In der gestrigen Supervision mit ehrenamtlichen Sterbebegleitern aus der Hospizarbeit hatten wir die Fragestellung nach dem Sinn von frühem Sterben und schwerer Erkrankung. Ich erwähnte, dass früher Ursache und Sinn von etwas Geschehenem nicht nur in der Vergangenheit gesucht wurde, sondern dass es z.B. in der aristotelischen Philosophie immer auch eine Ursache gab, die aus der Zukunft wirkt. Aus der Zukunft, die durch das Geschehene sich entwickeln kann. Die sogenannte Zielursache oder auch telos (im Unterschied zur Wirkursache) . Heute ist diese Entwicklung aus der Zukunft vom einzelnen Ich selbst abhängig. (Ich habe mich heute dann an einen Aufsatz erinnert, den ich 2012 in der Wochenschrift ‚Goetheanum‘ veröffentlicht habe, und der dann dazu geführt hat, dass mich Johannes Reiner eingeladen hat an einem Buch mitzuarbeiten. Das Buch, das dann zur ‚Psychologie des Ich‘ wurde, ist dann 2016 erschienen).
Therapeutische Wirkungen des Ich
Anfängliche Gedanken zu Veränderungen im Verhältnis von Krankheit, Behinderung und Ich-Entwicklung in der Gegenwart
In der Gegenwart kann sich das Denken über Ursachen von Krankheit (und Behinderungen) in zwei Richtungen entwickeln. Die eine Richtung sieht Krankheit als Störung des normalen Lebens an, deren Ursache in der Vergangenheit liegt, eine andere Möglichkeit ist die Ursachen in der Zukunft zu sehen. Wer die Ursachen in der Zukunft sehen will, kann dies eigentlich nur mit dem Ich denken, denn solche Arten von Ursachen sind in der Welt nicht sichtbar vorhanden. Die Ursachen der Zukunft können eigentlich deshalb auch nur auf das Ich bezogen sein. Dabei sind beide Anschauungsweisen, und das wäre eine erste Veränderung zu Wirklichkeitsverhältnissen des 20. Jahrhunderts, nicht nur Deutungen der Wirklichkeit, sondern immer mehr jeweilige Wirklichkeit des Ich, welches mit diesen Anschauungen lebt. Auch die geisteswissenschaftliche Anschauung von Krankheit ist von dieser Verschiebung in Richtung des Ich betroffen. Ich und Krankheit haben dadurch ein anderes Verhältnis bekommen. Aussagen über Krankheiten werden tendenziell immer unwichtiger, weder die Ursache, noch die Behandlung oder gar die Prognose von Krankheiten sind aus den Krankheiten selbst zu finden. Auch alle äußeren Annahmen über die Innenwirklichkeit der Erkrankungen werden immer fragwürdiger. Dies gilt natürlich auch für alle psychologischen Vermutungen. Damit werden auch alle ‚alternativen‘ oder ‚komplementären‘ Verfahren und Methoden fragwürdig. So ist ja beispielsweise die ‚Homöopathie‘ aus dem Selbstversuch entstanden und in der Folge katalogartig festgehalten worden, welches Mittel wie wirkt. Es handelt sich insofern immer um Vergangenheitserfahrungen, die auf mich angewendet werden. Auch ist vielen Behandlungsverfahren ein Typenkonzept zugrundeliegend. Das Ich ist aber kein Typus. Die Ursache der Krankheit liegt heute eben nicht mehr in meinem Typus, sie liegt in meinem Ich. Wie kann unter solchen Verhältnissen überhaupt noch eine rationale Therapie stattfinden?
Nimmt man die Prämisse der Geisteswissenschaft des 20. Jahrhunderts ernst, dass dort, wo es um das Ich geht, ein Primat des Geisteslebens gilt, dann ist diese Prämisse nicht mehr nur für gesellschaftliche Verhältnisse zu denken, sondern für alle Verhältnisse des Ich ebenso. Ein solches Primat des Geisteslebens ernstgenommen, bedeutet für die Anschauung des Verhältnisses von Krankheit und Ich, dass es immer weniger auf die Krankheit ankommt und immer mehr auf das Ich. Man könnte dieses Verhältnis soweit radikalisieren, dass man immer weniger aus der Erscheinung der Krankheit über das Ich erfährt, dafür immer mehr aus dem Ich über die Krankheit. Es ist heute gegen den äußeren Anschein (paradox) darauf zu verzichten, eine Krankheit, wie ‚Krebs‘ oder ‚Grippe‘ als Krankheit ‚an sich‘ zu denken. Krebs ist möglicherweise kein Krebs, oder es ist unwichtig dass es gerade Krebs ist, es könnte auch etwas anderes sein, möglicherweise ist es aber auch wichtig, dass es gerade Krebs ist. Es ist also nicht sicher, welche Funktion die jeweilige Erkrankung in Bezug auf das Ich hat. Allgemeine Aussagen über Erkrankungen und ihre Behandlung werden damit immer schwieriger. Dieser zugegeben etwas zugespitzten Betrachtungsweise konträr entgegengesetzt sind natürlich alle vorgeschriebenen Behandlungsleitlinien für bestimmte Erkrankungen. Denn wie schon festgestellt, es gibt keine bestimmten Erkrankungen mehr. Statt einer Verobjektivierung der Krankheiten bräuchte es eine Verobjektivierung des Ich. So wie das Ich als Ich-Form in der Anthroposophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts angelegt worden ist – als Objekt geistiger Erkenntnis, müsste es heute auch zum Objekt der Schicksalserkenntnis werden. Es wird damit nichts anderes behauptet, dass eine Krebserkrankung oder eine psychiatrische Erkrankung von Beginn des 20. Jahrhunderts, oder auch aus den 50er Jahren nicht mehr zu vergleichen ist mit einer ähnlichen Erkrankung in der Gegenwart. Wer An-Sich-Krankheitsbegriffe der Vergangenheit auf Menschen der Gegenwart anwendet, verlangt von ihnen in der Ichentwicklung zurück zu gehen in jene Zeit aus der solcher Art Krankheitsbegriffe stammen. Er verlangt von sich, oder vom anderen Menschen sich so zu verhalten, als habe er diese Krankheit. Immer mehr Menschen gelingt ein solches Verhalten nicht mehr. Sie fühlen die Unstimmigkeit zwischen dem, was ihnen aufgedrückt werden soll und dem wer sie wirklich sind. Sie erleben dies als Einengung des Ich in die Form der Krankheit. Sie werden nicht mehr als Ich behandelt, sondern als Krebskranker oder psychisch Kranker. Es ist für das Ich immer mehr eine Riesenanstrengung sich von solchen Überformungen durch falsche Krankheitsbegriffe zu befreien. Genauso ist es eine Anstrengung für das Ich sich von der Erwartung zu verabschieden, dass mir jemand von außen sagen kann, was ich habe. Was nicht heißt, dass man bestimmte problematische Gesundheitszustände nicht abklären sollte. Was auch nicht heißt, dass nicht manchmal aus dem Umkreis wichtige Hinweise kommen können, oder mir auch durch Behandlung geholfen werden kann. Aber das Ich muss tatsächlich alles abwehren, was es nicht als zu sich gehörig empfinden kann. Dies ist angesichts der existentiellen Bedrohung durch manche Krankheiten eine ungeheure Anforderung, wenn nicht gar Überforderung des Ich, zumindest des seelischen Bewusstseins des Ich. Es kann sogar dazu führen, dass der gesamte seelische ‚Bestand‘ des Ich von der Auflösung bedroht ist, oder sich sogar auflöst und ein rein abstraktes Ich übrigbleibt. Und möglicherweise ist eine solche Lebens- und Erlebenssituation für das Ich wichtig und notwendig. Weiterlesen