Ich veröffentliche hier den Aufsatz von Wolf-Ulrich Klünker, weil er eine gute Zusammenfassung des Themas unseres Buches ist: Psychologie des Ich. Eine detaillierte Aufarbeitung der aristotelischen ‚Wissenschaft des Gefühls‘ findet sich auch bei Michael Krewet ‚Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles‘ (eine Dissertation, als Buch erschienen im Universitätsverlag Winter 2011), allerdings ohne die Bezugnahme auf Rudolf Steiner und die gegenwärtige Seelenlage des Menschen.
Wissenschaft des Gefühls
Forschungsperspektiven einer Ich-Psychologie
Wolf-Ulrich Klünker
(veröffentlicht in der Wochenschrift Das Goetheanum)
Jede Wissenschaft vom Menschen sieht sich mit einem zweifachen Anspruch konfrontiert: einerseits muss sie den Erkenntnisgrundlagen wissenschaftlichen Denkens entsprechen, andererseits sollte sie in der Lage sein, nicht nur auf Erkenntnisfragen, sondern auch auf existenziell tiefer gelagerte Lebensfragen zu antworten. Wissenschaftlichkeit dürfte also die existenzielle Dimension nicht ausschließen; persönliche Betroffenheit andererseits nicht jenseits wissenschaftlicher Selbstverantwortung liegen. So verbinden sich in den Wissenschaften vom Menschen, also zum Beispiel in der Psychologie und der Medizin (hier insbesondere, weil in ihnen stets auch therapeutische Bedürfnisse angesprochen sind) Erkenntnis und Leben, Wissenschaft und Selbstgefühl, und, sofern es sich um geisteswissenschaftliche Grundlagen handelt, Spiritualität und Existenzialität.
Seele als leibliche Kraft
In einer gewissen Perspektive kann man den Beginn einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Menschen im vierten vorchristlichen Jahrhundert datieren, und zwar im Werk des Aristoteles. Insbesondere seine drei Bücher „Über die Seele“ (De anima) markieren den Beginn einer wissenschaftlichen Anthropologie und Psychologie, aber auch eines Leibverständnisses, in dem Wissenschaftlichkeit und Lebensbezogenheit nicht zu trennen sind. Die menschliche Seele wird in ihrer leiblichen Dimension (anima vegitativa), in ihrer seelischen Wirklichkeit (anima sensitiva) und in ihrem ursächlichen Geistbezug (anima intellectiva) untersucht. Die wissenschaftliche Methode des Aristoteles kann als begriffsrealistisch charakterisiert werden: als ein Hervorbringen und Verbinden von Begriffen, die nicht allein eine gegebene Wirklichkeit des Menschen beschreiben. Vielmehr ergeben sich die Begriffe und ihre Zusammenhänge aus einer Partizipation am Lebens-, Seelen- und Geistprozess menschlicher Existenz. Die existenzielle Teilhabe erlebt die Begriffe nicht allein als Beschreibungen, sondern zugleich auch als Ursachenrealität menschlicher Existenz.
Diese Wissenschaft ist also per se existenziell – durch Teilhabe am Lebensprozess. Und die bewusste Partizipation gibt den Lebensprozess in seiner leiblichen, seelischen und geistigen Dimension nicht nur wieder, sondern ermöglicht bzw. begründet ihn zugleich auch. Es ist offenkundig, dass ein solches Verständnis der Wissenschaft im 21. Jahrhundert (aber auch schon im 19. und 20. Jahrhundert) kaum noch nachvollziehbar erscheinen kann – aber es steht an der Wiege der Wissenschaft. Weiterlesen