischen Atomen, Molekülen und so weiter“ (S. 33) , also in eine Welt der Modellvorstellungen. Es geht darum „an der materiellen Grenze des Erkennens (…) nicht in Trägheit durchzustoßen durch den Sinnesteppich und allerlei Metaphysisches da zu suchen in Atomen und Molekülen“ (S. 114). (Insbesondere Markus Gabriel hat immer wieder auf die Unterscheidung zwischen der Welt der Wahrnehmungen und Phänomene und der Welt der Modelle und Konzepte hingewiesen, eine Unterscheidung, die der sogenannten Naturwissenschaft gar nicht mehr präsent ist. Die auf diesen Modellen aufgebauten metaphysischen Weltanschauungen sind gar nicht mehr zu durchschauen.) An der Grenze der Sinneswahrnehmung begegnen wir in Wirklichkeit dem „geistigen Inhalt der Welt“ (R. Steiner), aber nur wenn man an dieser Grenze innehält, „resigniert“ und nicht „in Trägheit fortrollen“ lässt „unser Begriffsspinnen“, das an der Begegnung mit der physisch-sinnlichen Außenwelt angeregt worden ist. Das ichgeführte Denken müsste bemerken, wann es diese Grenze des Erkennens an der Außenwelt überschreitet und dort innehalten. Das Denken kann in Bezug auf die Außenwelt die wahrgenommenen Phänomene gliedern und dadurch zu Erkenntnissen kommen, aber es kann den „Sinnesteppich“ nicht „durchstechen“ und eine Welt hinter dieser Sinneswelt konstruieren. Interessant ist der Bezug zum Skeptizismus, sowohl psychologisch, wie auch philosophisch: „ich rolle mit meinen Begriffen hinter die Sinneswelt noch hinunter und konstruiere mir da eine Welt, an der ich dann wiederum zweifle, wenn ich merke, dass ich nur meiner Trägheit gefolgt bin mit meinem ganzen Denken.“ Das Innehalten an der Grenze des Erkennens betrifft aber nicht nur den „Verkehr“ mit der Außenwelt, es betrifft in gleicher Weise das Innehalten an der Grenze nach Innen. Auch hier gilt: ich komme in das Innere nicht hinein mit einem Denken, dass nur „fortrollt“. „Man muss die Resignation haben, nicht weitergehen zu wollen, wenn man an diesem Punkte angelangt ist, (…) nicht durch innere Trägheit einfach das sinnlichkeitsfreie Denken weiterrollen zu lassen und zu glauben, dass man durch dieses sinnlichkeitsfreie Denken in die Geheimnisse des Bewusstseins hinuntergelange, sondern man muß eben die Resignation haben, nun stehenzubleiben und sich gewissermaßen von der Innenseite der geistigen Außenwelt gegenüberzustellen.“(S. 56)

Der erste Schritt besteht also heute darin, in seinem Denken zu bemerken, wann man die Grenze der sinnlichen Wahrnehmung überschreitet, also nicht mehr Phänomene ordnet, sondern anfängt Ursachen zu konstruieren. Schon das Bemerken dieser permanenten Grenzüberschreitung im eigenen Alltagsdenken und die Bemühung um ein Innehalten an dieser Grenze, zeigt sich als ein ziemlich anspruchsvolles Unterfangen. Dabei geht es gar nicht darum, Konzepte, Modelle oder andere abstrakten Verfahren gar nicht zu benutzen, sondern grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der Wirklichkeitsstufe dieser Gedankenwirklichkeiten und der sinnlichen Wirklichkeit des Lebens. Es sind zwei völlig verschiedene Gebiete von Wirklichkeit mit ganz unterschiedlichen Funktionen. Steiner spricht von ‚Resignation‘ an dieser Grenze. Damit das Denken an dieser Grenze nicht in tote Abstraktionen zerstäubt und sich immer weiter ablöst von der Lebenswirklichkeit, muss es in eine Eigenbewegung kommen, es muss lebensnäher werden und es muss sich mit dem Leben harmonisch verbinden können, also eine gewisse Sensibilität für Stimmigkeiten entwickeln (hier klingen schon die Tätigkeiten der unteren Sinne durch).

Eine solche Entwicklung kann das Denken aber nur in einem Bereich nehmen, in dem es nicht ständig (nur) über irgendwelche Sinneseindrücke nachdenkt. Es geht darum zu einem ‚Anschauen des Denkens‘ selbst zu kommen, also das Denken in der Tätigkeit zu empfinden und nicht erst an seinem Endpunkt, dem toten Gedanken aufzuwachen. Um eine solches Empfinden des Denkens auszubilden, braucht es die Kräfte, die normalerweise in der Sinnestätigkeit der unteren Sinne eingebunden sind. Das sich aktivierende und empfindende Denken basiert darauf, dass die ‚Willenssinne‘ sich mit dem Denken verbinden: „dass in jenem Denken, das wir als das reine Denken erreichen Willen und Denken zusammenfallen. Das reine Denken ist Grunde eine Willensäußerung.“ (R. Steiner, S. 124) Klünker schreibt dementsprechend 2013: „In der aristotelisch-spirituellen Überlieferung ist die Erkenntnis des Lebendigen , die die Zukunft einbezieht und dadurch selbst Quelle des Lebens wird, als Kraft des Denkens herausgearbeitet worden – im Unterschied zum Inhalt des Denkens (aber natürlich nicht unabhängig von ihm).“ Und etwas weiter unten: „Die entsprechende Erkenntnisart könnte heute als etwas trocken als Begriffsrealismus verstanden werden: Das Ich lebt in und mit den Begriffen. Und in dem Miterleben des Begriffszusammenhangs erreicht das Ich ätherisch die eigenen Lebensquellen sowie diejenige (ätherische) Kraft, die in der Natur Leben schafft.“ (S.75/76). Es geht also darum ein (sich) empfindendes Denken zu entwickeln, und dieses empfindende Denken ist in der Lage sich in sich selbst zu halten (durch die Eigenbewegung), es wird  zum eigentlichen Ort des Ich. Es wird damit auch zum Ausgangspunkt für das, was Klünker dann ‚heute‘ mit dem Begriff der ‚Empfindung hinter dem Denken‘ oder der ‚Empfindung nach dem Denken‘ anspricht. Tote und abstrakte Gedanken sind nicht in der Lage sich mit dem Leben (des Organismus und der Natur zu verbinden), die aus dem lebendigen Denken sich bildenden neuen Empfindungsarten sind dies schon.

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„Die Wirklichkeit lebt eben in Bildern“ (R. Steiner, S. 58) Für eine wirkliche Psychologie, für ein Erkennen der „inneren Bewusstseinswelt“ brauche es, so betont Rudolf Steiner, eine „Metamorphose des Erkennens“. Es gehe darum, dass sich Begriffe und Ideen in Bild und Imagination verwandeln. Es geht  für Steiner um eine Erkenntnisstufe der Imagination. „Jetzt gelangt man in das Gebiet des bildlichen, des imaginativen Denkens hinein.“ (S. 56). Man kann es so verstehen: durch die eigene geistige Aktivität im Denken bildet sich ein geistiges Inneres, das sich jetzt einem geistigen Äußeren gegenüberstellen kann. Die lebendigen imaginativen Bilder sind dann eine Reflektion der geistigen Innenwelt (Organismus) auf die Inspirationen aus der geistigen Außenwelt (Natur). Das Ausbilden des bildlichen Vorstellens dient dazu das „abstrakte, das bloß ideenhafte Denken umzuwandeln in bildhaftes Denken. Und dann tritt etwas ein, was ich nur nennen kann ein erlebendes Denken. Man erlebt das bildhafte Denken. (…) Man erlebt nicht den im Raume ruhig geformten und seine Form nicht ändernden menschlichen Organismus, sondern erlebt dasjenige, was im Menschen innerlich lebt und webt. Man erlebt es in Bildern.“ (S. 79). Um in ein solches Erleben in Bildern zu kommen, muss man erst einmal alles Räumliche überwinden, das bedeutet nichts anderes als das, was die unteren Sinne in den irdischen Kräften als räumliches Selbstgefühl produzieren, aufzuheben. Denn in diesem Selbstgefühl liegt gewissermaßen die Ablähmung der lebendigen Bildwirklichkeit „Und das genügt nicht, dass man ein äußeres plastisch-räumliches Formvorstellen hat, es genügt zu diesem Üben erst, wenn man ein bewegtes Formvorstellen hat, wenn man allmählich überhaupt alles Räumliche überwinden kann in dieser Imagination und man untertauchen kann in die Vorstellung eines Intensiven, eines Aus-sich-heraus-Wirkenden. Kurz, man muss untertauchen, so dass man dann im Untertauchen noch genau sich unterscheiden kann von seinem Leibe. Denn nur dasjenige kann man erkennen, was einem Objekt wird.“ (S. 83) Die unteren Sinne werden im Denken weiterentwickelt zu einem neuen Organ für bewegte Formen, für lebendiges Bildgeschehen, für Zusammenhänge, für Relationen, für Stimmigkeit und Harmonie – für alle konstituierenden Elemente eines Bildens von Bildern.  

Steiner will zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine imaginative und inspirative Erkenntnisart veranlagen und damit das Erkennen seiner Zeit weiterführen. Es ist deutlich, dass eine solches Erkenntnisart und damit eine solche Wissenschaft zentral auf der Entwicklung des Erkennens des jeweiligen Erkennenden beruht. Steiner schildert 1920 gewissermaßen die dafür geltenden anthropologischen und psychologischen Grundlagen. Das was er als imaginativ bezeichnet, erschließt in neuer Weise das Innensein des Menschen, das was er als inspirativ bezeichnet, erschließt in neuer Weise das Äußere. Steiner nennt das Zusammenwirken beider Erkenntnisarten einen neuen Atemprozess. Er meint damit einen neue Atemvorgang zwischen Wahrnehmen und Denken. Die alte, automatische Verbindung zwischen Wahrnehmen und Denken wird durch die Aktivierung des Denkens aufgelöst, eine neue Verbindung zwischen  seelischem Einatmen und Ausatmen wird durch die Entwicklung des Denkens angelegt. Die Inspiration (Einatmung) des äußeren Wahrnehmungsprozesses trifft auf die imaginative Empfindung des Inneren in der Ausatmung. „Im gewöhnlichem Wahrnehmen erlebt man die Wahrnehmung, das Denken. Indem man beweglich macht sein seelisches Leben, erlebt man den Pendelschlag, den Rhythmus, das fortwährende Ineinandervibrieren von Wahrnehmen und Denken.“(R. Steiner, S. 124) Der Begriff des ‚Ineinandervibrierens‘ von Wahrnehmen und Denken oder von Imagination und Inspiration trifft ganz gut die neue Willensqualität der ‚Intuition‘. Der neue Wille entsteht in diesem Vibrieren, also einem gegenseitigen Sensibilisieren von Wahrnehmen und Denken. Hier steht nicht mehr ein subjektives Ich einer objektiven allgemeinen Außenwelt gegenüber; in diesem gegenseitigen Empfinden von Innen und Außen begegnet das Ich seiner eigenen Entwicklungssituation. In der Entwicklungssituation des Ich ist die Weiterentwicklung der Natur enthalten. Nur aus der individuellen Ich-Entwicklung heraus entsteht eine neue, dem Ich angemessene Natur. Schicksalsentwicklung und Naturentwicklung bedingen sich gegenseitig.

Für die Gegenwart hat sich diese Entwicklung weiter zugespitzt. Während Steiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein einigermaßen konsolidiertes Seelenleben seiner Zeitgenossen voraussetzen konnte, und insofern die geistige Entwicklung als zusätzliche seelische Aktivität anlegen konnte, findet sich heute, hundert Jahre später, eine solche Basis immer weniger. Die geistige Entwicklungsfrage zeigt sich heute vertieft in seelischem Erleben und in der eigenen Lebenssituation. Klünker schreibt 2003 dass, die geistige Wirklichkeit („der Engel“) sich „in einem innerseelischen Geschehen“ zeigt, „zunächst vom Seelenprozess des Menschen nicht klar zu unterscheiden“ ist. „Er kann sichtbar werden, wo der Sinnesprozess durchdrungen wird, wo deutlich wird, dass der Mensch nicht nur als weltabbildendes Wesen in seiner Umgebung lebt.“ (…) Für die Ebene der Kraftwirkungen bedeutet dies, dass die Elementarwelt in ihrer doppelseitigen Bedeutung als innerseelische Erlebniskraft und als Kraft in der Natur allmählich sichtbar wird.“ (…) Damit bildet sich im Mensch in der Sphäre der Seele ab, was für den Engel geistig gilt: Selbsterleben und Welterleben rücken eng zusammen, Selbsterleben und Welterleben rücken eng zusammen, die Grenze zwischen innen und außen beginnt sich zu verschieben und durchlässiger zu werden.“ Klünker, 2003, Die Erwartung der Engel, S. 56). Es ist also gar nicht mehr ohne weiteres klar, ob Gefühle, die die Seele erlebt, eigene Gefühle sind oder Kraftwirkungen aus der Umgebung. Eine Identifizierung der Kräfte im seelischen Erleben braucht einen Bezug zu einer eigenen geistigen Kraft. Das Bemühen um eine solche eigene geistige Kraftausbildung wäre auch die Voraussetzung zu einer eigenen Kraftausstrahlung in die Umgebung zu kommen. Nur durch die Bildung eigener Kräfte ist auch die Identifizierung der erlebten Kräfte in der eigenen Seele möglich. Das bedeutet, dass die Grenzerlebnisse, die Steiner für das Erkennen 1920 formuliert hat, sich heute nicht allein mehr im Denken zeigen, sondern als „Grenze der seelischen Existenz, als Aussichtslosigkeit, Krankheitsgefühl, Sinnverlust erlebt wird. Entscheidend und verwirrend ist nun, dass die Schwellenberührung als eigene seelische oder biographische Problematik erlebt wird – was sie in der Regel auch ist. (…) Dennoch können sie nur umfassend verstanden und gelöst werden, wenn sie auch als Symptome für eine individuell und zeitgeschichtlich notwendige Geistberührung aufgefasst werden.“ (Klünker, S. 58 ff.) Man kann also berechtigt sagen: Die Grenze des Erkennens ist zur Grenze des Lebens geworden und dadurch auch viel persönlicher und existentieller. Gleichzeitig gelten aber immer noch die Prinzipien, die Steiner 1920 aufgestellt hat: Es gilt eine Denkkraft aufzubauen oder zu verstärken, die sich in den seelischen und biographischen Grenzberührungen halten kann, es gilt den Sinnesprozess zu durchdringen. Klünker schildert diese Grenzberührung des Denkens so, dass es nicht auf Erkenntnisergebnisse in Einzelnen ankommen, sondern „es muss der Wille hinzukommen, die eigene innere und äußere Lebensverfassung ins volle Bewusstsein aufzunehmen, selbst dann, wenn ein Verstehen nicht möglich erscheint. (S. 59)“ Es geht um ein Erproben der Bewusstseinsfähigkeiten „bis an die Grenze“, „gerade in Bereichen der Seelenstimmung“. Es wird deutlich, dass es sich hierbei nur um eine Kraft des Denkens handeln kann, die sich als Wille (ohne weitere Intention) in diesen Grenzbereichen aufrecht erhält. Das Wissenschaftsproblem ist zum Lebensproblem geworden!

Gerade dadurch wird es auch möglich in den Grenzberührungen des seelischen Erlebens die „leibliche Grundlage“ dieses Erlebens  „anfänglich bewusstseinsfähig“ werden zu lassen und die „Kraftwirkungen der Hierarchien im Geist realitätsfähig zu machen“ (S. 66 und 67). Man berührt in diesem Kraftgeschehen den Bereich, in dem vorgeburtlich die Grundlage des Wahrnehmens, mit der  Nerventätigkeit, die Grundlage des Fühlens  in der Atmungstätigkeit und die Grundlage des Bewegens in der Stoffwechseltätigkeit hervorgebracht worden sind. Gleichzeitig wird die Kraftwirkung im Naturbereich empfindungsfähig. Es ist deutlich, dass es sich bei solchen empfindenden Berührungen nicht um ein Abbild der Kräfte handeln kann, sondern diese durch die menschliche Empfindung angesprochen und modifiziert werden. Während im 19. Jahrhundert diese Kräfte gewissermaßen ohne menschliches Empfinden und ohne Maß entfesselt werden und dadurch eine Maßlosigkeit in allen Lebens- und Naturbereichen bewirken, ist hier das menschliche Maß in der Empfindung immer enthalten. Das alte Selbstempfinden durch die unteren Sinne wird zum neuen Kräfteempfinden von Organismus und Natur und erzeugt darüber ein neues Selbstgefühl.

Steiner hat 1920 diesen Übergang in die Natur als notwendigen Ausweg aus der „Sackgasse der abendländischen Geistesentwicklung“ (Steiner, S. 125) bezeichnet. Das Schweigen Schellings, der eine Naturphilosophie anstrebte, die „die eigentlichen geheimen Kräfte, die sich in seiner früheren Naturphilosophie nur andeutend zeigten, enthüllen sollte“, diese aber nicht realisieren konnte, zeugt von dieser Sackgasse. Die Sackgasse der abendländischen Geistesentwicklung ist aber längst zu einer Sackgasse der Lebensentwicklung geworden. Das Diktum Schellings, dass man die Natur nur erkennen können, indem man neue Natur schaffe, gilt aber auch heute noch. Eine Einlösung ist möglich, wenn das Ich beginnt elementare Kräfte zu berühren und diese auf diese Berührung beginnen zu reagieren. Klünker formuliert dies 2013 so: „Das Ich berührt elementare Kräfte, wenn es im erlebten Lebensernst seelische Präsenz mit dem individuell möglichen Maximum eigener Erkenntniskraft verbindet. Eine solche Erkenntnissituation verläuft an einer Ich-Grenze, an der das Ich sensibel für ätherisches Wirken wird – und an der zugleich ätherisch elementare Kräfte sensibel für das Ich werden.“ (Klünker, 2013, S. 76)

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Man hat hier zwei Wege, die jetzt genau unterschieden werden können: Einen Weg nach Innen, der  ins Innere der Natur und des Menschen eindringt und dort Veränderungen äußerlich ‚mechanisch‘ vornimmt und dabei den Zusammenhang der Elemente zerreißt. Diese Technik ist in der Lage eine neue Natur zu erzeugen, eine künstliche Natur. Diese künstliche Natur gliedert sich aber nicht in den Gesamtzusammenhang ein.  Sie basiert auf der Entmischung der Elemente. Man kann sie deshalb zurecht als ‚Unternatur‘ bezeichnen (R. Steiner in seinem letzten Leitsatz  183 März 1925: „Die Technik wird Unter-Natur.“) Ein solcher Weg gibt der freiwerdenden Natur keinen neuen Ich-Zusammenhang, sondern trennt Natur und Ich immer weiter auf in Objekt und Subjekt. Selbst der eigene Organismus wird zur Unter-Natur und zum Objekt, auf dass dann in letzter Konsequenz auch verzichtet werden kann. Bis in die Tiefen der Genetik oder der kleinsten Teilchen des Universums finden aber nur äußerliche, mechanische Veränderungen der Zusammenhänge statt, die keine wirklich neue Entwicklung der Natur darstellen, sondern eine degenerierte Form der Natur.

Im frühen Mittelalter kennt Johannes Scotus Eriugena vier Formen der Natur (Über die Eintheilung der Natur, 9. Jahrhundert) : Eine Form, die schafft und nicht geschaffen wird; eine Form, die geschaffen wird und schafft, eine dritte Form, welche geschaffen wird und nicht schafft und eine vierte Form, welche nicht schafft und nicht geschaffen wird. Die vierte Form erklärt er für unter die Unmöglichkeit fallend. Meines Erachtens haben wir heute eine solche Form der Natur realisiert. Sie ist nicht geschaffen, hat deshalb auch keine Verbindung mehr zum Schöpfungsprinzip und zur Schöpfungskraft, und sie ist nicht schaffend, sie erzeugt nichts neues Geschaffenes. Man könnte sagen in einer solchen Perspektive hat die ganze neue technische Wirklichkeit keine Existenz.

Eine Weiterentwicklung der Natur (und des Menschen) ist aus einer solchen Technik nicht zu erwarten. Auch nicht die Rettung des Lebenszusammenhanges der Erde. Eine solche Technik kann immer nur abbauen und insofern bewusstseinserzeugend wirken, aber in keiner Weise (neues)Leben erzeugen!

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Erste Ansätze einer neuen Natur/Technik

Mit den Landwirten in seiner Umgebung hat Rudolf Steiner 1924 in einem Versuchsring und in einem Landwirtschaftlichen Kurs erste Versuche begonnen, die die Ernährung und die Entwicklung der landwirtschaftlichen Betriebe gleichermaßen fördern sollten. Zu diesen Versuchen gehörte auch die Entwicklung der sogenannten Präparate. Die Präparate werden in einem ‚offenen‘ Prozess, d.h. im natürlichen und kosmischen Kraftgeschehen, durch den Menschen in eine neue Form und in ein neues Leben überführt. Der Mensch handhabt als Vermittler irdische und kosmische Kräfte – er kann empfindend und wahrnehmend an und in den Lebensprozessen, die er so anregt, dabeibleiben. Eine ähnliche technische Substanzentwicklung, aber in der heutigen Zeit, kann in dem Projekt ‚Mistelform‘ der Forschungsstelle für Psychologie DELOS und der Firma Sonett angeschaut werden. (siehe delos-forschungsstelle.de)

Ein Gedanke zu “Von der alten Technik zur neuen Natur des Ich

  1. Nachtrag: Es ist ein schlimmer Verdacht, der jetzt gegen den Chempark-Betreiber Currenta erhoben wird: Nach der Explosion im Juli soll Currenta giftige Abfälle in den Rhein geleitet haben.
    Das haben Recherchen des WDR ergeben, die am Freitag (17. Dezember) veröffentlicht wurden.
    Demnach habe Currenta Sonderabfälle und Löschwasser nach der Explosion über ein Klärwerk in den Rhein geleitet. So sei unter anderem das in Deutschland verbotene Insektengift Clothianidin in das Gewässer gelangt. Spuren davon wurden sogar schon in den Niederlanden nachgewiesen.

    https://www.express.de/nrw/chempark-leverkusen-currenta-leitete-giftstoffe-in-den-rhein-82931?cb=1641064636085

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