Angelologie und Anthropologie

Ich-Entwicklung: peripheres und zentrales Ich

Am 8.Juli hatten wir ein weiteres Arbeitstreffen zur Frage ‚Ich-Entwicklung begleiten‘. Zu der Gruppe gehören Menschen, die im Rahmen von ‚Maßstab Mensch‘, also im weitesten Sinne sozialtherapeutisch tätig sind. Diese inhaltliche menschenkundliche Arbeit ist gewissermaßen eine Art Parallelstrang, der sich neben der Entwicklung der Fachstelle mit den Kooperationspartnern als notwendig gezeigt hat.

Der folgende Beitrag ist kein ‚Protokoll‘ unseres Treffens, sondern ein eigenständiger inhaltlicher Versuch, das dort behandelte Thema zu erweitern und zu vertiefen. Er ist gleichzeitig ein exemplarisches Beispiel für den Zusammenhang von peripheren Berührungen und zentralen eigenen Bewegungen, die durch die Berührungen angeregt werden können. Denn kurz vor unserem Treffen hatte es ein Treffen in Alfter einer kleinen Arbeitsgruppe mit Wolf-Ulrich Klünker und Ramona Rehn gegeben, in dem die Beziehung peripher – zentral das Thema war, und zeitgleich ist auch ein Aufsatz mit dem Titel ‚Wille und Bewegung‘ in der Vierteljahreschrift ‚Anthroposophie‘ erschienen, in dem der Begriffszusammenhang zentrales und peripheres Ich erstmalig explizit behandelt wird. Insofern sind auch meine Bewegungen in diesem Thema, ausgehend von Wolf-Ulrich Klünkers und Ramona Rehns Grundlagenbildungen, noch tastende Versuche in einem neuen Feld. Sie basieren auch auf den Erfahrungen, die wir im ‚Umkreis‘ in den letzten 35 Jahren machen konnten. ‚Umkreis‘ als Milieu für Ich-Entwicklung im weitesten Sinne gemeint. (Siehe auch den Beitrag zum Umkreis Gespräch auf umkreis.org)

Angelologie und Anthropologie

„So wird im Laufe der Bewusstseinsgeschichte aus einem Gegenstand der Engellehre, der Angelologie, ein Gegenstand der menschlichen Selbsterkenntnis, der Anthropologie, wo früher das Geistwirken des Engels erkannt wurde, wird nun menschliche Erkenntnistätigkeit wahrgenommen.“ (W. U. Klünker – Einleitung zur Übersetzung Thomas v. Aquin – Vom Wesen der Engel, Stuttgart 1999, S.17)

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Ich-Entwicklung und Bewusstseinsgeschichte

Es mag für den heutigen Leser befremdlich klingen, wenn ein Aufsatz mit ‚Engellehre und Menschenkunde‘ betitelt ist. Für mich ist in diesem Fall dieser spezifische Zusammenhang aber notwendig, weil nur so eine geistesgeschichtliche sinnvolle Entwicklungsfigur für die menschliche Entwicklung aufzuzeigen ist. Eine Entwicklungsfigur, die grundlegend mit der Frage der Ich-Entwicklung verbunden ist. Es geht also um einen Entwicklungsbegriff für das Ich, der seinen Inhalt daraus bezieht, dass das Ich Aufgaben, Funktionen, Verantwortung für Bereiche übernehmen soll/kann, für die es bisher noch nicht zuständig war. Um solche Bereiche zu identifizieren, muss man aber zwangsläufig ‚Bewusstseinsgeschichte‘ und ‚Geistesgeschichte‘ betreiben, muss  man also schauen, ob und wie sich im Verlauf der Geschichte Veränderungen für das Ich finden und aufzeigen lassen.  Dabei kann man wie nebenbei auch ein grundlegendes Prinzip von Entwicklung bemerken, sie realisiert sich als Wille immer in das noch Unbekannte hinein, und ist meist erst nachträglich bewusstseinsfähig als Entwicklungszusammenhang.

Einen solcher Zusammenhang zeigt sich rückwärts in dem, wovon das Zitat oben spricht. Im frühen Mittelalter wurde das Denken des Menschen noch dem Engel zugesprochen. Wolf-Ulrich Klünker hat diese Beziehung von Mensch und Engel im Denken in seinen ersten Veröffentlichungen ausführlich untersucht (Johannes Scotus Eriugena – Denken im Gespräch mit dem Engel, Stuttgart 1988). Schon in dieser, immer wieder als geschwisterlich charakterisierten Beziehung im Denken wird deutlich, dass Engel und Mensch in der Entwicklung miteinander verbunden sind und auch voneinander abhängig. „Wenn du die wechselseitige Verbindung und Einheit der geistigen und vernünftigen Naturen aufmerksam betrachtest, so wirst du in der Tat finden, dass sowohl das Wesen des Engels in dem menschlichen Wesen, als auch das menschliche in dem des Engels begründet ist.“ (J.S. Eriugena, ebd. S. 10) Die Art dieser Beziehung zwischen Engel und Mensch ist nicht einfach zu denken. Denn sie ist eben nicht durch eine einfache Entweder/ Oder Seinsweise charakterisiert, sondern sie oszilliert je nach Perspektive. „Denn der Engel entsteht im Menschen durch den Geist des Engels, der im Menschen ist, und der Mensch entsteht im Engel durch den im Engel gegründeten Geist des Menschen.“ (ebd. S.10) Was formuliert Johannes Scotus Eriugena hier im 9. Jahrhundert eigentlich? Er ist in der Lage eine präzise Beschreibung der Beziehung von Engel und Mensch zu geben, ja er gibt sogar gewissermaßen eine Methodik an, wie ein solches Bewusstsein des Engels im Menschen und des Menschen im Engel zu erreichen ist und er bezieht diese Erkenntnisweise auch auf die gegenseitige Erkenntnismöglichkeit von Mensch zu Mensch. „Wer nämlich … das reine Denken vollzieht, wird in dem, was er denkt.“ Indem der Mensch den Engel denkt, denkt der Engel den Menschen – es ist eine gegenseitige Erkenntnis. Und dies gilt auch  für die Menschen: „denn auch wir selber werden, indem wir uns miteinander unterreden, gegenseitig ineinander hervorgebracht. Indem ich nämlich denke, was du denkst, werde ich dein Geist und bin auf unaussprechliche Weise in dir geworden.“ (ebd. S.10) Die Voraussetzung für eine solche Wahrnehmung ist aber sich selbst denkend zu bemerken, und nicht nur die Gedankeninhalte. Das Denken des Denkens verbindet den Inhalt des Denkens mit der Tätigkeit des Denkens. Bei Johannes Scotus führt dies zu der Entdeckung: „Der Engel ist die menschliche Geistestätigkeit, mit der er erkannt wird.“ (ebd. S.12) Die Entwicklungsperspektive für den Menschen besteht in dieser Zeit darin der umfassenderen Erkenntnisfähigkeit des Engels näher zu kommen.

Bei Thomas von Aquin, also 400 Jahre später,  hat sich dieses Verhältnis schon dahingehend verändert, dass jetzt das Denken dem Mensch selbst zugesprochen wird: „Dieser einzelne Mensch denkt (Zitat T. v. A.) (…) Kein allgemeiner kosmischer Geist, kein Engelwesen denkt im Menschen. Der Menschengeist hat sich seit der Zeit Eriugenas offenbar einen Bereich erobert, den zuvor der Engel innehatte.“ (W. U. Klünker, ebd. S.13) Im Denken ist der Mensch jetzt dort angelangt, wo früher der Engel gestanden hat. „für Thomas wirkt jetzt der Erzengel im Bereich des menschlichen Denkens und übernimmt gleichsam für den Menschen die Erkenntnis, wo dieser geistig überfordert ist. (…) Und der Engel wirkt jetzt in der <<Lenkung>> des Menschen, d.h. bei Willensentscheidungen.“ (ebd. S. 14). Die Ich-Kraft des Menschen, d.h. die Willens- und Empfindungskraft im Denken ist jetzt so stark geworden, dass er sich im Denken als Ich halten kann und bewegen kann. Und die aufzubringende Bewegungs- und Haltekraft in der totalen Denkabstraktion der hochscholastischen Begriffe sollte nicht unterschätzt werden. Thomas von Aquin realisiert und skizziert also im 13. Jahrhundert die Emanzipation des Menschen vom Engel im Denken. Er sieht dessen Aufgabe nun in der „Lenkung“ des Menschen, also in der Funktion, die allgemein als ‚Schutzengel‘ gekannt wird. Für die Zukunft wiederum sieht Thomas von Aquin auch hier eine Entwicklungsnotwendigkeit, die auch für diesen Bereich eine Emanzipation bedeutet! Ein weiterer Ausblick bei Thomas qualifiziert auch die Engelwirksamkeit in der Zukunft. Denn entweder emanzipiert sich der Mensch in der Schicksalsführung vom Engel, oder dieser wird den Menschen zunehmend als Dämon quälen. Die Engelwirkung wird immer mehr von der Entwicklung des Menschen her qualifiziert. Ein interessanter Gedanke für eine Psychopathologie und für eine zeitgemäße Angelologie. Klünker schließt seine Einleitung zu ‚Vom Wesen der Engel‘ von Thomas von Aquin mit der Perspektive ab, dass in der Engellehre des Mittelalters die Gegenwarts- und Zukunftsgestaltungen des menschlichen Geistes verborgen seien. „Ohne die Bemühung, den Geist des Engels zu begreifen, kann auch nicht verstanden werden, woher der Menschengeist bewusstseinsgeschichtlich gekommen ist und wo seine Entwicklungsmöglichkeiten in der Zukunft liegen.“ (ebd. S. 17)

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Zentrum und Peripherie im Denken

Wenn man den Geist des Engels begreifen will, wenn man  verstehen will, wie das Denken im Menschen sich entwickelt, dann ist ja eine erste Tatsache die, dass sich das Denken aus der Sinneserfahrung und Empfindung entwickelt, sprich der Mensch über seine Erfahrungen nachdenkt. So schildert es ja auch Thomas von Aquin: Erst denkt der Mensch über die Gegenstände nach, dann darüber wie er darüber denkt, dann wer da denkt. Wir haben also einen deutlichen Verlauf von außen nach innen, von der Außenwelt der Natur in die Innenwelt des Menschen. Die Natur ist Werk des Geistes und die geistigen Zusammenhänge der Natur können vom Menschen durch den Weg über die Sinneswahrnehmungen gedacht werden. So wird allmählich aus dem Werk des Geistes  menschliches geistiges Tätigsein und eine mögliche menschliche (Selbst)Erkenntnis in dieser Tätigkeit.

Es bleibt, das jeder Mensch nicht nur über die Welt nachdenkt, sondern auch seine eigene Beziehung zum Denken hat und entwickelt. Das bedeutet, dass der Mensch sich selbst dadurch bestimmt, wie er sein Verhältnis zum Denken denkt und empfindet. Auch das Denken, sprich, der Engel, bzw. die gesamte Geistigkeit der Natur ist damit in gewisser Weise abhängig davon geworden, wie der Mensch sein Denken denkt. Dabei birgt das menschliche Denken das Problem, das man es vollziehen kann, ohne seine eigene Tätigkeit zu bemerken. Vor allem, wenn man es, wie automatisch benutzt, um seinen Alltag zu regeln. Ein wirkliches Bemerken des eigenen Denkens, oder präziser der eigenen Tätigkeit im Denken wird in der Regel nur dort auftauchen, wo man an eine Grenze des Denkens kommt. Entweder, weil das bisherige Denken nicht mehr ausreicht, um den Alltag zu bewältigen, oder weil man die Grenzen seines Denkens selbst bemerkt.

In solchen Situationen kann dann die eigene ganz abstrakte Willenstätigkeit im Denken bemerkt werden, weil sie eben an eine Grenze anstößt. Ich schreibe bewusst ‚kann‘, weil an einer solchen Grenze auch alle möglichen anderen Reaktionen möglich sind. Ein ähnliche Erfahrung kann man machen, wenn man versucht mit anderen Menschen einen bestimmten geistigen Zusammenhang zu denken und dann bemerkt, dass die anderen Menschen den gleichen Zusammenhang ganz anders denken. (Wir haben dies hier in unseren Arbeitskreisen immer wieder untersucht). Obwohl das Denken für uns erst einmal als Identität von Denkendem und Inhalt erscheint, kann ich im Denken den Unterschied zwischen meiner eigenen Denkbewegung und dem Denken bemerken lernen. Mein Denken wollen als Denktätigkeit kann an einer Grenze anstoßen, man könnte auch feststellen, je feiner das Denkenwollen wird, desto mehr bemerkt es dieses Anstoßen an den eigenen Grenzen.  

Und nur durch ein solches Anstoßen wird mir das Denken in einem ersten Schritt als Tätigkeit erfahrbar. Ich empfinde den Kraftaspekt des Denkens und nicht nur seinen Inhalt. Man hat gewissermaßen eine Art Stauungsphänomen. Gleichzeitig wird an einer solchen Grenze etwas anderes erfahren. Etwas von der Objektivität des Denkens als realer Teil des Weltgeschehens. In dem Tast-Erlebnis an Denk- oder Erkenntnisgrenzen sind eigentlich mehrere Erfahrungen verborgen. Es ist zuvorderst anscheinend nur ein ‚Anstoßen‘ an etwas. Es ist aber gleichermaßen ein Berührt werden von etwas. Von der einfachen Feststellung des „Anstoßens“ an einem Widerstand, an einer Grenze kann sich das Tast-Erlebnis ausdifferenzieren zu immer feineren Unterscheidungen der Art des Widerstandes. „In dieser Art kann die Seele das Erlebnis in sich erfahren und vermannigfaltigen, das sie mit den an den Erkenntnisgrenzen gebildeten Vorstellungen hat. Sie lernt erfahren, dass diese Grenzen nichts anderes darstellen als dasjenige, was entsteht, wenn sie von der geistigen Welt berührt wird. Das Gewahrwerden solcher Grenzen wird der Seele zu einem Erlebnis, das sich vergleichen läßt mit dem Tast-Erlebnis auf dem sinnlichen Gebiete.“ (R. Steiner, ‚Von Seelenrätseln‘, S. 22)  Und je feiner und differenzierter ich an der Tastgrenze wahrnehmen lerne, desto mehr wird das Tasten zu einem Berührtwerden unterschiedlichster Art. Die Ausbildung seelisch-geistiger Kräfte führt an solchen Grenzen zu den Möglichkeiten ‚geistig-seelischen Tastens“ (ebd. S.23). Interessant ist der Übergang von der eigenen Tastbewegung an der Tastgrenze zum sich ausdifferenzierenden Berührungserlebnis.

Der Tastsinn als elementarster Sinn, geradezu Ursinn des Menschen (und des Tieres) und seine Relation zum zu Tastenden ist Ausdruck des Lebens des Menschen. Aristoteles hat in de anima III schon formuliert, dass der Mensch, bzw. das Lebewesen dann stirbt, wenn das zu Tastende die Überhand gewinnt gegenüber dem Tastenden. Das Tasten scheint die Ur-Lebensbewegung zu sein und auch die Voraussetzung dafür, weiter aus der Peripherie berührt zu werden zu können. Wolf-Ulrich Klünker betont deshalb in seinem Aufsatz ‚Wille und Bewegung‘ die Doppelbewegung und Überkreuzung, die in jedem Tastvorgang aufzufinden ist: „Indem ich den Gegenstand taste, erlebe ich mich – und zugleich kann ich den Gegenstand als Gegenstand tasten, indem ich mich an diesem Vorgang erlebe.“ (S.138) Wir finden in dieser Bewegung und Überkreuzung eine interessante Parallele zu der Bewegung zwischen Engel und Mensch bei Johannes Scotus Eriugena. Und wir finden in dieser Berührung und Übergänglichkeit auch die eigentliche Grundlage für das was wir heute ‚Bewusstsein‘ und auch in einer nächsten Stufe ‚Selbstbewusstsein‘ nennen. Die eigentliche Ursache für ‚Bewusstsein‘ und ‚Erleben‘ ist die Tasterfahrung, bzw. das Berührungserlebnis mit etwas, an dem ich zugleich mich selbst durch das Andere, und das Andere durch mich selbst erlebe. Man findet diese Tätigkeit und das dazugehörige Empfinden bis in den Organismus hinein im Stoffwechsel und in den Immunprozessen des Menschen.

(Fortsetzung folgt)

Literatur: Thomas von Aquin, Vom Wesen der Engel, Übersetzung, Einführung und Erläuterung von Wolf-Ulrich Klünker, Stuttgart 1989

Wolf-Ulrich Klünker, Johannes Scotus Eriugena, Denken im Gespräch mit dem Engel, Stuttgart 1988

Wolf-Ulrich Klünker, Wille und Bewegung, in Vierteljahreschrift ‘Anthroposophie, Johanni 2023, S. 136 ff.

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3 Gedanken zu “Angelologie und Anthropologie

  1. Ein schöner Artikel.
    Was mir etwas fehlt ,nach meiner Erfahrung, ist der Moment des absoluten Loslassens zwischen der Tastbewegung und dem Erlebnis des berührt seins.
    Im Tasten lebt, für mein Empfinden ,noch zu viel Eigenwille.
    Es braucht einen Leerraum (zurückgenommenen Willen) damit etwas geistiges hereinkommen kann ,von dem ich mich berührt fühlen kann.

    Soweit meine Wahrnehmungen.
    Herzlichen Gruß, Mechthild

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