Ich-Entwicklung begleiten

Ich-Entwicklung begleiten 26.11.2022

In unserem gestrigen Treffen hatten wir zwei Themen, die in Wirklichkeit ein Thema sind. Das eine  Thema war, mehr nebenher und nach dem eigentlichen Treffen, das aktuelle Mediengeschehen mit  der ‚Anthroposophie‘ (oder was immer man dafür hält), das andere Thema, das uns beschäftigt hat, war die Frage nach dem Denken. Ausgangspunkt war ein Zitat auf dem Flipchart: „Das Denken beruht auf Empfindung und ist nur die andere Seite des Gefühls, weshalb alles Denken, was nicht an der Wärme des Gefühls zur Reife gelangt, wie alles Fühlen, das nicht am Lichte des Denkens sich klärt, einseitig ist.“ Das Zitat ist von Bartholomäus von Carneri, einem österreichischen Denker (1821-1909), das von Steiner in seinem Buch ‚Vom Menschenrätsel‘ (1916, S. 116) zitiert wird.

Das gestrige Geschehen ist für mich aber nur Anlass und Ausgangspunkt die Frage nach dem ‚richtigen Denken‘ und dem ‚falschen Denken‘ einmal etwas genauer zu bearbeiten. Das war gestern etwas schwer möglich, weil eine solche Frage gleich ganz viele Fragen und auch viele Gefühle aufwirft. Das Zitat wird im Folgenden dabei keine Rolle spielen, es hat gestern nur den Auftakt gemacht. Was allerdings durchaus eine Rolle spielt, dass eine gegenwärtige Menschenkunde oder Psychologie mit anthroposophischem Anspruch sich in einer schwierigen Lage befindet. Sie muss sich ihren Raum erarbeiten zwischen ‚alter Anthroposophie‘ als Wissensinhalt (und anderen älteren spirituellen Weltanschauungen) und einem oberflächlichen technizistischen Denken der Gegenwart, dass überhaupt keine Zugangsmöglichkeit mehr hat zu einem Denken, das sich nicht an äußeren Daten abstützt und alles andere als ‚Esoterik‘ abqualifiziert. Diese Situation prägt auch alle Arbeitssituationen und Forschungsversuche. Wie schnell gerät man in eine ‚Arbeitskreis-Haltung‘ und repetiert vorhandenes Wissen , wie schnell gerät man in ein allgemeines Reden über…,  oder in ein Überlegen nach Anwendungsrelevanz und Praxis, und wie schwierig ist es miteinander in einen freien Bereich zu kommen, indem alle anwesend sind und man gemeinsam weitergeht. Alle (unsere) Arbeitsformen sind gegenwärtig von diesem Nadelöhr charakterisiert. Selbst wenn man es einmal geschafft hat sich in einen solchen freien Bereich hineinzuarbeiten, kann eine einzige (retardierende) Frage das Ganze wieder zum Abstürzen bringen. Wobei man dann deutlich den Unterschied zwischen dem Erleben in der einen Wirklichkeit und dem Erleben der dann folgenden Wirklichkeit bemerken kann.

Unser Thema, Ich-Entwicklung, zeigt sich in den geschilderten gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen weniger als Selbstoptimierung eines Einzel-Ichs, sondern als schwierige Selbstbestimmung und Orientierung miteinander. Und das gilt eben auch bis in die Arbeitsweise hinein. In unserer Gruppe möchte niemand ein Programm, es wird genau diese freie Arbeitsweise gewünscht, und gleichzeitig wissen wir nicht wie das geht, ohne in die Auflösung der Beliebigkeit oder die inhaltliche Verkrampfung zu kommen. (Dies gilt so auch für andere Formate, deshalb halte ich es für repräsentativ für gegenwärtige Versuche miteinander zu arbeiten!)

Denken und Bewusstsein – Denkkraft und Entwicklung

Die meisten Menschen kennen heute das Phänomen, dass ihr Bewusstsein voll ist mit verschiedensten Inhalten und immer neue Inhalte dazukommen. Man hält diese Bewusstseinsinhalte dann manchmal für Denken. In Wirklichkeit sind es oft Inhalte, die erst mit dem Denken bearbeitet und verarbeitet werden müssten, damit sie zu denkbarem Inhalt werden. Da der Stoff, der das Bewusstsein ausfüllt, aber meist schon von der Menge her viel zu viel ist, schiebt man diese Inhalte eigentlich nur noch hin und her und geht mit ihnen oberflächlich um. Man vertieft sie nicht, entweder weil diese Inhalte das gar nicht hergeben, sie dienen nur technischer Handhabung, haben gar keine Tiefe, oder weil man eben sich schon ganz abgewöhnt hat ‚Dinge‘ zu vertiefen. Diese Fülle kann dann als Überforderung oder sogar als Überreizung erlebt werden. Man ist voll.

Einerseits sind diese Inhalte notwendig, weil sie das Bewusstsein ausfüllen, ja vielleicht sogar aufrecht erhalten. Andererseits wirken sie eher abbauend und erschöpfend. Wenn man sich die Zunahme der Informationen über alle möglichen Weltinhalte ansieht, dann haben gerade die letzten zwanzig Jahre noch einmal eine ungeheure Vervielfältigung der möglichen Informationen gebracht, die täglich in unser Bewusstsein eintreten, gewollt oder ungewollt. Geht man in einem solchen Bewusstseinszustand in eine soziale Begegnung, hat man oft das Problem, dass man selbst übervoll ist, der andere aber auch und man aus dieser Fülle in die Fülle des anderen Menschen spricht. Es quillt quasi aus einem heraus. In einer Supervisionssitzung hat das ein Teilnehmer einmal so ausgedrückt, dass es ihm aufgefallen ist, dass die Menschen immer mehr von sich reden, und gar nicht mehr zu stoppen sind, und er das gar nicht mehr erträgt, aber auch nicht weiß wie er damit umgehen soll! Also die Überfülle der Bewusstseinsinhalte will irgendwie heraus oder verarbeitet werden. Was haben diese Inhalte mit mir zu tun? Diese Frage bleibt meist ohne Antwort.

Das Bewusstsein hat nun nur die Möglichkeit die Inhalte wahrzunehmen, es kann deren Wirkung auf den ganzen Menschen kaum beobachten. Es kann auch nur wenig bemerken, mit welchen Kräften es eigentlich diese Inhalte bearbeiten müsste, oder auch bearbeitet. Man könnte sagen das Bewusstsein ist von seinen Inhalten ‚betäubt‘, so dass es das ‚Vorher‘, die Kräfte,  mit denen ich vorstelle, und das ‚Nachher‘, die Wirkungen meines Umganges mit den Inhalten, nicht mitbekommt. Die Inhalte entzünden das Bewusstsein immer wieder neu und sie erschöpfen es gleichermaßen. Was mit diesem Geschehen erreicht wird, dass es zwar permanent Bewusstsein gibt, aber das es nicht zur Bildung von Selbstbewusstsein kommen kann.

Arbogast Schmitt (‚Die Moderne und Platon‘, S. 279) bezeichnet diese Form des ‚Denkens‘ als eine Einschränkung seiner Tätigkeit auf Vergegenwärtigung, Repräsentation, Bewusstmachung. Er spricht von einer Aufwertung des Bewusstseins zum Denken. Also heute wird Bewusstsein als Denken verstanden und erlebt. Und er fügt hinzu, dass „wir bei konzentrierter geistiger Tätigkeit oft kein Bewusstsein von dieser Tätigkeit haben“. Und er fügt hinzu: „dass das Bewusstsein überhaupt kein wesentliches Moment des Denkens ist. Es kann dabei sein oder auch nicht. Die eigentliche Tätigkeit des Denkens ist nicht, sich einer Sache bewusst zu sein oder zu werden, sondern etwas Bestimmtes unterscheidend zu erfassen und so dem Bewusstsein überhaupt erst einen möglichen Inhalt zu verschaffen.“ Die geistige Tätigkeit des Denkens findet ständig statt, normalerweise haben wir nur ein Bewusstsein davon wie die Ergebnisse im Bewusstsein repräsentiert werden. Wirklichkeit und Evidenz einer Sache  sind für uns heute deshalb heute eine Bewusstseinsfrage und keine Denkfrage (was viele Probleme im Selbstbezug und im Weltbezug mit sich bringen kann).

Wenn man die Denkkraft jetzt aber auf geistige Inhalte richtet, also nicht als Werkzeug benutzt, um irgendein Problem zu lösen oder Informationen oberflächlich zu verarbeiten (z.B. einzuordnen), ist die Denkkraft mit den Formen identisch, mit denen sie ansonsten unbewusst tätig ist, sprich ‚unterscheidet‘ (krinein im griech.). Die Bestimmungstätigkeit erfolgt mit den Bestimmungen, mit denen man unbewusst die Wahrnehmungen bestimmt und unterscheidet. Normalerweise erkenne ich durch die Erkenntnisformen (species – im Mittelalter) die Welt, jetzt wende ich mich den Erkenntnisformen selbst zu. Entsprechend anders ist die Wirkung auf mich und auf mein Leben.

Eine zweite Perspektive auf das Denken findet sich bei Wolf-Ulrich Klünker in seinem Buch ‚Die Empfindung des Schicksals‘. Er spricht dort davon, dass zu einer eigene Beziehung zum Geist auch gehört sich die ‚geistesgeschichtliche Entwicklung der Menschheit‘ zu erschließen. „Man wendet sich also der geistigen Vergangenheit zu und versucht, den geistigen Entwicklungsgang in der Menschheitsgeschichte zu verstehen – vielleicht eher nicht insgesamt, sondern an denjenigen ausgewählten Punkten, für die man offenkundig oder leise ein Interesse hat.“ (S. 83) „Das bedeutet, dass ich mich etwas für Plato oder Aristoteles, für Schelling oder Hegel wirklich interessiere, dass ich den Willen aufbringe, diese einzelnen Denker nicht nur abstrakt, sondern in ihrem individuellen Entwicklungsgang und ihren Intentionen zu verstehen und dass ich schließlich über deren individuelle geistige Entwicklung auch spirituell-menschlich in eine gewisse Beziehung zu den betreffenden Menschen treten kann.“ (ebd.) Man tritt also nicht in Beziehung zu einer abstrakten Wissenschaft, sondern der „individuelle Geist im Menschen trifft auf den Geist, der ebenfalls durch geistige Individualisierung in dem betreffenden historischen Denker, in der Geistesgeschichte gewirkt hat.“(…) „Bei diesem Vorgang ist entscheidend, dass nicht nur auf eine geistige Vergangenheit zurückgeblickt wird, sondern dass diese frühere Geistbeziehung heute aus lebendigem Interesse erarbeitet wird.“ (S. 84) Es kann deutlich werden, dass eine solche Beziehung nichts mit Historismus und Dogmatismus zu tun hat, sondern ein ganz individuelles sich entwickelndes Geist-Verhältnis beinhaltet.

Klünker wendet nun den Blick auf die Lebenswirkungen einer solchen Entwicklung. Natürlich vertieft und erweitert sich durch eine solche Beschäftigung das Wissen über dieses Gebiet menschheitlicher Entwicklung, aber darüber hinaus kann sich das ganze Leben dahingehend verändern, „dass Interessen beginnen sich verlagern; dass Beziehungen zu anderen Menschen ungesucht eine andere Wendung nehmen können, sich vertiefen oder relativieren; dass auf einer sehr basalen Ebene die eigene Lebensstimmung eine andere Färbung erhält, die vielleicht erst nach längerer Zeit zu bemerken ist.“ (S. 85) Weitergehend kann sich die Beziehung zu Natur in dem Wahrnehmungen dahingehend entwickeln, dass man sich weniger der Natur gegenüberstehend erlebt, sondern „immer mehr einbezogen, immer weniger isoliert und >>draußen<< fühlt; dass Licht, Luft Wetter und Umgebung zu einem dauernd sich verändernden >>Raum<< werden können, den man betritt (…)“ (S.85)

Das hier beispielhaft Angeführte bedeutet ja, dass die menschlich individualisierte Denkkraft eigentlich eine Art Empfinden ist/werden kann. Und dieses Empfinden ist eben auch, nur meist nicht bewusst,  lebenswirksam, organisch wie biografisch. Die eigene Denkkraft die an den Übergängen von Subjekt und Objekt; Denken und Denkform tätig war, wirkt jetzt so, dass auch im Leben Entwicklungen an den Übergängen von subjektiv zu objektiv möglich werden, ohne dass diese Entwicklungen inhaltlich direkt mit den erarbeiteten Inhalten zusammenhängen müssen. Es ist deutlich, dass eine solche Entwicklungsperspektive der Denkkraft eine völlig andere ist als eine solche, die rein auf der Wissensverarbeitung und Informationsanreicherung beruht.

P.S.

Gestern hatten wir die Frage der Unterscheidung zwischen einem ‚michaelischen Denken‘ und einem mehr heute üblichen technischen und materiellen Inhalts- und Funktionsdenken. Steiner hat diese Frage in seinen letzten schriftlichen Äußerungen (Leitsätze) ausführlich bearbeitet. Klünker spricht bei der hier beschrieben Beziehung zum Denken von einer michaelischen Beziehung zum Geist. „Indem in dieser Weise ein geistiges Verhältnis hergestellt wird, kann Michael wirken, denn Michael repräsentiert die gesamte Vergangenheit geistiger Entwicklung, wie sie sich, kosmisch-hierarchisch impulsiert auf der Erde abgespielt hat. (…) Michael als das geistige Entwicklung zurzeit leitende Geistwesen hat in angemessener Weise die Entwicklung gegenwärtigen Geistes aus der geistesgeschichtlich-irdischen und kosmischen Vergangenheit zu repräsentieren. Die Präsenz des Geistes ist aber nicht nur geistiger Inhalt, sondern wirkende geistige Kraft.“ Bevor man sich in äußerer Weise an einer solchen Formulierung von ‚Geistwesen‘ stört, kann man sie natürlich auch als Anregung verstehen sich mit einem Wesen der Geistesgeschichte zu beschäftigen, welches auch in der Kulturgeschichte viele Rätsel aufwirft. (siehe z.B. Andrea Schaller, Der Erzengel Michael im frühen Mittelalter, Ikonographie und Verehrung eines Heiligen ohne Vita, Bern 2006 Diss.)

Roland Wiese, 27.11.2022

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