Vollkommenheit, Schönheit, Unschuld – Agnes Martin Retrospektive

P5996-0075Foto: Ellen Page Wilson, courtesy Pace Gallery © Kunstsammlung NRW

07.11.2015 – 06.03.2016
Kunstsammlung Nordrhein-Westfahlen
K20 GRABBEPLATZ

Kann man Begriffe sehen? Kann man Begriffe malen? Begriffe wie Vollkommenheit, Schönheit, Unschuld? Können gemalte Bilder eine Erfahrung von der Wirklichkeit dieser Begriffe ermöglichen? Ist eine solche eventuell mögliche Erfahrung dann eine Veranlagung für eine eigene innere Verbindung zu dieser Wirklichkeit? Und kann diese Wirklichkeit dann in der Wahrnehmung der äußeren Umgebung aufscheinen?


Agnes Martin, (1912-2004) amerikanische Malerin, hat sich mit diesen Fragen persönlich existentiell und künstlerisch auseinandergesetzt. Da sie dies konsequent, kontinuierlich und viele Jahrzehnte tun konnte, begegnet man in ihren Bildern einer reifen Substanz dieser lebenslangen Arbeit. Insofern erscheint es als berechtigt, dass sich über zehn Jahre nach dem Tod der Malerin vier große Museen zusammengetan haben um eine große und umfassende Retrospektive dieser Lebensleistung zu zeigen (Tate Modern, Kunstsammlung Düsseldorf, Los Angeles County Museum of Art und das Solomon R. Guggenheim Museum, New York). Es werden 140 Gemälde und Arbeiten und Papier gezeigt. Und es wird gleichzeitig gezeigt, wie ein Mensch des 20. Jahrhunderts seinen individuellen geistigen Denk- und Erfahrungsweg mit seiner künstlerischen Produktion verbinden konnte. Denn neben den Bildern, werden auch der philosophische Hintergrund und die geistige und künstlerische Praxis der Malerin (in einem ausführlichen Film-Interview) deutlich gemacht.

Agnes_Martin_05aFoto: Foto: Achim Kukulies © Kunstsammlung NRW

Agnes Martin hat nach eigener Aussage zwanzig Jahre gebraucht bis sie die Bilder malen konnte, die sie malen wollte. Obwohl von Beginn an abstrakt malend, brauchte sie diese Zeit der Suche „nach einer Definition der Form, die in sich das Potentials des Übergangs birgt“ (wie es Heinz Liesbrock 2004 anlässlich einer Ausstellung im Josef Albers Museum formulierte). Der Weg zu der eigenen Form war geprägt von existentiellen Krisen, auch von einem radikalen Bruch mit der eigenen künstlerischen Karriere in New York und dem Umzug nach New Mexico, auch unterbrach sie das Malen für einige Jahre, vernichtete später viele ihrer Bilder. Dieser, in den ausgestellten Bildern, ja nicht direkt sichtbare Entwicklungsprozess, war aber anscheinend notwendig um zu der Malerei, zu den Bildern zu kommen, die sie anstrebte. Wenn man dann heute, also retrospektiv, die Ergebnisse dieser Suche anschaut, dann versteht man warum sie diesen Weg gegangen ist. Man erfährt direkt etwas wie Schönheit, Vollkommenheit und Unschuld, das die Bilder als Empfindung im Betrachter auslösen können. Und das Problem, dass sich dem Betrachter dann sofort stellt, ist die Frage, wie machen diese Bilder das? Denn der Betrachter sieht physisch – Bleistiftlinien, Farbstreifen in verschiedenen blassen Farben (grau, rosa, blau, gelb), quadratische Formate, rechteckige Gitternetze usw. Wie entsteht durch diese Bilder die Empfindung im Betrachter? Es handelt sich auch nicht um subjektive Glücksgefühle des Autors, die Wirkung der Bilder wird von vielen Menschen beschrieben. Es gibt auch keine komplexe intellektuelle kunstgeschichtliche Theorie, die die Bilder mit Bedeutung aufladen muss. Es reicht sie anzuschauen. Mit der Zeit, also bei längerer Betrachtung der verschiedenen Bilder, zeigen sich immer feinere konkrete Empfindungssituationen, die sich durch die minimalen Variationen der ‚grids‘ (Gitter) und der Farben ergeben. Wie hat die Malerin dieses Ergebnis ins Bild bekommen?
Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die vielfältigen philosophischen und spirituellen Vorbilder und Einflüsse zu schildern, denen Agnes Martin auf ihrem Weg begegnete (Im Katalog wird dies ausführlich ausgeführt). Für die Frage nach der Wirkung, die von den Bildern ausgeht, kann man dies vielleicht auf wenige, mehr praktische Hinweise beschränken. „Die Griechen machten eine große Entdeckung. Sie entdeckten, daß es in der Natur keine vollkommenen Kreise, geraden Linien oder ebenmäßigen Räume gibt. Doch sie entdeckten, … dass sie diese in ihrem Inneren sehen konnten und dass sie dann in der Lage waren, sie herzustellen.“ (so paraphrasiert A. Martin G.K. Chesterton in einem Vortrag 1979). Diese pythagoreischen und platonischen Grundprinzipien entsprechen ihrer Arbeitshaltung. ‚With my back tot he world‘, der Titel einer Ausstellung ihrer Bilder, sagt dies noch deutlicher (indem er auf das Höhlengleichnis Platons Bezug nimmt). Sie wendet sich von der wahrnehmbaren Natur ab und arbeitet mit Begriffen wie Unschuld, Schönheit, Vollkommenheit usw. Sie geht monatelang, jahrelang mit diesen Begriffen um, und den Prozessen, die dann innerseelisch ablaufen. Dies ist der eine Teil des Prozesses, die eigene Verwandlung; der andere Teil, das Malen funktioniert dann nach ganz anderen Prinzipien. Agnes Martin nennt es das Warten auf Inspiration, sie wartet tatsächlich bis ihr das nächste Bild (farbig, wie sie betont) im Inneren sichtbar wird. Dieses Bild arbeitet sie dann von den Maßen und Proportionen um auf das von ihr bevorzugte Leinwandquadrat (6×6 ft.), zeichnet die Bleistiftlinien ein, und füllt die Streifen mit verdünnter Acrylfarbe aus. Das Malen selbst ist deshalb wenig geheimnisvoll oder gar mystisch, auch einen kreativen Selbstverwirklichungsprozess stellt man sich anders vor. Die Form, die sie für ihre Bilder gefunden hat besteht in sehr einfachen Elementen, die aber eine ganz bestimmte Wirklichkeit ansprechen und immer wieder neu konkretisieren: Das Verhältnis von Farbe und Linie, oder auch geometrischer Figur, als einer durch eine Linie umgrenzte Fläche. Aus der Funktion der Gegenständlichkeit befreit (durch den Nullpunkt der Abstraktion gegangen) können sich Linie und Farbe in ihrem reinen Verhältnis zueinander zeigen. Dabei verweist die Linie auf die inneren Formen des Denkens, während die Farbe den atmenden substantiellen Empfindungsprozess anspricht. Beide tun die aber wie Grundformen von Farbe und Linie, also beinahe wie vorgeburtliche zarte Formen, die alles hervorbringen können, es aber noch nicht sind. Form und Farbe werden in ihrem schöpferischen Potential miteinander verbunden, nicht in ihrer ausgestalteten Form. Interessant und auch wirklich wichtig erscheint mir die Tatsache, dass gerade das Schöpferische und Potentielle erst durch die Präzision des Maßes (der Linien) und der Empfindung (bei der Farbgebung) seine Kraft erhält. Die Vollkommenheit des Bildes in sich, spricht so im Betrachter die Wirklichkeitsschicht an, in der seine eigenen ‚vorgeburtlichen‘ schöpferischen Potentiale wirksam sind. „Wenn ich an Kunst denke, denke ich an Schönheit. Schönheit ist das Geheimnis des Lebens. Sie liegt nicht im Auge, sie liegt im Inneren. In unserem Inneren gibt es Erkenntnis von Vollkommenheit.“ (Agnes Martin 1989). Die Erfahrung dieser Art von Vollkommenheit im einzelnen Bild und im Betrachter, ist als Modellerfahrung bleibend und prägend, so dass ähnliche Erfahrungen auch in der Naturerfahrung möglich sind, ohne dass man diese suchen muss. Man bemerkt plötzlich die Schönheit der Natursituation und dass diese durch eine hinter ihr liegende Vollkommenheit geschaffen wird. „Die Funktion der künstlerischen Arbeit besteht in der Anregung von Empfindungen, der Erneuerung von Erinnerung an Augenblicke der Vollkommenheit.“ (Agnes Martin 1973 )

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Foto: Foto ©: Charles R. Rushton, © Kunstsammlung NRW

(Artikel erschienen in Das Goetheanum, Wochenschrift für Anthroposophie 6-7, Februar 2016)

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