Mission accomplished

Meine ‚berufliche‘ Tätigkeit in der GESO (Gesellschaft für soziale Hilfen) geht so langsam dem Ende entgegen. Es gibt Menschen, die sagen, Roland geht jetzt in Rente. In Wirklichkeit bin ich natürlich mit knapp 66 Jahren noch in keiner Weise arbeitsunfähig, oder Ruhestandsbedürftig. Nein, der eigentliche Grund meines Rückzuges ist der, dass ich erlebe, dass meine Aufgabe, diese spezielle Aufgabe, eine meiner Lebensaufgaben, erfüllt ist. Andere Aufgaben sind dies noch nicht. Sie mussten aber, angesichts des Umfanges der Tätigkeit in der GESO, zurückstehen. Was war das für eine Aufgabe, die ganz objektiv zu erledigen war und die ganz subjektiv mit mir geleistet werden musste?

Als ich letzte Woche zwei neue Mitarbeiter*innen durch unsere Orte führte, habe ich mir bewusst vor der Führung viel Zeit genommen, um ihnen in Ruhe von der Zeit zu berichten, als es alles das noch nicht gab, was sie jetzt gleich anschauen würden. Als wir 1986 in den Landkreis Rotenburg kamen, gab es für Menschen mit seelischen Erkrankungen wenig Möglichkeiten, mit dieser Erkrankung zu leben und sich zu entwickeln. Die Klinik war damals das Landeskrankenhaus in Lüneburg – also 140 km entfernt. Es gab vielleicht gerade einmal das Übergangswohnheim ‚Steinfelder Wohngruppen‘ und den Sozialpsychiatrischen Dienst (1-2 Sozialarbeiter). Als ich dann schon in Bremen im Rahmen des Modellprogrammes der Psychiatrieenquete ab 1988 mithalf ambulante Angebote und Wohnmöglichkeiten im Bremer Osten aufzubauen (beim ASB), war die Lage immer noch so, und das blieb auch bis Ende der neunziger Jahre so, das, wenn ich abends nach Hause fuhr und die Grenze zu Niedersachsen überquerte, dort nur ein weißer Fleck war, was die Angebote für die psychisch kranken Menschen anging.

Das hat sich inzwischen vollständig geändert. Im Landkreis Rotenburg, so wie in den meisten anderen Regionen Niedersachsens, gibt es alle Angebote, die chronisch psychisch kranke Menschen benötigen. Die Klinik ist inzwischen in Rotenburg, es gibt ambulante (heute heißt es ehemals ambulante) Angebote. Alleine die GESO begleitet in dieser Weise ca. 180 Menschen im Landkreis. Es gibt Arbeits- und Beschäftigungsangebote, spezifisch zugeschnitten für die Bedürfnisse der Personengruppe, es gibt Beratungs- und Begegnungsangebote usw. Und natürlich, man kann alles immer weiter verbessern und ergänzen, aber die grundlegenden Angebote, die eine gemeindepsychiatrische Versorgung braucht, sind inzwischen von uns aufgebaut und stehen zur Verfügung und mit ihnen ein menschliches Netzwerk, das den lebendigen Zusammenhang bildet.

Das dies heute so ist, ist nicht mein oder unser Verdienst allein. Es ist auch einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung seit den siebziger Jahren geschuldet, die eben eine bis dahin existierende Form der Versorgung von seelisch kranken Menschen und übrigens auch oft geistig behinderter Menschen in Langzeiteinrichtungen nicht mehr ertragen wollte und konnte. Insofern war unsere Arbeit hier eingebettet in eine Sensibilisierung für die Lebensumstände kranker und behinderter Menschen in den letzten 50 Jahren. Diese Entwicklung hat sich auch in meiner Biografie wie exemplarisch gezeigt, womit für mich im Rückblick deutlich wird, dass ich mit dieser spezifischen Aufgabe – eine gemeindepsychiatrische Versorgung durch vielfältige Angebote zu ermöglichen – durchaus auch persönlich etwas zu tun habe.

Als ich Ende der siebziger Jahre (ca. 1978) mit meiner damaligen Freundin, deren Mutter zum ersten Mal in der Psychiatrie in Bonn besuchte, hatte ich keinerlei Vorstellung von dem, was mich da erwarten würde. Ich hatte aber auch kein irgendwie kritisches Bewusstsein von der Lage psychisch kranker Menschen, geschweige denn Vorstellungen, was dort anders zu gestalten sei. Ich sah dort eine ältere Frau in einem Aufenthaltsraum sitzen in einem Arbeitskittel. Der Aufenthaltsraum ist in meiner Erinnerung irgendwie bräunlich und die ganze Stimmung dort war müde. Das Landeskrankenhaus Bonn war damals dieser Ort. Mitten in der Stadt und doch wie eine Enklave. Als ich die gleiche Frau später einmal in ihrer Wohnung besuchte, konnte ich die sorgfältig gekleidete und geschminkte und frisierte Frau kaum mit der Person in der Klinik in Verbindung bringen. Sie erzählte mir damals, dass sie sich in ihren Zahnarzt verliebt habe, und dass sie deshalb als ‚manisch‘ oder ‚psychotisch‘ untergebracht worden war. Solche Unterbringungen hatte sie schon oft erlebt, bis dahin hatte dies immer dazu geführt, dass sie danach monatelang oder noch länger in der Klinik verbringen musste, weil durch ihre Krisen ihre gesamte Lebensstruktur, Arbeit, Finanzen, Wohnung zerstört waren, und sie jedes Mal wieder von vorne beginnen musste. Dieses Mal aber hätten Studenten, die ehrenamtlich Patient*innen unterstützen würden, das verhindert, indem sie sich um die Wohnung, Mieten usw. gekümmert hätten. Über meine Freundin, deren Mutter schon lange seelisch erkrankt war, konnte ich auch erleben, wie schwierig es für sie war, ihre Beziehung zu ihrer Mutter zu gestalten. Dies auch unter der Perspektive, was diese Krankheit für sie selbst bedeutete.

Meine zweite Berührung mit ‚Psychiatrie‘ war eine Nachtwächterstelle im Landeskrankenhaus Langenfeld. Dort musste ich nachts meine Runden durch die gesamte ‚Anstalt‘ drehen. Man hörte manchmal Menschen schreien aus den Häusern. Auch das war Ende der siebziger Jahre. Und wenig später, ich war damals Journalist und Herausgeber einer Stadtzeitung, ging es schon um kritische Berichte über die Zustände dort. Und noch ein wenig später darum, dass die ganze Anstalt reformiert werden sollte. Aus der Langzeitklinik wurden Wohnheime für die Menschen mit geistiger Behinderung und ein eigener Bereich für die Versorgung seelisch kranker Menschen wurde geschaffen.

Als ich 1987 meinen Abschluss als Sozialtherapeut in der Akademie Sondern hatte, wurde ich in der Abschlussrunde gefragt, was ich denn beruflich nun machen wolle. Mir war nicht ganz klar, wie es beruflich mit mir weitergehen sollte. Ich hatte Erfahrungen in der Jugendhilfe mit jungen Erwachsenen gemacht und mich dort eigentlich ganz richtig gefühlt. Problematisch hatte ich erlebt, dass immer mehr Jugendliche mit massiven psychischen Problemen, bis hin zu drogeninduzierten Psychosen, die Arbeit immer komplizierter machten. Deshalb war meine Antwort auch deutlich dadurch geprägt. Ich wollte mit Jugendlichen arbeiten, aber nichts ‚Psychiatrisches‘. Zu dieser Zeit wohnte ich schon mit meiner Partnerin auf einem Resthof in Horstedt (Niedersachsen), den wir renovierten und umbauten. Wir hatten einen jungen Mann aus unserer Einrichtung in Wuppertal, wo wir vorher tätig waren, mitgenommen. Ich hatte schon vorher dort mit ihm in einer Wohnung als Einzelbetreuung gewohnt, weil er nicht in die anderen Gruppen passte. Dies war in meiner Ausbildungsstätte bekannt. Und die Akademie Sondern befand sich in einer anthroposophischen Einrichtung (Hof Sondern), die ein psychiatrisches Übergangswohnheim war. Als ich nach dem Ausbildungsabschluss aus dem Seminarhaus kam sprach mich eine Betreuerin aus der Einrichtung an. Sie habe gehört, dass wir in unserer Familie einen jungen Mann betreuen würden. Es gebe da eine schwangere Frau in der Einrichtung, die eigentlich so etwas brauchen würde. Die junge Frau sei psychotisch erkrankt.

Ein Jahr später,1988, die junge Frau lebte inzwischen bei uns, wir hatten auch den Landkreis Rotenburg mit offensiver Unterstützung eines Rechtsanwaltes dazu bekommen, dies auch finanziell zu unterstützen, wir hatten einen Verein gegründet für unsere Arbeit, wir waren Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband mit diesem Verein geworden, war ich auf einer Fortbildung in Göttingen zum Thema Psychiatriereform, bei der Frau Professor Puckhaber von dem Recht jedes Menschen auf individuelle und auch ambulante Betreuung nicht nur sprach, sondern an uns Zuhörende appellierte, dieses Recht auch einzufordern und zu organisieren. Der Begriff ‚Betreutes Wohnen‘ als Alternative zur Heimunterbringung wurde mir so deutlich und erweckte in mir Interesse. In Bremen gab es eine Gruppe von Menschen, die ein solche Angebot gerade aufbauten – die Initiative zur sozialen Rehabilitation‘. Ich traf mich mit einem der Verantwortlichen und ließ mich über ihre Arbeit aufklären. Wenig später las ich bei einem Besuch bei Freunden im Weser Kurier, dass genau für eine solche Arbeit in Bremen Mitarbeiter gesucht wurden – eine Stellenanzeige des ASB. Das sprach mich so an, dass ich mich auf diese Stelle bewarb und dort auch genommen wurde.

Die Arbeit in Bremen war wirkliche Pionierarbeit – erste Wohngemeinschaften mit Menschen, die langjährig in Einrichtungen gelebt hatten. Und viel praktische  Arbeit beim Schaffen dieser Wohngemeinschaften. Ganze Häuser haben wir damals renoviert… Meine eigentliche Betreuungsarbeit würde ich im Rückblick als ziemlich naiv bewerten. Ich hatte keine Ahnung von psychischen Erkrankungen und konnte mich nicht wirklich in einen Menschen hineinversetzen, der sich damit herumschlagen musste. Stattdessen versuchte ich permanent den anderen irgendwie zu therapieren, weil ich mich nicht damit abfinden mochte, dass er nun einmal so war, wie er war. Mir war und wurde der gesamte Zusammenhang zwischen seelischer Erkrankung und dem Menschen, der sich damit herumschlug, zunehmend zu einem Rätsel. Und es war deutlich, dass auch niemand anderes einen wirklichen Einblick in dieses Rätsel hatte. Das was ich an Behandlung wahrnehmen konnte bestand im Wesentlichen aus der Vergabe von Medikamenten, die von den Betroffenen als äußerst einschränkend erlebt wurden und die das Problem, die verrückte Psyche zwar betäubten, aber die eigentliche Ursache gar nicht berührten. So dass ich als eigentliches Ergebnis meiner 10 Jahre in Bremen heute sagen würde, dass es erst einmal eine therapeutische Resignation für mich brauchte. Gleichzeitig aber ein Festhalten an der sozialen Arbeit – Angebote für Menschen mit diesem Problem zu schaffen, die ihnen, wie man zu Recht heute sagt, eine Teilhabe am Leben und im Leben ermöglicht.

Ein etwas merkwürdiger Einschlag in diese Arbeit war die Information durch meine Schwester und ihren Mann, die herausgefunden hatten, dass unser Großvater väterlicherseits, von dem wir bis dahin gar nichts wussten, auch seelisch erkrankt war. Seine Erkrankung fiel allerdings in eine Zeit, in der eine solche Erkrankung zum Todesurteil werden konnte. So wurde mein  Großvater nach mehreren Klinikaufenthalten im Landeskrankenhaus Gütersloh nach Gnesen in Polen verbracht, wo er wenig später starb. Man könnte auch sagen er wurde umgebracht, denn die Behandlung in Gnesen zielte genau darauf ab. (Korrektur: Meine Schwester hat mich darauf hingewiesen, dass es konkret so war, dass unser Großvater noch sieben Monate in Gnesen gelebt hat und dann tatsächlich mit einer Injektion getötet wurde.) Die Verdrängung dieser Morde an psychisch kranken Menschen hat in Deutschland lange dafür gesorgt, dass das Schicksal der Menschen nicht aufgeklärt werden konnte, während die Täter größtenteils in ihren Positionen als Ärzte verbleiben konnten. Auch dieses Thema gehört zur Frage, wie geht man mit Menschen, die seelisch erkranken, um. Und es berührte mich sehr, dass im Nachhinein, meine Arbeit in der Psychiatrie eine solche Verbindung mit meiner eigenen Familiengeschichte hatte.

Man kann, ohne hier etwas mit Bedeutung aufladen zu wollen, an den oben geschilderten Bewegungen bemerken, das das Thema Psychiatrie, insbesondere seine soziale Komponente, immer stärker in meinem Leben sichtbar und wirksam wurde. Wobei ich betonen möchte, dass mir die medizinisch-therapeutische Seite nie wirklich nahe war und immer weniger für mich eine Rolle spielt. Dies hat gerade in der Anfangszeit der GESO durchaus für massive Auseinandersetzungen mit der Klinik geführt. Als wir 1999 im April mit der Arbeit der GESO im Landkreis Rotenburg offiziell beginnen konnten, hatten wir (mit dem Umkreis e.V.) schon nahezu 10 Jahre Arbeit ohne eine solche offizielle Anerkennung und Vereinbarung hinter uns.  Ähnliches hatte auch ein weiterer Partner der GESO, der Tandem e.V. im Nordkreis geleistet. So dass die GESO zwar formal 1999 neu startete, aber mit Mitarbeiter*innen und betreuten Menschen, die schon lange von uns versorgt wurden. Meist auf eigenes Risiko und oft erst nach Auseinandersetzungen mit dem Landkreis Rotenburg. Die GESO steht damit auch für einen Übergang von prekären Verhältnissen in eine Regelversorgung. Wobei die Phase vorher auch für die DNA der GESO steht, also für ihre Gesellschafter, nämlich dafür, nicht auf Aufträge von Behörden zu warten, sondern vom Bedarf des einzelnen Menschen auszugehen und diesen und sein Schicksal ernst zu nehmen. Aus einem solchen ernst nehmen  resultiert dann auch das Motiv und die Kraft, die eine solche Arbeit braucht. Man spricht heute häufig von Idealismus oder auch von intrinsischer Motivation, in Wirklichkeit ist es ein Gefühl, dass von einer Realität von außen, nämlich dem anderen Menschen und seiner Lage, impulsiert und inspiriert wird.

So haben wir mit der GESO in den letzten vierundzwanzig Jahren zwar alle Angebote, die eine Gemeindepsychiatrie haben sollte, entwickelt. Dies ist aber nicht aus einem Masterplan heraus geschehen (obwohl die Psychiatrieenquete einen solchen Plan aufgestellt hat), sondern aus den Bewegungen unserer Klient*innen heraus, denen wir gefolgt sind. So dass die eigentliche Bewegung darin bestand und immer noch  besteht, diesen jeweiligen individuellen Bedarf wahrzunehmen und dann die vorhandenen Instrumente und Werkzeuge zu prüfen, die es gesellschaftlich gibt, z.B. ‚Tagesstätte‘, WfbM, Ambulant Betreutes Wohnen, und mit Hilfe dieser Werkzeuge Einrichtungen zu schaffen, die den Bedarf befriedigen können. Manchmal gibt es auch noch kein passendes Werkzeug, dann muss man ein entsprechendes erfinden (so z.B. den Zuverdienst und das Job Coaching aktuell).

Was ist damit erreicht, wenn solche gemeindepsychiatrischen Angebote und Netzwerke vorhanden sind? Es gibt eine interessante Untersuchung von einem langjährigen Mitarbeiter des sozialpsychiatrischen Dienstes in München, der für seine Dissertation Betroffene in Langzeitinterviews zu ihren Erfahrungen mit der Gemeindepsychiatrie befragt hat. Diese Untersuchung von Manfred Jehle, mit dem Titel ‚Psychose und souveräne Lebensgestaltung‘, kommt zu dem Ergebnis, dass solche Strukturen eine Art Grundlage für die ‚souveräne Lebensgestaltung‘ der Betroffenen sein können. „Gemeindepsychiatrie als Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit…“ (S.142) Es geht um „Entwicklungsräume“, die neue Verhaltens- und Gestaltungsweisen ermöglichen, nicht vordergründig um Anpassung an vorhandene Lebensmuster. „Das Netz gemeindepsychiatrischer Arrangements und die Szene psychiatrie-erfahrener Menschen (…) ermöglichen Erfahrungsräume für Zugehörigkeit und Inklusion – im Übergang oder auf Dauer – der sich qualitativ und quantitativ von den Interview- Schilderungen aus der prä-psychotischen Zeit abheben.“ (S.228).

Weiterhin kommt die Untersuchung zu einem interessanten, nicht medizinischen Begriff von Krankheit und Gesundung, den ich aus meiner langjährigen Erfahrung teile. Manfred Jehle schildert aus den Befragungen, dass die Betroffenen durch die Erfahrung der psychischen Erkrankung (meist Psychosen) ihr Leben völlig neu denken und gestalten mussten, weil die alte Lebensführung und Lebensidee gescheitert waren. „Häufig wurden diese ‚Aufwärtsbewegungen‘ im Lebenslauf möglich, nachdem Tiefpunkte und sensible Lebenspassagen die Gesprächspartner vor existentielle Entscheidungen gestellt hatten. Daraus folgte eine stärkere Besinnung auf eigene Selbstachtung und -anerkennung. Es wurde wichtig an eigenen Maßstäben für die Richtigkeit und Stimmigkeit von persönlichen Zielen zu ‚feilen‘, und eigene Projekte zu erproben. Bei dieser Identitätsarbeit nach innen erwiesen sich die vormals bzw. vor der Erkrankung verfolgten Werte und Ziele häufig als übernommen und nicht ausreichend auf die Verträglichkeit für die eigene Person hin überprüft (z.B. in Form von überfordernder Leistungsideale). Ein Umbau des persönlichen Werte- und Zielkanons war häufig die Folge. Über die individuell unterschiedlichen Zielformulierungen hinaus wurde auf einer Prozessebene die grundsätzliche Bedeutung von Selbstachtung, Stimmigkeit und Sinn-Schöpfung für die eigene souveräne Lebensgestaltung herausgearbeitet.“ (S. 228). Es geht um den Aufbau, so Jehle, einer neuen und mehr  authentischen Identität. Und er fügt hinzu, dass die gemeindepsychiatrischen Netzwerke und Angebote, zwar auch kritisch als Ghetto angeschaut werden könnten, dass hier aber „Betroffene Bezüge und Zugehörigkeit von einer Tragfähigkeit entwickeln können, wie sie in den Primärsystemen und/oder ihrer natürlichen, ‚normalen‘ sozialen Umwelt bislang nicht erfahren wurde.“ (ebd.)

Manfred Jehle entwickelt hier einen schicksalsbezogenen Begriff von Krankheit, der die Funktion von Krankheit für die Ich-Entwicklung der Betroffenen untersucht und befragt. Die von ihm befragten Menschen schätzt er allerdings als ‚erzählgeübt‘ ein und knüpft daran die Forderung solche Projekte zu initieren, die einen solchen Erzählraum auch für weniger Geübte ermöglichen. Er verweist hier auf die ‚Trialoge‘, also Gesprächsräume, in denen Psychiatrieerfahrene mit Angehörigen und Professionellen gemeinsam sprechen. Auch ich halte diese ‚Räume‘, die wir mit den Trialogischen Gesprächen und Fachtagen mitorganisieren, für wesentlich. Denn es geht darum von der ‚naiven‘ und äußerlichen Betrachtung von Krankheits- und Gesundungsprozessen wegzukommen hin zu „von Betroffenen und Professionellen wechselseitig gewonnen Einsichten in die subjektiven Gesundheitszusammenhänge bei Psychosen. Eine Konzeptualisierung von ‚wirksamer Hilfe‘ aus Sicht Psychoseerfahrener fokussierte weniger auf die einzelne Maßnahme oder die einzelne Professionelle, als mehr auf die Fähigkeit von Hilfearrangements, sich in persönlich zugewandten Beziehungen auf die spezifische Lebenslage von Betroffenen einzuschwingen – und zwar über die ‚reinen‘ Krankheitszeichen hinaus. Daraus können individuell passende, ‚ermöglichende Bedingungen‘ gefunden oder aufgebaut werden, die es erlauben, eigene Lebenssouveränität weiterzuentwickeln.“ (S.230)

Das bedeutet nichts anderes, dass der verengte und verengende Diagnose-Begriff von Krankheit, gerade im psychiatrischen Bereich nur dadurch erlöst und erweitert werden kann, dass die individuelle Entwicklung des einzelnen Menschen zum Maßstab genommen wird. Ein scheinbar allgemeines, äußeres und damit objektives erkrankt sein gibt unter solchen Vorgaben keinen Sinn. Ebenso wenig wie „standardisierte Behandlungsprogramme“ oder „formalisierte Hilfepläne“. Auch gibt Personenzentrierung keinen Sinn ohne die oben skizzierten ‚Entwicklungsräume‘. Die Entwicklung der Lebensgestaltung hängt von solchen ermöglichenden menschlichen und sachlichen  Umgebungen ab!

Für die Angebote und Zusammenhänge, die wir im Landkreis Rotenburg entwickelt haben gilt natürlich, dass sie der Zeit und den Ideen und Vorstellungen einer bestimmten Zeit entsprechen. Also die äußere Form ist aus der Zeit genommen, in der sie geschaffen wurden. Aber die Entstehung dieser sozialen Landschaft ist aus der Sache selbst, also aus der Bewegung und den Bedürfnissen der beteiligten Menschen trialogisch entstanden. Es gab eben keinen Masterplan! Wir haben die Formen genommen, die es möglich war zu benutzen. Es waren aber auch nur die Formen, die damals möglich waren und damit etwas möglich machen konnten. Ein Gärtnerhof Badenstedt ist eben nicht deckungsgleich mit der Form WfbM. Aber natürlich besteht immer die Gefahr, dass der innere Geist vergessen wird, verloren geht, und dann die äußere Form das Leben bestimmt! Es braucht dementsprechend immer wieder Menschen, die aus der Berührung und Begegnung mit den wirklichen Bedürfnissen der betroffenen Menschen neue Formen entwickeln, bzw. die bestehenden weiterentwickeln. Nur insofern ist meine eigene Aufgabe erfüllt, dass eine Grundlage von Angeboten erst einmal vorhanden ist, und zwar eine Anlage, die nicht institutionell entstanden ist, sondern aus individuellen menschlichen Schicksalsbewegungen, was bedeutet, dass sie auch als ‚menschlich‘ wahrgenommen wird. Ziel kann immer nur die individuelle menschliche Entwicklung sein und nicht die Erhaltung des Gewordenen.

Von meinen naiven therapeutischen Beglückungsversuchen über die notwendige Resignation hin zu einer solchen Entwicklungsperspektive durch die Schaffung der entsprechenden Angebote, die Entwicklung möglich macht, aber nicht definiert, kann man meinen eigenen Weg in dieser Arbeit beschreiben. Auf diesem Weg konnte ich, neben meiner eigenen Entwicklung, auch die Entwicklung vieler einzelner Menschen erleben. Entwicklungen, die ich nie hätte  prognostizieren können! Gleichzeitig aber auch Entwicklungen, die auf den ersten Blick nicht aufwärts gehen, sondern abstürzen. Ich bin über diesen ‚äußeren‘ Erfahrungsweg an die eine Seite des Ich, oder des Selbst herangekommen.  Insofern haben ich nicht nur die mir/uns gestellte Aufgabe erfüllt, sondern diese Aufgabe hat auch mich und mein Leben erfüllt.

Meine andere Aufgabe sehe ich darin auch einen aktuellen angemessenen Begriff des Ich und seiner Entwicklung zu erarbeiten, also eine Psychologie des Ich. Denn auch ein solcher entwicklungsoffener Begriff des Menschen, eine solche Psychologie zählt zur ‚sozialen‘ Umgebung der Menschen. Diese Begriffe wirken in die, meist unbewusste Schicht der Menschen, die ihr Selbsterleben bestimmt.  Diese Aufgabe ist noch nicht abgeschlossen, sondern geht weiter…

Literatur: Manfred Jehle, Psychose und souveräne Lebensgestaltung, Erfahrungen langfristig Betroffener mit Gemeindepsychiatrie und Selbstsorge, Psychiatrie Verlag, 2007 (Dissertation)

Webseite der GESO

Roland Wiese, 23. Januar 2023

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