‚Aufgehoben‘ – Elisabeth Neufeld-Picciani und das Gutshaus Volzrade

Ein Entwicklungszusammenhang

Der folgende Text ist keine Buchrezension und auch keine Hotelbewertung, auch wenn es vielleicht manchmal so erscheinen mag, weil es um ein Hotel und um ein Buch geht.(Das Buch wurde selbst gekauft und das Hotel selbst bezahlt!). Das Hotel heißt Gutshaus Volzrade und die Frau, die dieses Projekt entwickelt hat heißt: Elisabeth Neufeld-Picciani. Und in dem Buch ‚Plötzlich Gutsherrin‘ beschreibt sie ihre eigene Entwicklung und die Entwicklung des Gutshauses Volzrade. Mir geht es hier um eine ganz spezifische Dimension von Ich-Entwicklung, die man selten so bemerken kann. Denn meist sieht man ja nur entweder die äußeren Tatsachen und Ergebnisse einer bestimmten Entwicklung, oder erfährt literarisch oder psychologisch etwas über die inneren Entwicklungen eines Menschen. Dadurch, dass Elisabeth Neufeld-Picciani ihren biografischen Entwicklungsweg in ihrem Buch ausführlich darstellt und sie auch die Wechselwirkung zwischen ihrer eigenen Entwicklung und der Entwicklung des Ortes so klar formulieren kann, zeigt sich hier exemplarisch, was Ich-Entwicklung oder Selbst-Entwicklung und Weltentwicklung (hier der konkrete Ort, bzw. das konkrete Haus)  miteinander zu tun haben. Und man kann natürlich das Ergebnis der Entwicklung selbst vor Ort erleben.

Zu diesem Zusammenhang gehören aber auch weitere „Organe“, die diesen erst in seiner Tiefe wahrnehmbar machen. Ich selbst bin eigentlich nur deshalb in Berührung mit diesem Ort gekommen, weil meine Tochter und ihr Mann uns gebeten hatten einen Hof zu begutachten, den sie eventuell in der Nähe erwerben wollen. Diese Einladung fußt wiederum auf der Tatsache, dass wir (meine Frau und ich) selbst einen alten Resthof in den letzten 35 Jahren umgebaut haben. Mir ist erst in den letzten Jahren so richtig bewusst geworden, welche starke innerliche Beziehung ich zu Häusern, dem Bauen und Renovieren habe. Diese starke Empfindung zu diesen Tätigkeiten und zu diesen Gegenständen ist mir erst deutlich geworden, als ich über Instagram und Fernsehen mitbekam, dass inzwischen eine ganze Szene von Menschen gibt, die sich um alte Häuser kümmern und sie ‚retten‘ möchten, indem sie sie renovieren, aber auch indem sie ihnen eine neue Aufgabe für die Bewohner, aber meist auch für die Umgebung geben. (Der NDR hat solche Menschen in Langzeitdokumentationen begleitet). Erst über die Wahrnehmung der anderen Menschen, wachte in mir die eigene Beziehung wieder und gleichzeitig neu auf. Diese, durchaus untergründige Beziehung ermöglichte mir natürlich eine ganz spezifische Verbindung zu dem Weg von Elisabeth Neufeld-Picciani und dem Gutshaus Volzrade (und gleichzeitig zu den Plänen meiner Tochter). Als ich eine Unterkunft für unseren Besuch suchte, stieß ich bei Booking.com auf das Gutshaus Volzrade, ohne dass ich Näheres über die konkrete Geschichte wusste. Alleine das ‚Haus‘ als ganz konkrete Situation sprach mich an und ich buchte dort 2 Nächte für uns.

„Als wir das erste Mal auf das etwas heruntergekommene Haus zufuhren, wollte mein Mann am liebsten gleich wieder umkehren. Aber ich hatte mich sofort in das Haus und den Park verliebt“. Es ist ein ziemlicher Kasten, das Gutshaus, ungestrichen verputzt und entspricht jetzt auf den ersten Blick nicht unbedingt dem Bild eines prächtigen Gutshauses, in das man sich ‚sofort‘ verlieben könnte. Andererseits, als wir das erste Mal im völlig verwilderten Garten unseres Hauses standen, nur durch Zufall dort hingelangt, hatte meine Frau ein ähnliches Gefühl: Dies ist der Ort!

Elisabeth Neufeld-Picciani hat ein Buch über ihren Weg geschrieben: „Plötzlich Gutsherrin. Vom Anpacken, Neuanfangen und dem guten Leben auf dem Land“. Diesen blöden Titel hat sich vermutlich der Heyne-Verlag ausgedacht. In Wirklichkeit geht es in dem Buch nicht um das Gutsherrin sein, sondern um die wundersame Geschichte einer Frau, die mit Mitte 30 in der absoluten Krise steckt und ihre eigentliche Aufgabe sucht, nachdem das bisherige Leben ziemlich gescheitert ist. Teil 1 des Buches mit dem sprechenden Titel: „Wir finden das Haus – das Haus findet uns“ beginnt dann auch ebenso sprechend mit dem Kapitel: “Aufgeben oder Aufgabe?“ und dieses Kapitel endet mit der Frage: „Wo ist meine Aufgabe?“.  Das nächste Kapitel beginnt dann damit, dass ihr neuer Partner sie fragt, was sie denn machen würde, wenn sie ganz alleine entscheiden würde und sie antwortet „völlig spontan, ohne Nachdenken: „Ale Häuser renovieren und sie sanieren. Sie retten und schön einrichten. Ich bin einen Moment völlig überrumpelt. Und zwar von mir selbst. „Die … Aufgabe! Das ist sie! Ist sie das?““. Das Buch müsste also eher heißen: ‚Plötzlich Häuserretterin‘.

Nun habe ich das Buch erst zu Hause gelesen, nachdem ich den Ort, ohne seine (und ihre) Geschichte zu kennen, erlebt habe. Wir haben dort von Samstag bis Montag gewohnt, gefrühstückt, den Geburtstag meiner Frau gefeiert und die Umgebung an der Elbe erkundet. Das Haus ist noch nicht vollständig ausgebaut. Es gibt einige Ferienwohnungen, ich glaube sechs Hotelzimmer, ein kleines Café im Erdgeschoss, einen riesigen Saal im Obergeschoß mit großer Bibliothek und einen Park mit Café-Terrasse. Die ‚Gutsherrin‘ und ihr Mann wohnen im Erdgeschoss selbst im Haus. Aber das Entscheidende lässt sich gar nicht an den Einzelheiten festmachen. Das  (für mich) Entscheidende ist das Gefühl von Wirklichkeit eines menschlichen Ortes. „Ich hatte ein wahnsinnig gutes Gefühl an diesem Ort, es war, wie nach Hause zu kommen in eine Oase der Ruhe.“

Als sie das Haus zum ersten Mal sehen und besichtigen, ist es optisch und vom baulichen Zustand her das Gegenteil eines Traumhauses: „Optisch macht das Haus wirklich nicht allzu viel her. Ein rechteckiger, weitgehend schmuckloser Kasten mit dem typischen grau-braunen DDR-Putz. Und es wirkt trostlos und vernachlässigt. Ungeliebt.“ Was also hat mich gepackt, als ich es sah?“ Es ist einerseits  Mitgefühl für das ungeliebte Haus und gleichzeitig die Fähigkeit über die einzelnen Schäden und Häßlichkeiten hinwegzusehen und „in einem heruntergekommenen Gebäude das zu sehen, was man daraus machen kann.“ Nur diese Kombination von Gefühl und Denkwille ermöglicht ihr dann auch die Conclusio: „Ich sehe unser Zuhause. Auch wenn du es nicht glaubst. Aber hier könnte ich ein Zuhause schaffen.“ Das war 2014. Heute (2023) kann man als teilnehmender Beobachter sagen: Sie hat es geschafft. Ich will hier gar nicht die gesamten Widerstände, Krisen und Probleme aufzählen, die man, wenn man ein solches Projekt startet, Gott sei Dank, sich nicht alle ausmalen kann – sie füllen einen Großteil der Seiten des Buches. Und natürlich, man kann auch scheitern mit einem solchen Projekt. Und natürlich ist hier nicht gemeint, dass sich jeder oder jede ein solches Projekt aufhalsen soll. Es geht hier ganz konkret um diesen Menschen, der das, was er als ‚Wille‘ und ‚Wollen‘ in sich fühlt freilegt und realisiert. Wobei dieses Wollen eben kein ‚Traum‘ oder Wunsch ist: „Ich muss daran denken, wie neulich eine Lokalzeitung eine Reportage über uns betiteln wollte: Ein wahrgewordener Traum. Ich habe gefragt, ob ihnen nichts Besseres einfalle: Weil es kein Traum war. „Das Haus ist zu mir gekommen“, habe ich dem Redakteur gesagt. „Ich habe nichtschon immer davon geträumt, Schlossbesitzerin zu sein. Ich wollte ein altes Haus retten. Es geht um das Haus – nicht um mich. Um einen schönen Ort für Begegnungen.“ (S. 265). Ich oder Individualität, sind eben kein reines Bewusstseinsphänomen, sondern sie brauchen den Bezug zu,  ja die Verbindung mit einer konkreten Sache (lat. res). Und diese konkrete Sache ist zwar in der Anlage bereits da: Die Aufgabe. Aber nur keimhaft, als Willenskeim. Und da wir es gewohnt sind uns an unserer Umgebung zu orientieren, und mit Hilfe dieser Orientierung unsere Vorstellungen von unserem Leben zu bilden, ist es  so schwierig, diesen Willenskeim, die Willensempfindung der Zukunft in uns freizulegen.

Elisabeth Neufeld- Picciani kann sehr deutlich beschreiben, was bei ihr die Voraussetzungen und Bedingungen für die Freilegung ihrer „Aufgabe“ war. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Sie war in einer biografischen Sackgasse gelandet, aus der auch keine Therapie heraushelfen konnte. Sie war existentiell an der Grenze. Erst dadurch konnte sie sich aus dem bisherigen Leben herauslösen und wahrnehmungsfähig werden für die eigene Intuition, sensibel werden für den jeweils nächsten Schritt. Auch in der Projektphase selbst, so beschreibt sie es, war es entscheidend, diese Art intuitiver Wahrnehmung für den nächsten Schritt, was jeweils zu tun ist, zu entwickeln und zu leben. Und diese Art des Vorwärtsgehens strahlt dann aus in die Umgebung und schafft Wirklichkeit.

Die wichtigste Bedingung ist aber, das wird auch im Buch deutlich betont, dass Elisabeth Neufeld einen Partner gefunden hat (Bruno Picciani), der ihr hilft ihre eigenen Intentionen sich klarzumachen. Möglicherweise wäre das ein zeitgemäßer Liebesbegriff, dass es darum geht, einen Menschen, oder mehrere Menschen zu finden, die die eigenen Willenskeime bezeugen und ihnen so zur Geburt verhelfen. Ein solches Bezeugen kann mehr die Willensseite betreffen, also die Verstärkung des eigenen Willens, es kann aber auch die Bewusstseinsseite betreffen, also das sich Klarwerden über die eigenen Intentionen. Die Mensch-Mensch Beziehung wird so gesehen eigentlich immer mehr zu einer Mensch-Engel Beziehung. Der individuelle Bezug zu einer Sache sitzt meist sehr tief und ist meist umgeben von allgemeinen Vorstellungen der Zeit und der Umgebung, die diesen individuellen Bezug verschleiern und dadurch nicht wirklich herauskommen lassen. Es geht anscheinend heute im Leben darum, die Menschen zu finden, die einem den Bezug zu der Sache ermöglichen, die als Interesse und Intention in uns lebt. Hegel hat einmal so treffend formuliert, dass das Interesse schon der konkrete Weltbezug in uns ist. Aber eben nur latent. Dieser reale in uns vorhandene Weltbezug – das ist der einfachste und konkreteste Karma-Begriff oder Schicksalsbegriff, der in einem Ich gründet, das eben keine tabula rasa, leere Tafel ist. Und die Individualisierung und Ich-Entwicklung heute braucht diesen Weltbezug des Ich und der Weltbezug des Ich, verborgen in der Willensbewegung, braucht den anderen Menschen, damit er Schritt für Schritt aufwachen kann.

Zurück an den Anfang – was kann man heute (2023), also knapp zehn Jahre später erleben, wenn man im Gutshaus Volzrade als Gast ist? Jedenfalls keine Retro-Kulisse, deswegen meine Allergie gegen den Begriff ‚Gutsherrin‘. Ich wohne selbst in einem alten Bauernhaus von ca. 1900 und niemand der bei uns zu Besuch ist hat primär das Erleben einer Antiquität und ich bin deshalb kein Bauer! Manche Menschen erleben es als einfach wohltuend bei uns zu sein. Welche Räume, welche Umgebung brauchen die Menschen von heute, um sich als sie selbst fühlen zu können? Beim Umbau des alten Hauses und der Nebengebäude tauchte in mir eine Frage immer auf? Wenn ich immer mehr von dem alten Haus entferne (weil es kaputt ist), bleibt das Haus noch, das was es einmal war? In welcher Zeit ist man, wenn man in Volzrade im Gutshaus frühstückt? Damals (wann ist das), heute, jetzt, in der Zukunft? Das ganze Renovieren und Bauen, mit all seinen Fragen und Krisen, dient eigentlich nur dazu, das Haus aus seiner gewordenen Vergangenheit herauszureißen, ohne dass es diese Vergangenheit nicht mehr in sich trägt. Sie ist da, aber nicht mehr bestimmend. Diese Arbeit und der damit verbundene eigene Entwicklungsweg dient auch dazu, das Haus zu individualisieren. Es wird zu einem individuellen Ort (nicht mehr nur ein Gutshaus einer Familie aus einer ganz bestimmten Zeit). Auch hier könnte man einen schönen Begriff von Hegel verwenden: Die Zeit, ja das Haus, der Ort und auch die Menschen, sie werden aufgehoben. Aufgehoben im dreifachen Sinne: Bewahrt, emporgehoben und erlöst. Und genau das ist auch das Lebensgefühl, das an einem solchen Ort möglich ist: Aufgehoben sein.

Roland Wiese 18.9.2023 (Fotos auch von mir – allerdings nicht für den Blog fotografiert, nur für den Eigengebrauch als Erinnerung an den Geburtstag)

(Alle Zitate aus dem Buch: Elisabeth Neufeld-Picciani, Plötzlich Gutsherrin, Vom Anpacken, Neuanfangen und dem guten Leben auf dem Land, München 2023)

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