Die Wirklichkeit des Engels und die Kunst der Begleitung

Die Wirklichkeit heute erscheint uns in der öffentlichen Darstellung und Wahrnehmung immer mehr als eine schreckliche Wirklichkeit, eine unmenschliche Wirklichkeit. Und dieses Erscheinen behauptet umso mehr die Wirklichkeit zu sein, als es sich in die allgemeine und individuelle Wahrnehmung drängt. Die Erscheinungen dieser Wirklichkeit drängen sich förmlich auf in ihrer Monstrosität und Gewalttätigkeit. Diese Wirklichkeit zieht das allgemeine Interesse mit Gewalt auf sich, man kann ihr kaum entkommen. Es ist eine magisch-dämonische Wirkung des Tötens und des Todes, die von dieser Wirklichkeit genutzt wird, um die Weltaufmerksamkeit permanent auf sich zu lenken. Diese Wirklichkeit ist laut und aufdringlich, man muss nichts selbst tun, um an ihr teilzuhaben, man muss stattdessen etwas tun, um nicht von ihr beherrscht zu werden. Die Wirkung dieser Wirklichkeitsart ist es die Menschen zu spalten, zu polarisieren, sie in Gruppen zu zwingen. Diese Wirklichkeit ist die Hölle.

Eine völlig andere Wirklichkeitsform lebt mehr in den unbeachteten Zwischenräumen des menschlichen Miteinanders. Diese Wirklichkeit und ihre Erscheinungen sind weniger laut und aufdringlich als mehr innerlich und intim. Deshalb ist es nicht so einfach sie zu bemerken, sie zu finden, an sie zu glauben und sie ernst zu nehmen. Gegen die andere Wirklichkeit, gegen die Hölle, kann sie sich nicht gut behaupten. Ein Beispiel für jene Wirklichkeit erzeugt sich (mir) immer wieder in der Begleitung der ehrenamtlichen Sterbegleiterinnen (die wenigen männlichen Sterbebegleiter sind hier mit gemeint). Also auch in der Sphäre des Sterbens und des Todes. Sie erzeugt sich weniger, wenn wir über Probleme der Arbeit sprechen, Probleme mit Einrichtungen, Probleme im Verein usw. Sie entsteht meist wie nebenbei, wenn wir in die Geschichten der Begleiterinnen tiefer hineingehen. Dabei ist ein solches Vertiefen gar nicht so einfach, denn es ist gerade nicht so, dass

die Begleiterinnen ihre gemeinsamen Geschichten mit den Sterbenden oder Verstorbenen unbedingt teilen oder präsentieren wollen. Manchmal ist es ein Anhaken der Begleiterin an irgendwelchen Umständen, manchmal eine Nachfrage der Kolleginnen, manchmal auch eine Bitte die Geschichte doch bitte ausführlicher und konkreter zu erzählen, die dazu führt, dass wir uns gemeinsam, unbemerkt zunächst, in dieser Wirklichkeit des Sterbens uns befinden. Während vorher oft noch die einzelnen Meinungen zu bestimmten Sachverhalten mehr im Vorstellungshaften das Feld bestimmen, tritt dann, wenn wir in diese zwischenmenschlichen Wirklichkeit von Begleiterin und Sterbenden eintauchen, die Geschichte selbst in den Mittelpunkt. Dann dienen die Beiträge der anderen dazu, diese einzelne Geschichte immer konkreter freizulegen. Und damit finden wir uns (plötzlich) in einem anderen, mehr nächtlichen Raum wieder. Nun kann, im besten Fall, etwas geschehen, was das übliche Erzählen von Erlebnissen überschreitet, es kann die Geschichte im Erzählen sich erst in ihrer ganzen Wirklichkeit zeigen, während sie vorher wie latent nur als Möglichkeit in der Begleiterin gelebt hat. Sie wird wirklich dadurch, dass sie aus der Zweisamkeit des bloßen Erlebens heraustritt und sich weiterentwickelt zu einer sowohl individuellen wie gemeinsamen Erfahrung. Das Ereignis dieser Erfahrung ereignet sich erst vollständig in dem gemeinsamen Vertiefen. Und es zeigt sich dabei als etwas, dass bewusst werden kann, ohne dabei Schaden zu nehmen, sprich dass sich das Erlebte abtrennt vom Erzählenden und ihm verlorengeht. Stattdessen zeigen sich solche Geschichten dann wie entwicklungsoffen sowohl für die Verstorbenen oder Sterbenden wie auch für die Sterbegleiterinnen.

Die Ereignishaftigkeit dieser zwischenmenschlichen Wirklichkeit hat ihre ganz eigene Evidenz und Überzeugung. Sie erfüllt die Beteiligten mit Leben und Erleben und Erkennen, ohne dass diese sich widersprechen müssen. Das wird dann oft mit ‚Sinnhaftigkeit‘ der Tätigkeit oder der Erfahrung übersetzt. Es handelt sich aber um das urmenschliche eigentliche Leben, das sich in diesem Raum ereignen kann, und bei dem man gleichermaßen schaffend und erlebend ist. Diese Wirklichkeitsschicht vereint insofern Möglichkeit und Wirklichkeit, was daran bemerkt werden kann, dass diese Wirklichkeit noch offen für die aktive Entwicklung der Beteiligten ist. Damit ist gemeint, dass hier nicht über die Wirklichkeit gesprochen wird, sondern in ihr gelebt und gleichzeitig sie gestaltet wird. Diese Erfahrung konnte insbesondere bei komplizierteren Sterbeprozessen gemacht werden. Diese konnten sich manchmal in eine völlig andere, als vorher gedachte Richtung hin entwickeln, wenn in diesem Sprechraum (ohne die Anwesenheit der oder des Sterbenden) die Geschichte miteinander verlebendigt und weitergedacht wurde. Die Wirkungen in diesen Räumen ähneln denjenigen, die es im Bereich der noch nicht geborenen Kinder, oder auch der jungen Kinder gibt: Die Entwicklungsoffenheit für Beteiligungen von anderen Menschen ist sehr groß (und manchmal notwendend). Natürlich könnte es diese Offenheit auch in anderen menschlichen Beziehungen geben, aber hier wirkt oft das mehr oberflächliche Leben wie verstellend, sowohl für die Möglichkeit solcher Wirkungen, wie auch für die Wirklichkeit solcher Beteiligungen.

Es ist nicht so einfach sich von der lauteren höllenartigen Wirklichkeitsform loszureißen und in dieses intimere zwischenmenschliche Leben und Erleben zu kommen. Denn man versucht ja heute mit großem seelischem Aufwand genau in dieser gewalttätigen Wirklichkeit Menschlichkeit zu finden oder zu fordern. Wer aber einmal von dieser anderen Wirklichkeitsart ‚gekostet‘ hat, entwickelt doch eine stille innere Kraft sich in dieser Wirklichkeit zu halten.

Horstedt, Roland Wiese 21. November 2023


Dieser Text von mir ist, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht zu vermuten ist, ein Kommentar, eine Ergänzung, eine indirekte Rezension des Buches ‚Die Kunst der Begleitung, Was die Gesellschaft von ehrenamtlicher Hospizarbeit wissen sollte‘ , erschienen im Hospizverlag  2018. Was auch nicht zu vermuten ist, dieses Buch ist aus einem Forschungsprojekt entstanden, also richtige Wissenschaft, von Patrick Schuchter, Michaela Fink, Reimer Gronemeyer, Andreas Heller gemeinsam verfasst. Man kann, wenn man den ‚Geschmack‘ kennt, bemerken, dass die geschilderte Wirkung jenes Lebens im Sterben bis in dieses Buch hinein geht. Das ‚Leben im Sterben‘ könnte und kann also auch die Wissenschaft verlebendigen. Ein wunderbares Buch zu einem ‚Gegenstand‘ des Lebens und der Zwischenmenschlichkeit. Das liegt daran, dass die ‚Forschenden‘, vielleicht ohne es zu beabsichtigen, vielleicht auch ohne es zu bemerken, durch ihre Methode, die Geschichten der Sterbegleiterinnen zu bestimmten Aspekten zu sammeln, eine Art ‚Chor‘ von Einzelstimmen und Einzelgeschichten geschaffen haben. Und damit eine neue Form für die einzelnen Geschichten, in der diese wie ‚aufgehoben‘ sind. Man kann sogar den Eindruck haben, dass es für die Lebens- und Sterbesituationen selbst eine Weiterentwickelung bedeutet, so von anderen wahrgenommen und gewürdigt zu werden. Was daran so intensiv berührt ist die Tatsache, dass hier keine Idealisierungen oder Verschönerungen vorgenommen wurden, sondern ‚Wahrheit‘ erzählt und gefasst wird. Die Wahrheit des Sterbens und des Todes. Diese erlebte Wahrheit schafft eine Wirklichkeit, die an sich schon tröstend ist.

Die Wirklichkeit des Engels wird heute (nur noch) von den Menschen gesichert, die in diesen Räumen leben und erleben können und wollen. Es ist eine eigene aktive Bewegung nötig, meist folgend auf eine innere oder äußere persönliche Ansprache, aber diese wird dann, wenn sie vollzogen wird, auch wirklich. Im Gegensatz zur anderen dämonischen Wirklichkeit, die keine aktive Bewegung erfordert, die uns hineinreißt und uns in immer größerer Unwirklichkeit zurücklässt.   

Roland Wiese

Aus dem Buch ‚Die Kunst der Begleitung:

Das Leben lebt in den Geschichten …

Die Geschichten, die die Ehrenamtlichen aufgeschrieben haben, und die Gespräche, die wir mit ihnen geführt haben, machen deutlich: In den letzten Lebenstagen geht es nicht um Fachkenntnisse der Experten, sondern darum, dass Angehörige und Hospizbegleiterinnen sich einschwingen auf das, was Sterbende in der höchst individuellen Situation brauchen. Und das heißt vor allem : da sein, Zeit haben, zuhören, absichtslose Zuwendung, Gespräche, Abschied nehmen. Die Geschichten der Ehrenamtlichen erzählen vom Ringen des modernen Menschen um Sinn und Bodenhaftung in einer Zeit rasanten Wandels und dem Schwinden sozialer Zusammenhänge. Sie sprechen von alltäglichen, bewegenden, heiteren und schwierigen Erfahrungen. Es sind Erfahrungen, die die Ehrenamtlichen als bereichernd erleben und die sie oft an ihre Grenzen bringen. Die Geschichten erzählen von intensiven Begegnungen, die Ehrenamtlichen in der Begleitung machen. Von familialen Konflikten und Versöhnung. Von auseinanderbrechenden Familien. Von überforderten Angehörigen. Von der sensiblen Balance zwischen Nähe und Distanz. Von Menschen, die einsam sterben, die Angst haben, die nicht loslassen können, die sich nicht mehr mitteilen können. Von Menschen, die ihren Tod vorausahnen. Von Menschen, die versäumte Gelegenheiten betrauern, die von Erinnerungen gequält sind. Von Menschen, die dem Tod souverän und gelassen gegenüberstehen und noch Freude am Leben und am Alltäglichen haben.

Der Schlussakt im Leben taucht in der Rede der Ehrenamtlichen nicht als etwas auf, das geplant, organisiert, gestaltet, optimiert werden müsste. In einem gesellschaftlichen und professionellen Hospiz- und Palliativkontext, der stark interventionistisch und normativ geleitet ist, handeln die Ehrenamtlichen eher intuitiv und gefühlsorientiert. Ihre Berichte verweigern sich der Generalisierung und Verdinglichung von Sterbenden. Sie sprechen von der Suche nach sozialem Zusammenhalt im Kleinen, der bedeutsam ist für die Gesellschaft als Ganze. Zugleich ist die hospizliche Begleitung selbst ein Versuch, auf den Verlust gesellschaftlicher Kohäsion eine Antwort zu finden. Indem die ehrenamtliche Hospizarbeit das Sterben der Privatisierung entreißt, kommt ihr eine unmittelbare gesellschaftliche Relevanz zu. Die Berichte erlauben Rückschlüsse auf den Umgang mit Sterben in unserer Gegenwartsgesellschaft. Sie geben Aufschluss über die letzte Lebensphase und über gesellschaftliche Vorstellungen von einem ‚guten Sterben‘: Wie wird gestorben und wie soll gestorben werden?

( … ) Während in der mittelalterlichen Vorstellung und bis in die Neuzeit hinein Sterben und Tod sich nach Gottes Plan ereigneten, hat göttliche Lenkung für den Menschen des 21. Jahrhunderts kaum noch Geltung, Wir wollen unser Leben und Sterben selbst in die Hand nehmen. Das Idealbild eines friedlichen Einschlafens wird in der Vorstellung der Profis zu etwas, das befördert, arrangiert und in standardisierte Dienstleistungsmodule gefasst werden soll. Doch das, was verschwunden ist, ist bedeutsam und lässt sich nicht durch gesellschaftliche Organisation friedlicher Sterbeverläufe kompensieren.

Überall in der Gesellschaft können wir die Tendenz zu einer monokulturellen Entwicklung wahrnehmen. Vielfalt soll Standardisierung weichen: in der Bildung, der Landwirtschaft, in der Sterbebegleitung … Das Verschwinden der Artenvielfalt in der Tier- und Pflanzenwelt vollzieht sich parallel zur Monokulturisierung menschlicher Denk-, Lebensweisen und Ausdrucksformen. Da ist es überraschend, dass in den Berichten der Ehrenamtlichen eine beglückende Vielfalt zum Ausdruck kommt. Das Leben, es lebt in den Geschichten …

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