Die Empfindung des Schicksals- Reloaded

Im Jahr 2011 ist das Buch ‚Die Empfindung des Schicksals‘ erschienen (Verlag Freies Geistesleben). Jetzt hat Wolf-Ulrich Klünker begonnen aus dem Buch vorzulesen und es gleichzeitig aus heutiger Sicht zu erläutern. (Auf der DELOS Webseite sind inzwischen 48 Folgen zu hören) Das ist ein interessantes Format, weil im Vorlesen und Kommentieren die Entwicklung von 2011 bis heute deutlich wird, z.B. dadurch, dass Vieles, was damals noch sehr kompliziert klingt, heute schon wesentlich einfacher erläutert werden kann. Ich habe dieses Buch damals sehr intensiv durchgearbeitet und auch besprochen ( Wochenschrift) und ich hatte den Eindruck, es wird für die anthroposophische Szene darauf ankommen, ob sie den Entwicklungsschritt bemerkt und mitgeht, der mit diesem Buch gegangen wird. Im Großen und Ganzen hat sie es nicht bemerkt und ist stattdessen in einer Vergangenheitsfixierung hängengeblieben. Dies hat für sie die entsprechenden Folgen gehabt, die mir schon 2011 deutlich waren: Ihr Inhalt besteht aus vergangenem Geistesleben, das gegenwärtige ist in ihr nicht mehr zu Hause. Das mag erst einmal arrogant klingen, aber es geht um eine lebensnahe geisteswissenschaftliche Menschenkunde der Gegenwart (und der Zukunft) und diese lässt sich nicht allein aus der Exegese der Vergangenheit gewinnen! Ein wenig klingt dieses Motiv schon in meiner Rezension von 2011 durch, weshalb ich sie aus diesem Anlass hier noch einmal veröffentliche.

Update 21.4.2022: Inzwischen habe ich bemerkt, dass ich hier meinen Entwurf veröffentlicht habe, der sehr viel umfänglicher noch die geistesgeschichtliche Entwicklung nachzeichnet. Ich stelle die dann tatsächlich erschienene Rezension hier als PDF dazu!

Eine Anthroposophie der Gegenwart (2011)

Zum Erscheinen des Buches ‚Die Empfindung des Schicksals‘ von Wolf Ulrich Klünker

Es gibt wenig geisteswissenschaftliche Forschung der Gegenwart. Es mangelt geradezu an solcher Geisteswissenschaft. Vor allem angesichts der Überfülle technizistischer Wissenschaftsforschung, muss einem Angst und Bange werden, dass so wenig geisteswissenschaftlich geforscht wird. Geisteswissenschaft ist notwendig, damit sich der Mensch als Mensch selbst finden kann. Ohne sie könnte er sich verloren gehen. Schlimmer noch, er würde es möglichweise gar nicht bemerken, dass er sich schon längst verloren hat. Es würde dann als menschlich gelten können, was aus geisteswissenschaftlicher Perspektive doch als unmenschlich zu erleben wäre. Geisteswissenschaft und Menschsein gehören nahe beieinander. Vielleicht ist es deshalb so schwierig heute überhaupt einen Begriff davon zu  bekommen, was gegenwärtige Geisteswissenschaft sein könnte, weil auch das sich selbst verstehende Menschsein heute schwierig ist.

 Im 13. Jahrhundert hat Albertus, der später dann der Große genannt wurde, ein erstes Kapitel einer Anthroposophie aufgeschlagen, indem er ein Werk seiner geisteswissenschaftlichen Forschung  ‚De homine – Vom Menschen‘ nannte. Dies war wissenschaftlich bis dahin eher unüblich.  Albert schreibt dann auch in der Einleitung, dass er den Menschen selbst zum Gegenstand der Untersuchung machen will. Seine Forschung hat insbesondere den Zusammenhang zwischen Seele und Leib im Blick. Er endet mit dem Satz: „Zu der letzten Frage muß man sagen, dass aus dem Körper und der Vernunftseele ein Mensch durch die Zusammensetzung entsteht, durch die das Vermögen (potentia) mit dem Akt (actus) zusammengesetzt wird.“ Es ist also nicht sicher, ob aus Körper und Vernunftseele  e i n  Mensch entsteht, bzw. ob ein Mensch weiter als ein Mensch besteht. Es hängt anscheinend davon ab, ob der Körper als Möglichkeit und die (Vernunft)Seele als Wirklichkeit in richtiger Weise zusammengesetzt werden. Albertus spricht im 13. Jahrhundert implizit von einem Entwicklungsverhältnis zwischen Körper und Vernunftseele. In diesem Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit entsteht der Mensch immer wieder neu als ein Mensch. Und dieses kleine Wörtchen ein deutet in die Zukunft der Frage nach  Identität  und Kontinuität eines Ich, das weder leiblich noch seelisch wirklich zu identifizieren ist, sondern in dieser Entwicklungsspannung lebt. Alberts Schüler Thomas, konnte dann dieses Entwicklungsverhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit in der ‚Einheit des Geistes‘ auf die Ich-Tätigkeit beziehen und so zu einem denkbaren und empfindbaren Ich-Begriff kommen. „Das ICH ist aus Möglichkeit und Wirklichkeit zusammengesetzter Geist, während das Sein für mich (das Bewusstsein) aus dem besteht, was in Wirklichkeit ist.“[1]

Es kann sofort deutlich werden, dass die Geisteswissenschaft in den Formulierungen des Mittelalters im Verhältnis zu unserem gegenwärtigen Selbsterleben noch sehr ‚vorgeburtlich‘ wirkt. Dem geistigen Begriff entspricht noch kein seelisches Erleben und Leben. Und trotzdem hat die Begriffsentwicklung von Albertus und Thomas bis heute Gültigkeit, ja kann vielleicht sogar erst heute aus aktueller geisteswissenschaftliche Bemühung tiefer erfasst werden als es beiden zu ihrer Zeit möglich war. Wie ist dieses untergründige Entwicklungsverhältnis von früherer geistiger Wissenschaft und heutiger aktueller Begriffsbildung zu verstehen? Worin ist die Entwicklung  zu sehen? Thomas zitiert in der ‚Einheit des Geistes‘ Aristoteles: “denn stets existiert im Nachfolgenden das Frühere in der Möglichkeit (potentia).“ Geisteswissenschaft beinhaltet in sich selbst diese Entwicklung: Wirklichkeit wird im  irdischen Geschichtsverlauf zur Möglichkeit. Aber in dieser Form existiert sie weiter und ist für die aktuelle Wirklichkeit notwendige Möglichkeit. Einen Schritt tiefer noch hat Hegel diesen Prozess untersucht, indem er ihn konkreter noch auf den Menschen bezogen hat. “ Es ist in der Bestimmung der geistigen Entwicklung angegeben worden, dass sie wesentlich nicht bloß ein untätiges Hervorgehen ist, wie wir es uns unter dem Hervorgehen z.B. der Sonne, des Monds usf. vorstellen, ein bloßes Bewegen in dem widerstandslosen Medium des Raumes und der Zeit, sondern Arbeit, Tätigkeit gegen ein Vorhandenes, Umbildung  desselben.  Der Geist geht in sich und macht sich zum Gegenstand; und die Richtung seines Denkens darauf gibt ihm mittelbar Form und Bestimmung des Gedankens. Diesen Begriff, in dem er sich erfaßt hat und der er ist, diese seine Bildung, dies sein Sein, von Neuem von ihm abgetrennt, sich zum Objekte gemacht, und von Neuem seine Tätigkeit darauf gewandt, so formiert dies Tun das vorher Formierte weiter, gibt ihm mehr  Bestimmung, macht es bestimmter, in sich ausgebildeter und tiefer.“ (Vorlesungen über die Geschichte Bd. III S. 509). Hegel  sieht den Zweck geistiger Entwicklung in einer Tätigkeit, die dem Vorherigen mehr Bestimmung gibt, es in sich ausgebildeter und tiefer fassen kann. Damit wird natürlich auch der Tätige in sich bestimmter und tiefer in der Selbsterfassung. Voraussetzung dafür ist aber ein Geistiges, das als Möglichkeit schon Anlage für eine solche Vertiefung bietet. Ein Geistiges, das zur Möglichkeit werden kann. Noch ungeklärt ist dabei, wie dieser Prozess geschieht. Hegel ahnt aber, dass das vorherige Geistige in dem gegenwärtigen Geist lebt. Das vorherige Geistige lebt als ein tiefer bestimmter Begriff. Deshalb befriedigt den aktuellen Geist jene Geistigkeit nicht mehr. „Was er in ihr finden will, ist dieser Begriff, der bereits seine innere Bestimmung und die Wurzel seines Daseins ausmacht; er will sich selbst erkennen.“ (ebd. S.516) In solchen Versuchen Hegels kann man durchaus eine Intention bemerken eine Verbindung zwischen Geist und Leben, eine Vertiefung und Konkretisierung des Geistes im Leben denken und erleben zu können. Aber diese Intention ist schon/noch mehr Möglichkeit als Wirklichkeit. Die Zeit gibt eine solche Denkweise und ein solches Selbsterleben noch nicht her. „Jede Philosophie eben darum, weil sie Darstellung einer besonderen Entwicklungsstufe ist, gehört ihrer Zeit an und ist in ihrer Beschränktheit befangen.“(S.516) Aber eben dieses Bemerken der Geschichtlichkeit des Geistes und der damit menschlicheren Dimension seiner Entwicklung ist bis in die Sprachbildung zu bemerken.

In einer Formulierung Rudolf Steiners aus dem Januar 1925 wird deutlich, wie konkret sich die Frage Hegels  in ihm weiter entwickelt hat: „Der Mensch denkt in denselben Kräften, durch die er wächst und lebt. Nur müssen diese Kräfte, damit der Mensch zum Denker wird, ersterben. Da ist der Punkt, wo ein rechtes Verständnis darüber aufgehen kann, warum der Mensch denkend die Wirklichkeit erfasst. Er hat in seinen Gedanken das tote Bild dessen, was ihn aus der lebensvollen Wirklichkeit selber bildet.“(GA26 S.204) Der Hegel’sche Geist hat sich in das Leben hineingeopfert, nur durch diesen Vorgang vertieft er sich, individualisiert er sich, wird seelisch und damit persönlich. Selbstbestimmung im aristotelischen Sinne geschieht nicht nur im Denkvorgang, sondern auch in der Entwicklung zur Lebenskraft. Der ‚alte Begriff‘ ist tatsächlich zur Wurzel des gegenwärtigen Daseins geworden. Damit ist der Schritt zu einem Verständnis der Entwicklung menschlicher Individualität über eine Erdenexistenz hinaus möglich. Reinkarnation und Karma werden denkbar nicht als ‚Seelenwanderung’ in einen zufälligen anderen Leib, sondern als Seelenentwicklung, indem der Begriff, die Begriffstätigkeit des einen Lebens Konstitutionsgrundlage eines neuen Lebens wird.  Auch die Frage der Scholastik, wie sich Leib und Denkseele in Möglichkeit und Wirklichkeit zusammensetzen zu einem Menschen, erfährt eine Konkretisierung. In der Anthroposophie Rudolf Steiners kommen Ich und lebendiger Leib  sich in einem umfassenden Entwicklungsbegriff  nahe wie es zuvor noch nicht möglich war. Doch auch für die Anthroposophie der Zeit Rudolf Steiners gilt, dass die eigene Erkenntnistätigkeit wiederum der Veranlagung neuer konstitutioneller Möglichkeiten dient, die in dem veranlagenden Leben selbst nur ansatzweise schon zu realisieren sind. Insofern ist die Anthroposophie  jener Zeit inhärent die Vorbereitung ihrer eigenen Erfüllung oder Ausgestaltung.[2] Denn die anthroposophische Begriffstätigkeit einer ersten Stufe bedarf aus ihrer eigenen Logik heraus einer zweiten ‚Lebensstufe‘ in der sie zu einer solchen Ausgestaltung und Erfüllung der angelegten Skizze werden kann. Damit lebt eine Anthroposophie der Gegenwart in einer doppelten Schwierigkeit. Sie kann nicht die lineare Fortsetzung ihrer selbst sein. Das widerspräche ihrer Entwicklungsintention. Eine erste Aufgabe einer solchen weiterentwickelten Anthroposophie besteht sicherlich in einer Selbstidentifizierung in einer Bewusstseinsschicht, die dem Denken nicht direkt zugänglich ist. Denn  Anthroposophie der Gegenwart ist weniger als Weltanschauungsproblem  zu verstehen, vielmehr als umfassende Resonanz- und Schicksalswirkung ihrer selbst und ihrer eigenen Zeit im Leben. Wie komme ich also gegenwärtig zu Begriffsbildungen, die diese Lebensfolgen mit einbeziehen können?

In drei grundlegenden Entwicklungsperspektiven hat Wolf-Ulrich Klünker eine solche Begriffsbildung versucht. In ‚Die Erwartung der Engel‘  (2003) wird der Geistselbst-Bezug des Menschen aktualisiert. „Die Ausbildung geistiger Individualität meint eine Persönlichkeitsentwicklung, die existentiellen Charakter besitzt, weil sie an die Grenzen des Ich und des Schicksals anstößt. Es kommt zu einer Ich-Berührung von innen und außen, auch indem Schicksals- und Leidenssituationen in das Bewusstsein treten.“[3] Die Vertiefung und Verinnerlichung der bisherigen Begriffsversuche menschlicher Individualität und ihrer Entwicklung bei Albertus, Thomas, Hegel und Steiner kann in solchen Formulierungen spürbar werden. Für eine solche gegenwärtige Anthroposophie scheint es auch eine Entwicklung des Übungsgeschehens zu geben, wie in diesem Buch deutlich werden kann. Sehr nahe beinander liegen begriffliche Zusammenhangsbildung, Verstehen und übender Umgang in der Wahrnehmungssituation des alltäglichen Lebens. Die Nähe von Denken, Wahrnehmen und Empfinden zeichnet die Wirklichkeitsschicht aus, die Wolf-Ulrich Klünker in diesem Buch erschließt. In ‚Die Antwort der Seele‘ (2006) geht es um einen neuen Seelenbegriff auch im selbst-therapeutischen Sinn. Auch hier geht es um die Entwicklung der Seele durch die neue Geistselbstbeziehung des Menschen. Was bedeutet es für seelische Erscheinungen wie Angst, Depression usw. wenn sie nicht mehr als Wirkungen einer problematischen Vergangenheit gedeutet werden, sondern  ihre Ursache in der Berührung mit meiner geistigen Zukunft erlebt werden können? In einer dritten Perspektive wird die Entwicklung von Biografie und Karma im 21. Jahrhundert untersucht. ‚Die Empfindung des Schicksals‘ (2011) ist der anspruchsvolle Versuch das Erwachen des Ich im Schicksal zu beschreiben und ein solches Erwachen gleichzeitig damit zu ermöglichen.

Eigentlich geht es immer noch um die alte Grundfrage aus dem 13. Jahrhundert, wie sie Albertus aufgestellt hat: Wie ist die Zusammensetzung zwischen Körper und Vernunftseele, wenn der Körper als Möglichkeit angesehen wird, und die Vernunftseele als Wirklichkeit.[4] Wie berühren sich Möglichkeit und Wirklichkeit im Menschen so, dass daraus  e i n  Mensch wird?  Wie existiert im Nachfolgenden das Vorherige? Die Vergangenheit hatte was diese Fragen anging eine deutlich ‚idealistische‘ Überbetonung des Bewusstseins. Die Gegenwart verlangt nach einer anderen Gewichtung.  Denn zur Identifizierung  eines individuellen Vorherigen im  individuellen Nachfolgenden reicht es nicht aus, den allgemeineren Begriff gegenüber dem Bestimmteren zu erkennen. Es müsste vielmehr nachvollzogen werden, wie die begriffliche Bewusstseinstätigkeit sich in das Leben vertieft hat. Ein solches Nachvollziehen kann aber schwerlich als ‚Erinnerung‘ geschehen. Es müsste im jetzigen Leben eine Bewusstseinstätigkeit vollzogen werden, die im Leben die eigene frühere Bewusstseinstätigkeit freilegt. Denn nur dadurch würde  sich auch eine Lebensentwicklung vollziehen können, die aus neuen Bewusstseinsentwicklungen impulsiert wird. Man könnte auch probeweise formulieren: In dem jetzigen Übergang von Bewusstseins- und Lebensprozessen kann auch der vorherige Übergang von Bewusstsein in Leben aufwachen. In diesem Übergangsbereich werden unbewusste Lebensprozesse zugänglich, und bewusste Denkprozesse lebenswirksam. Einen solchen Übergangsbereich hat Wolf-Ulrich Klünker (in einer aktuellen Anknüpfung an Hegel) im Selbstgefühl gefunden und untersucht.

Eine weitere Entwicklung kann in jenem Übergangsbereich des Selbstgefühls aufwachen: Die Beziehung meiner jetzigen Bewusstseinslage zu einer Lebensentwicklung einer vorangegangenen Inkarnation. Versucht man eine solche Entwicklung mit vorstellenden Denkkräften zu verfolgen kann man deutlich eine Art Dunkelzone bemerken, die eben gerade nicht linear mit dem Bewusstsein zu durchqueren ist. Der Übergang von Bewusstsein  in Leben, wie der entsprechende von Leben in Bewusstsein, ist jeweils mit einer  völligen Auflösung der bisherigen Verhältnisse verbunden. Diese Auflösungssituation führt zu einer Umwendung der bisherigen Verhältnisse von Ursachen und Wirkungen. Wirkungen werden hier zu Ursachen umgeformt. Anders wäre Entwicklung nicht möglich. Rudolf Steiner hat diesen Bereich mit dem imaginativen Begriff ‚Weltenmitternacht‘ deutlich charakterisiert. Der Übergangsbereich des Selbstgefühls scheint insofern einen Bezug zu jener Weltenmitternacht zu haben, als  auch er die Verhältnisse von Bewusstsein und Leben aneinander zu Bewusstsein und Leben kommen lässt. Auch  dieser Vorgang vollzieht sich ‚über Kreuz‘. Bewusstsein wird Leben; Leben wird Bewusstsein. Es kann schon  aus diesen kurzen Skizzierungen deutlich werden, welch entscheidende Rolle das Selbstgefühl in einer gegenwärtigen Esoterik des Ich spielen könnte. „Der Berührungspunkt von Bewusstsein und Leben liegt im gegenwärtigen Selbstgefühl, und alle karmischen Eindrücke und Erkenntnisse können nur aus dem Selbstgefühl des Ich hervorgehen und dort bemerkt werden.“ (S.24)

Das Selbstgefühl selbst muss dafür eine Entwicklung vollzogen haben, die es berechtigt erscheinen lässt, es als Selbstgefühl des Ich anzusprechen. Voraussetzung für eine solche Individualisierung des Selbstgefühls ist eine Entwicklung der Bewusstseinskräfte des Menschen, wie sie im 20. Jahrhundert stattfinden konnte. Die Möglichkeit dafür liegt sowohl in den eher hintergründigen Lebenswirkungen der Anthroposophie selbst, aber auch in den Schicksalswirkungen der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Wirkungen können zusammengefasst als eine gewisse Emanzipation des Ich-Bewusstseins von seinen gegebenen Lebensvoraussetzungen bezeichnet werden. Man kann in dieser Bewegung eine Verinnerlichung der geistigen Kraft sehen, die bisher in den Lebensvoraussetzungen des Menschen (einschließlich der ihn tragenden Naturzusammenhänge) wirkte. Es handelte  sich dabei um eine ‚Entleerung‘ der äußeren Verhältnisse von geistiger Bestimmung und im Gegenzug um eine mögliche Verstärkung der inneren geistigen Kräfte. Die Anthroposophie Rudolf Steiners hat diese Entwicklung bemerkt und ergriffen.  In ihr konnte sich eine erste Voraussetzung zur Bildung einer Ich-Form des Gefühls realisieren: die Distanzierung von den bisherigen ‚automatischen‘ Gefühlskräften. Dadurch wird das Erleben gereinigt von den  Vorbestimmungen des Bewusstseins; und das Denken unwirklich, aber freier von den Implikationen des Gefühls. Ein zweiter Schritt besteht dann darin, dass das Ich, bei  ausreichender Kraft, die getrennten Seiten wieder zu einer Berührung zusammenführen kann in einem neuen Selbstgefühl des Ich, das damit auch über das Ich selbst aussagefähig wird.

In dieser Wirklichkeitsempfindung des Ich zu sich selbst in seiner Entwicklung über die einzelne Inkarnation hinaus, liegt die gewissermaßen therapeutische Wirkung  eines Selbstgefühls, in dem meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft zusammenkommen können zu einem Individualitätsgefühl als tragender Grundlage des Ich. Ein zeitgemäßes Verständnis von Reinkarnation und Karma dient insofern weniger retrospektiven Erkenntnisinteressen, als vielmehr gegenwärtiger Wirklichkeitsschaffung im Jetzt. Denn ob ich eine individuelle, das heißt ichgetragene Wirklichkeit erleben kann, hängt davon ab, ob ich in meinem Selbstgefühl jetzt in einen Anschluss an meine eigene Entwicklung kommen kann. Denn dieses Erleben entscheidet darüber ob ich aus dem ‚geistigen Instinkt des Ich‘ heraus meine Entwicklung gestalte, oder ob ich diese Gestaltung an äußere objektivere ‚Instinkte‘ delegieren muss, weil mir der Zugang zu mir selbst fehlt. Aus dem Selbstgefühl heraus entstehen für das Ich Licht- und Lebenswirkungen, die mit diesem Ich vereinbar sind, die ihm entsprechen. „Die karmischen Voraussetzungen erklären nicht mein Selbstgefühl und meine Empfindung, sondern Empfindung und Selbstgefühl erhellen meinen Schicksalszusammenhang.“ (29) Das Selbstgefühl  und die Empfindung des Ich geben dem Ich eine Empfindung für Schicksalsrealität und ihm damit einen eigenen Wirklichkeitsbezug. Es ist naheliegend diese Wirklichkeit als Herzenswirklichkeit zu erleben. „Der Herzschlag, genauer formuliert der Ruhepunkt zwischen zwei Herzschlägen ist die momentan-aktuelle Situation und Wirklichkeit des Überkreuzungspunktes von Bewusstsein und Leben. Dieser Ruhepunkt zwischen zwei Herzschlägen ist unmittelbar das Jetzt, die Wirklichkeit des Gefühls; und in diesem Jetzt koinzidiert das ätherische Zeitensein, wirkt die karmische Wirklichkeit des Ich und die individuelle Realität des Leibes – die geistige Wirklichkeit des Ich, seine seelische Realität im Gefühlserleben und seine individuell-physische Ausprägung in Gesundheit und Krankheit des Leibes sind in dem Ruhepunkt zwischen den Herzschlägen anwesend.“(34) Dies bedeutet, wenn ich für den Lebensaugenblick immer mehr erwache, indem ich im Lebensgefühl präsent bin, erwache ich auch immer mehr für die karmische Realität im Jetzt.

Wolf-Ulrich Klünker legt in diesen dicht gewebten Untersuchungen selbst die Grundlage für den Übergang der Anthroposophie von einer „Esoterik der Lehre zu einer Esoterik der Empfindung“. Dabei unterschätzt er nicht die Gefahren einer ‚problematischen Gefühlsabhängigkeit“ einer solchen Entwicklung. Wichtig ist deshalb der Zusammenhang der geisteswissenschaftlichen Entwicklung mit der Entwicklung des Selbstgefühls. Erst ein Gespür für den Übergang der Geisteswissenschaft in das Selbstgefühl „erhebt das Selbstgefühl aus der Sphäre des rein Subjektiven“ zu einer Esoterik des Ich. Es ist wichtig sich klarzumachen: Die eigene Sensibilität des Selbstgefühls ist ‚Kraftwirkung‘ eigenen Geisteslebens, das dieser Sensibilisierung vorangegangen ist. Insofern liegt eine wichtige Aufgabe  gegenwärtiger Geisteswissenschaft und Menschenkunde darin, den Zusammenhang von eigenständiger ‚Erkenntnisorientierung‘ und Denkpraxis und der darin sich entwickelnden ‚Lichtfähigkeit‘ des Ich zu bemerken und darzustellen. Der Autor meint allerdings ein selbständiges Denken, das eigene und neue Zusammenhänge bildet, das einfache Nachdenken, selbst schwieriger Gedankeninhalte reicht nicht aus. Denn es geht um die Ausbildung der Empfindung, die sich als Wahrheitsgefühl in solchen eigenständigen Denkversuchen entwickeln kann.

Die Empfindung des Schicksals ist keine rezeptive Empfindung. Sie kann eine lebensorientierende  und lebensschaffende Empfindung werden, die das Ich in andere Wirklichkeitsverhältnisse stellt und damit die Wirklichkeit in Ich-Verhältnisse bringt. Dies betrifft das Verhältnis zu Natur und Welt, das Verhältnis zum eigenen Leib und das Verhältnis zu anderen Menschen (seien sie lebend oder verstorben). Klünker spricht davon, dass das Entstehen von neuen zwischenmenschlichen Empfindungsräumen zu einer ‚sozialen Michaelisierung‘ führen könnte, in dem Sinne, „dass der Wille, der mich mit anderen Menschen verbindet, empfindungsfähig wird.(…) „Aber dieser Wille tritt eben als „Gefühl“ auf und diese Empfindung erlaubt neue intuitive Fähigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang. Es ist so, als würden sich die zwischenmenschlichen Empfindungen zu einer Intuitions-Einheit zusammenschließen, wo sie sich früher widersprechend oder sich gegenseitig ausschließend, zumindest uneinheitlich waren. Eine solche intuitive Empfindung  wirkt im Unterschied zum eher massiven oder zupackenden sozialen Willen mehr untergründig, mehr über den zwischenmenschlichen Stimmungsbereich. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, statt konkreter Handlungen oder „Umsetzungen“ von Intentionen gingen aus diesem intuitiven Gefühl leichte magische Wirkungen hervor, mit zwischenmenschlicher Koordinierung, Strukturierung, Ausrichtung.“ Man kann bemerken wie umfassend die Empfindungswirkung des Schicksals gedacht ist, und man kann beim Erarbeiten des Textes bemerken, dass dieser selbst durch seine Formung in diese Wirklichkeitsschicht beim Leser hineinwirkt.

In vierzehn Anläufen (die hier nur angerissen werden konnten) und einem Ausklang in Zeugnissen erarbeitet der Autor sein Thema in immer neuen Perspektiven. Man kann den Eindruck haben, dass jede Betrachtung eine ganz eigene Wirklichkeitsschicht des Themas erarbeitet. Wobei sie sich gegenseitig beleuchten – mehr in einem Kreisgeschehen, als in einer linearen Fortsetzung. Die Art der Gedankenführung führt zu einer Verdichtung des eigenen Denkens und gleichzeitig zu einer starken Willensanregung eigene Zusammenhänge zu bilden. Dabei ist die Sprache und Begrifflichkeit nahezu voraussetzungslos. Alle Begriffszusammenhänge werden im Buch selbst hergestellt. Mit diesem Buch, mit diesem Thema und mit dieser Art der Darstellung ist Anthroposophie in der Gegenwart angekommen und ist gleichzeitig zukunftsfähig geworden. Man kann froh sein über einen solchen Beitrag zu einer Geisteswissenschaft, die dem Menschen der Gegenwart helfen kann sich selbst in seinem individuellen Ich-Sein zu finden.

Roland Wiese


[1] Interessanterweise liegen beide Aussagen erst seit einigen Jahren als deutsche Übersetzung vor. ‚De homine – Über den Menschen‘, seit 2004 (bei Meiner), ‚Die Einheit des Geistes‘ seit 1987 (Freies Geistesleben). Thomas bezieht sich in seinem Ich-Begriff wiederum auf Themistios, den neuplatonischen Aristoteles Kommentator, den er an dieser Stelle zitiert (4. J. n. Chr.).

[2] So Rudolf Steiner selbst in den letzten Karma-Vorträgen Bd.III  Juli 1924– eine solche zweite Stufe wird von ihm für das Ende des 20. Jahrhunderts als möglich prognostiziert. Er spricht von ‚Vorbereitung‘ und ‚Ausgestaltung‘.

[3] Wolf-Ulrich Klünker, Die Erwartung der Engel, 2003 Stuttgart S. 94

[4] Was wir heute im Alltagsbewusstsein wahrscheinlich eher umgekehrt erleben würden.

3 Gedanken zu “Die Empfindung des Schicksals- Reloaded

  1. „Der Hegel’sche Geist hat sich in das Leben hineingeopfert“…nicht ganz angenehm und einfach.
    In der Magersucht, die ich während meiner Kind- und Jugendzeit in der Familie täglich miterlebt habe, drückt sich in reinster Weise aus, genau dieses zu vermeiden. Ganz Geist bleiben!

  2. Schön das Vorlesen und die Erläuterungen zu dem Buch. Ich muss mir gelegentlich ein neues kaufen, meins besteht nur noch aus einzelnen Seiten…aber wahrscheinlich auch nicht besser gebunden.

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