Individuelles Ich und Ich-Sein

Wie angekündigt nun einige ‚Früchte‘ aus den ausgepackten und partiell gelesenen Büchern. Alles natürlich bezogen auf die Frage nach dem Ich. Die unten wiedergegebene Stelle ist die zentrale Stelle in ‚Die Einheit des Geistes‘ (oder wie heute oft übersetzt: Die Einzigkeit des Intellektes), also ‚De unitate intellectus‘ von Thomas von Aquin.

Themistios, Paraphrase zu De anima III 4-6

Übersetzt von Frank Joachim Simon (aus dem Griechischen), Meiner 2018

12. Mit welcher Art von Geist sind Ich und Ich-Sein identisch?

(100,16) Wir sind nun entweder der mögliche oder der wirkliche Geist. Wenn nun bei all dem, was aus dem Sein der Möglichkeit nach und dem der Wirklichkeit nach zusammengesetzt ist, das individuell bestimmte Sein und das Sein gemäß der Gattung unterschieden ist, dann müssen auch das individuelle Ich und das Ich-Sein unterschieden sein: und ich bin der aus dem möglichen und aus dem wirklichen zusammengesetzte Geist, das Ich-Sein stammt dagegen aus dem wirklichen Geist, so dass der aus dem möglichen Geist und aus dem wirklichen Geist zusammengesetzte Geist zwar das schreibt, was ich hier denke und schreibe; er schreibt aber nicht, insofern er im Modus der Möglichkeit, sondern insofern er im Modus der Wirklichkeit ist; denn die Wirklichkeit erwächst ihm von dorther.

Erläuterungen:

Themistios (317- 388) lebte in der Zeit, in der im römischen Reich der Übergang von der heidnischen zur christlichen Epoche vollzogen wurde. (Simon 238) Mal wird er zu den Neu-Platonikern gerechnet, mal zur peripatetischen Schule (also Aristoteles nahestehend). Beim Lesen der Übersetzung von Simon war ich erstaunt, wie leicht mir das Verstehen dieses doch schwierigsten Teils von ‚de anima III‘ fiel. Man hat den Eindruck, dass bei Themistios die etwas ‚dunklen‘ und schwerverständlichen Stellen wie verflüssigt werden, und dadurch an Leben gewinnen. Die Übersetzung von Simon ist, soweit ich weiß, die erste aus dem Griechischen ins Deutsche.

Interessant ist dieser kleine Abschnitt deshalb, weil, und das hat Wolf-Ulrich Klünker bemerkt und herausgearbeitet, in ihm ein geistiger Ich-Begriff angelegt ist, der aber nicht weiter rezipiert wurde. Dieser geistige Ich-Begriff taucht dann im Mittelalter bei Thomas von Aquin wieder auf, wo er als Beleg dafür dient, dass der Geist des Menschen nicht ein allgemeiner ist, an dem der Mensch nur teilhat, sondern dass der Geist des Menschen ein einheitlicher, das heißt ein ganzer ist, und dieser Geist individuell und unsterblich ist. Angelegt ist der Begriff schon bei Aristoteles, aber ohne explizit einen Ich-Begriff zu verwenden, aufgenommen und weiterentwickelt zum Begriff des Ich wird dieser Zusammenhang von Themistios. Bei ihm steht dann im griechischen Text tatsächlich ‚ego‘ (bei den anderen Kommentatoren habe ich diesen Punkt noch nicht verfolgt, das liefere ich nach, wenn dort Interessantes zu finden ist), weiterentwickelt wird er dann bei Thomas von Aquin, um dann Ende des 20. Jahrhunderts von Wolf-Ulrich Klünker neu herausgearbeitet zu werden. Damit wird in der Sache selbst eine Entwicklung sichtbar, die über 2000 Jahre beinhaltet. (Erst)Im Mittelalter wurde sie von Wilhelm von Moerbeke aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen, erst im 20. Jahrhundert in der Übersetzung von Klünker vom Lateinischen ins Deutsche. Erst jetzt (2018) wird diese Stelle direkt vom Griechischen ins Deutsche übersetzt.

„Thomas gibt in seinem Zitat eine Stelle wieder, in der Themistios den Ichbegriff formuliert und erläutert – vermutlich zum ersten Mal in der Geistesgeschichte überhaupt. (…) Thomas hat hier die interessantesten Passagen aus dem Werk des Themistios wiedergegeben. An ihnen wird deutlich, dass Thomas die Individualität des menschlichen Geistes mit dem Ichbegriff bzw. der Ich-Entwicklung verbunden sah. Die lateinischen Begriffe für ‚Ich‘ und ‚für mich‘ lauten ego und mihi. Im griechischen Original steht hier entsprechend ego und emoi. Im griechischen Text kommt der Sinn deutlicher zum Ausdruck als im lateinischen, weil das Griechische den Artikel verwenden kann: to ego und to emoi einai – das Ich und das Sein für mich. Die Verwendung des Artikels im griechischen Originaltext verdeutlicht, dass Themistios tatsächlich den Ichbegriff im engeren Sinne entwickelt; die Substantivierung der Wörter erhebt sie gleichsam auf die Begriffsebene. (…)

(…)Die Existenz eines Dinges und das Bewusstsein von ihm sind nicht identisch. In ähnlicher Weise ist auch Ich-Sein etwas anderes als das Sein für mich. Das Ich des Menschen muss in geistiger Eigentätigkeit in ein Für-Mich überführt werden, d.h. ich muss Bewusstsein von mir selbst erlangen. Nur auf diese Weise entwickelt sich der Mensch selbst, als sein Ich, das in ihm zwar angelegt, aber noch nicht Wirklichkeit geworden ist. Indem der Mensch Bewusstsein von seinem ich entwickelt, überführt er den Geist von der bloßen Möglichkeit in seine Wirklichkeit.“ (Wolf-Ulrich Klünker in Selbsterkenntnis der Seele, Zur Anthropologie des Thomas von Aquin, Stuttgart 1990, S. 34 ff.)

Im Originaltext des Aristoteles gibt es zwar den wirklichen und den möglichen Geist, aber noch kein Ich und kein Ich-Sein wie bei Themistios. Auch wird man im Aristoteles Text kein Ich finden, dass sich seiner eigenen Gegenwärtigkeit bewusst ist. Bei Themistios findet sich aber der Übergang vom allgemeinen Ich-Begriff in den konkreten Menschen Themistios: “ so dass der aus dem möglichen Geist und dem wirklichen Geist zusammengesetzte Geist zwar das schreibt, was ich hier denke und schreibe…“ Diese winzig kleine Stelle, in der der Schreiber selbst auftaucht als Subjekt, vermittelt eine ganz andere Wirklichkeit, als wenn dort, wie bei Aristoteles ‚man‘ stehen würde. Plötzlich wird der Geist zum da sitzenden Menschen, der denkt und schreibt. Bei Thomas von Aquin klingt das Ganze schon wieder objektiver. Ich erlebe diesen Übergang als wichtige Vergegenwärtigung, die auch auf eine zweite Bewusstmachung hinzielt – diese verläuft genau umgekehrt. Indem ich ‚hier‘ denke und schreibe, bin ich, obwohl mein Denken und Schreiben deskriptiv verlaufen, wirklicher Geist, „denn die Wirklichkeit erwächst von daher.“ Deshalb schließt Themistios später zurecht, wir seien also der bewirkende Geist (oder tätiger Geist, oder intellectus agens). Der wirkliche Geist ist im Menschen zugänglich, sobald der Mensch wirklich denkt und er kann dies bemerken.

Roland Wiese 24.5.2020

Ausgepackt: Neue Bücher!

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1. Lambert Wiesing – Ich für mich, Phänomenologie des Selbstbewusstseins (2020)
2. Markus Gabriel – Fiktionen (2020)
3. Antike Interpretationen zur aristotelischen Lehre vom Geist – Texte von Theophrast, Alexander von Aphrodisias, Themistios, Johannes Philoponos, Priskian (bzw. Simplikios) und Stephanos (Philipinos). (2018)

Drei neue Bücher sollen hier kurz vorgestellt werden, noch nicht im Sinne einer eingehenden Diskussion, mehr als ‚unboxing‘ – wie es auf neudeutsch heißt – meist bei Konsumgegenständen, die man auspackt. Ich packe also die drei Bücher aus, weil sie in jeweils eigener Weise an der Anthropologie des heutigen Menschen arbeiten. Die ersten beiden Bücher haben auch, obwohl die Autoren in verschiedenen Gebieten der Philosophie unterwegs sind einen gemeinsamen Ausgangspunkt für ihr Denken und Forschen: Die Unhintergehbarkeit des Menschen – „dieser zufolge ist der Mensch als geistiges Lebewesen die unhintergehbare Ausgangslage jeder ontologischen Untersuchung“ (Gabriel S.21) Etwas phänomenologischer ist der Ausgangspunkt von Lambert Wiesing: “Die Wirklichkeit des Selbstbewusstseins lässt sich weder erklären noch verstehen. Sie ist – wie Goethe sagen würde – ein Urphänomen.“ (Wiesing S.10) Dementsprechend will er dieses Ur-Phänomen des Selbstbewusstseins untersuchen. Was hat das dritte Buch, das eigentlich vor den beiden anderen angekommen ist, mit diesen Untersuchungen zu tun? „Der vorliegende Band vereinigt erstmals (2018) alle erhaltenen antiken Interpretationen zu Aristoteles Lehre vom Geist (nous), wie sie in de anima III, v.a. in Kapitel 4-5, skizziert ist, in deutscher Sprache.“ (S.7.) In diesen Kapiteln von de anima, auf Deutsch ‚Über die Seele‘ untersucht Aristoteles inwiefern der Geist mit der Seele und dem Körper verbunden ist und ob der Geist abtrennbar ist von Körper und Seele. Man könnte sagen, die schwer zu verstehenden (weil auch nicht weiter ausgeführten) Aussagen in den beiden Kapiteln behandeln genau die Voraussetzungen der beiden aktuellen Bücher: Die Frage, ob der Geist Produkt irgendeiner körperlichen Grundlage ist, oder ob er davon abtrennbar gedacht werden muss. (Bei Gabriel heißt das dann etwas moderner ausgedrückt: „Das Gehirn (das es in diesem Singular ohnehin nicht gibt) ist Teil des Geistes; nicht aber ist der Geist Teil des Gehirns.“ (Gabriel S. 41) In den antiken Kommentaren und Interpretationen der Aristoteles Aussagen findet sich auch der Kommentar des Themistios, dessen zentrale Aussagen über das Ich Thomas von Aquin dann in seiner Untersuchung ‚Über die Einheit des Geistes‘ (de untitate intellectus) zitiert, um damit die Individualität des Geistes herauszuarbeiten. Wolf-Ulrich Klünker hat diese Stellen dann bemerkt und sich immer wieder auf diesen historisch ersten Begriff (soweit bekannt) des Ich als Geist bezogen (siehe dazu ausführlich: Wolf-Ulrich Klünker, Wissenschaft des Ich in ‚Psychologie des Ich‘, Stuttgart 2016). Insofern hat Markus Gabriel recht, wenn er konstatiert: “Unser mentalistisches Vokabular, mittels dessen wir unsere geistigen Vermögen spezifizieren, ist konstitutiv geschichtlich (…) und „Weder ist Geist als Erfassung der Wirklichkeit ahistorisch vorhanden, so dass wir uns auf ein maximal sich selbst transparentes Cogito zurückziehen könnten, noch ist Geist aus diesem Grund eine Illusion (…)“ (Gabriel S. 40). Und er entfaltet in seinem Buch die „Unhintergehbarkeitsthese“, „die behauptet, dass der menschliche Standpunkt eine Invariante (die anthropologische Konstante) enthält. Ihr Kern ist unsere Selbstbildfähigkeit, d.h. der Umstand, dass wir uns mittels der Ausarbeitung eines Selbstportraits in Zusammenhängen verorten, die jede sensorische Episode überschreiten. Dieser Kern heißt Geist“ (Gabriel S. 40) Klingt wie Themistios: „Wir sind deshalb tätiger Geist“ (de untitate S. 54 Stuttgart 1987). Man sieht die Aufgabe ‚gegenwärtiger Anthropologie‘, wie Gabriel seine Philosophie begreift, steht in einer ‚historischen‘ Kontinuität einer Anthropologie des Geistes. Und nur eine solche Anthropologie ist in der Lage „die sowohl naturalistische als auch postmoderne Selbstbeschädigung der modernen Subjektivität“( Gabriel S. 21) zu überwinden. Nur so lässt sich der „naturalistische Druck des gegenwärtigen Weltbildes“ überwinden. Lambert Wiesing zitiert zum Eingang Johann Gottlieb Fichte aus seiner Wissenschaftslehre: „Es ist nur die Rede vom Ich für mich, oder von diesem Begriff für mich – insofern ich durch unmittelbares Bewusstseyn ihn bilde.“ Mich macht schon die Tatsache glücklich, dass solche Bücher beweisen, dass es noch Menschen auf dieser Erde gibt, die sich um ein Verstehen des Menschen bemühen, dass vom Menschen selbst ausgeht, und dass aus diesem Verständnis eigentlich dann alles Weitere folgen kann. Insofern freue ich mich auf das eingehende Lesen der beiden aktuellen Bücher und auf das Studium der antiken Quellen!
Roland Wiese 22.5.2020