Die soziale Gestalt des Ich

Vom institutionellen Selbst zum Geistselbst

Das Leben in der Gesellschaft ist immer eine Art Spiegel der Ich-Entwicklung der einzelnen Mitglieder dieser Gesellschaft. Dabei kann es natürlich nur einen bestimmten Entwicklungspunkt repräsentieren. So ist beispielsweise die bundesrepublikanische Gesellschaft in ihrer aktuellen Gestaltung Ausdruck der Ich-Entwicklungsstufe, die ein großer Teil der Bevölkerung erreicht hat. Menschen, die sich z.B. noch mehr auf einer impulsgesteuerten Stufe bewegen, geraten deshalb zwangsläufig mit einem solchen Regelsystem aneinander; ebenso werden sich aber Menschen, die eigentlich ein freieres Lebensmilieu bräuchten immer wieder vom institutionell geprägten Leben der Gesellschaft in ihren Bewegungen beeinträchtigt erleben. Insofern sind viele Lebensprobleme und gesellschaftlichen Konflikte unter der Perspektive von Ich-Entwicklung als Reibungsprozesse innerhalb der gemeinsamen Entwicklung zu verstehen. Sie sind in diesem Sinne gar nicht dem einzelnen Individuum zuzuschreiben, sondern der gemeinsamen Entwicklungssituation mit anderen Menschen geschuldet.

 

Die Ich-Form des ‚institutionellen Selbst‘ wird von Robert Kegan so charakterisiert, dass es „im wahrsten Sinne des Wortes ein Verwaltungsbeamter (ist)“ (R.Kegan,S.142) „An Stelle der Unmittelbarkeit der aus zwischenmenschlichen Beziehungen hervorgehenden Gefühle finden wir die Vermittlung dieser Gefühle durch das institutionelle Selbst, das nun die Regulation übernimmt. Es geht nicht mehr um die wechselseitigen Beziehungen selbst, sondern um ihre Steuerung.“ (S.143) und weiter: „Das heikle Gleichgewicht der Stufe 4 ist dadurch gekennzeichnet, dass das ‚Selbst‘ zwar aus der Gefangenschaft der gemeinsamen Realitäten befreit ist und die Eigenregierung übernehmen kann, ohne dass es aber ein ‚Selbst‘ gibt, das über die Forderungen, die diese Regierung stellt, urteilen könnte. Damit besteht die Gefahr übertriebener Kontrolle, der jede Regierung ausgesetzt ist, die keinen übergeordneten Bezugsrahmen hat, um ihre Gesetze begründen und rechtfertigen zu können.“ (S.143) Kegan hat dies 1982 in seinem Buch die ‚Entwicklungsstufen des Selbst‘ geschrieben. Der Untertitel lautet „Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben“. Darin entdeckt er, anschließend an die Forschungen Piagets, wie sich menschliche Entwicklung in der Spannung zwischen einem zentralen Ich und einer Umgebung dieses Ichs vollzieht. Dabei muss sich das Ich in seiner Form immer wieder völlig auflösen und umgestalten, indem es die äußere Einbindung zu einer inneren Form verwandelt. Damit emanzipiert es sich von der äußeren Einbindung und verinnerlicht die Prinzipien der Umgebung nach seiner eigenen Möglichkeit. Die Subjekt-Objekt Verhältnisse verlagern sich in diesem Geschehen immer wieder ins Innere. Man könnte grob sagen: Die äußeren Verhältnisse werden zu inneren Verhältnissen und dadurch erlebt, aber auch mit sich selbst verbunden. So sieht sich das Selbst auf der nächsten Stufe (5) bei Kegan, damit konfrontiert, dass es die institutionellen Verhältnisse der Kontrolle und Steuerung in sich bemerkt und reflektiert und mit ihnen umgehen muss. Kegan schreibt: „Indem der institutionelle Bezugsrahmen ‚vom Subjekt zum Objekt‘ wird, kann sich das Selbst von einer falsch verstandenen Wertordnung befreien, für die Aufrechterhaltung der Institution zum Selbstzweck geworden war. Es gibt jetzt eine Basis, von der aus der institutionelle Rahmen beurteilt und gelenkt werden kann, während vorher die Institution selbst die Basis war.“ (S. 145) „Was geschieht mit unserem Gemeinschaftsbegriff auf Ich-Stufe 5? Wenn wir fähig werden, die Organisation des institutionellen Rahmens zu übernehmen, betrachten wir andere nicht mehr als dem Zweckdenken verhaftete Mitmenschen (Ich-Stufe 2), wir erleben sie auch nicht als Partner, mit denen wir verschmolzen sind (Ich-Stufe 3) oder als regierungstreue Staatsdiener (Ich-Stufe 4), sondern wir begreifen sie als Individuen – wir begreifen sie als Menschen, die sich selbst und andere als fähig erleben und erleben können, Werte zu setzen, Systeme zu schaffen, Geschichte zu machen. Die Gemeinschaft wird zum ersten Mal ‚universal‘, sie wird zu einer Gruppe, der alle Menschen allein aufgrund ihres Menschseins zugehören. Die Gruppe, die von diesem Selbst als ‚seine‘ Gruppe‘ anerkannt wird, ist keine Pseudospezies, sie ist die Spezies.“ (S.146) Das skizziert aus der Perspektive der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts sehr genau unsere aktuelle Entwicklungssituation. Die Folge ist, dass sich die Funktion der Organisation umdreht: „Das Funktionieren der Organisation ist nicht mehr Selbstzweck, wichtig ist inwieweit diese Organisation den Zielen des neuen Selbst dienen kann, dessen Bezugsrahmen über diese besondere Organisationsform hinausreicht.“ (S. 147)

 
Ich habe bewusst hier eine Perspektive der amerikanischen Entwicklungspsychologie gewählt, weil hier unabhängig von menschenkundlichen Begriffen, wie sie in der Anthroposophie entwickelt worden sind, die Prinzipien der Ich-Entwicklung skizziert werden. In einer aktuellen Beschreibung der Ich-Stufen, oder auch Seelen-Stufen, wie sie in der anthroposophischen Psychologie gedacht werden, klingt das dann so, dass das Ich je nach Einstellung oder Entwicklung verschiedene „Resonanzräume“ betritt, oder betont. „Ich betone also bei dem Begriff Empfindungsseele den Erlebnisraum der eigenen Empfindung stärker und lebe ihn in mir aus: die Empfindung, mit der ich mit der Welt verbunden bin, mit dem anderen Menschen und mir selbst. Die Verstandesseele macht- vor allem auch im Mittelalter ausgebildet, in der Scholastik – den Erlebnisraum auf, den ich betrete, wenn ich das eigene Denken erlebe, die Zusammenhänge erlebe zur Welt, die eben nicht so stark durch die Empfindung gegeben sind. (…) Bei der Bewusstseinsseele, ist es so, dass ich diesen Erlebnisraum nicht mehr vorfinde, sondern selber ausbilden muss.“ (W. U. Klünker, Zeitschrift Info 3, 11,2019, Eine totale Seelenrevolution Interview). „Die Bewusstseinsseele ist meines Erachtens die totale Seelenrevolution. Sie integriert alle Seelenaspekte, die wir anfangs zu charakterisieren versucht haben. Sie schafft, gruppiert, sie formt die Seelenglieder vom Ich her neu. Ich bringe das immer auf den griffigen Satz: Bis zur Bewusstseinsseele geht alle Entwicklung zum menschlichen Ich hin. Ab der Bewusstseinsseele geht sämtliche Entwicklung vom Ich aus. Das heißt: jede Entwicklung geht von mir aus – auch in der zwischenmenschlichen Begegnung. Bewusstseinsseele heißt in diesem Sinne, dass das Ich geistselbstfähig wird. (…) Geistselbst bedeutet letztlich, dass ich von einem neuen Denken her meine Empfindung und damit auch meine gesamte leibliche und sonstige Grundlage verändere.“ (ebd.) Wenn man dies zu Ende denkt, wird deutlich, dass eine solche vom Ich ausgehende Selbst- und Weltentwicklung sich ganz eigene Erlebnis- und Lebensräume schafft, aber auch solche benötigt.

 
Unser Rechtssystem, und die immer stärker werdenden Bemühungen alles zu steuern und zu kontrollieren, deuten darauf hin, dass das institutionelle Selbst, oder auch die Verstandes- und Vernunftseele ihren Höhepunkt überschritten haben und beginnen schädigend in das Leben hinein zu wirken. In einem Gespräch mit einer Leitung in einem Amt konnte ich vor Kurzem wieder einmal erleben, wie problematisch, sich das Gefangensein in den eigenen Regeln und System zeigt. Es ging darum eine Lösung für eine komplizierte Situation zu finden,  die Mitarbeiterin verwies auf die Regeln, ich auf die Suche nach einer Lösung. Meinem Gegenüber wurde plötzlich klar, was ich da verlangte,  und was das bedeuten könnte – in einer entsprechenden Weiterentwicklung, also über den Einzelfall hinaus. ‚Wo kämen wir denn dahin, wenn jeder hier entscheiden könnte wie er wollte?‘ Fragte sie mich und sich voller Erschrecken über eine solche Möglichkeit. Rückwärts gedacht kämen wir in ein altes System der Willkür zurück, vorwärts gedacht zu einer Organisation, die der Entwicklung des einzelnen Menschen dient. Ähnlich formuliertes es in dieser Woche eine Geschäftsführerin einer sozialen Einrichtung: Die Corona-Krise habe wie mit einem Brennglas die Baustellen sichtbar gemacht, die unsere Arbeit behindern. Die Baustellen gibt es schon die ganze Zeit – der Versuch die Hilfe für andere Menschen nach genau quantifizierten und qualifizierten Massstäben abzurechnen und kontrollieren zu wollen, zeigt sich als gescheitert, wenn man sich der Aktualität entsprechend eigentlich frei bewegen können muss um helfen zu können. Dies zeigt sich ja auch im sogenannten ‚Gesundheitssystem‘, das in Wirklichkeit ärztliche und pflegerische Hilfe für Menschen ermöglichen soll, stattdessen aber zu völligen Fehlsteuerungen geführt hat, weil alle Bereiche des Lebens mit solchen nicht lebendigen (und damit nicht empfindungsfähigen) Steuerungsbemühungen nicht ihrem Auftrag gerecht werden können. Eine Steuerung von Lebensfunktionen, sei es im einzelnen lebendigen Organismus, oder auch im gesellschaftlichen Leben und in der sogenannten Natur, kann eigentlich nur noch von einem empfindungsfähigen Ich im Austausch mit anderen empfindungsfähigen Menschen geschehen. Das regelnde Recht wird sich in Zukunft von einem Rechtsgefühl ablösen lassen müssen, das situativ und anlassbezogen ist. An der Rechtsentwicklung wird sich die Ich-Entwicklung ablesen lassen und umgekehrt. Diese Entwicklung kann nur vom einzelnen Ich ausgehen, aber wichtig ist es Begriffe zu entwickeln, in denen diese Ich-Entwicklung als Möglichkeit vorhanden ist.

 
Auch den amerikanischen Psychologen war klar, dass man eine solche Ich-Entwicklung gerade nicht institutionell organisieren kann (das wäre der Widerspruch in sich). „Es braucht außergewöhnliches Bemühen und wahrscheinlich auch Pein, um auf dem Weg in Richtung Weisheit und persönlichem Wachstum voranzuschreiten. Der Umfang kritischer Selbstprüfung und das Ausmaß an Flexibilität und Ungewissheitstoleranz, die notwendig sind, um diesen Fortschritt zu ermöglichen, erfordern eine besondere Kombination an persönlichen Eigenschaften, Motivation und Erfahrungskontexten, die selten vorkommen.“ (Staudinger und Kunzmann bei T. Binder, Ich-Entwicklung für effektives Beraten S. 326). Der etwas resignative Ton der Wissenschaftler mag auch damit zusammenhängen, dass in den Studien zur Ich-Entwicklung deutlich wurde, dass die meisten Menschen, selbst mit akademischer Ausbildung, auf einer ganz bestimmten Stufe des Ich, der rationalistischen Stufe (entspricht ungefähr der des ‚institutionellen Selbst‘ oder auch der ‚Verstandesseele‘), stehenbleiben. Man hat auch herausgefunden, dass bestimmte Bedingungen die Entwicklung fördern: „Potenziell entwicklungsfördernde Lebenserfahrungen stellen die Struktur der bisherigen Ich-Entwicklungsstufe in Frage, sind persönlich bedeutsam, emotional fordernd, interpersoneller Natur und als Herausforderungen positiv interpretierbar. Die Studien zur Ich-Entwicklung (…) weisen zusätzlich auf ein bestimmtes entwicklungsförderndes Klima hin: Dies scheint in einer besonderen Mischung von unterstützendem, wohlwollenden und gleichzeitig herausfordernden, sowie in Frage stellenden Verhaltensweisen im Umfeld anderer Mensch zu bestehen.“ (Binder S.84) Das ‚Paradox‘ der Förderung von Ich-Entwicklung in Bezug auf die entsprechenden Umweltbedingungen wird ansatzweise deutlich. Eine grundsätzliche Voraussetzung scheint darin zu liegen, dass man sich als ein ‚geistiges Lebewesen‘ versteht und erlebt (hat), dass nicht an den einzelnen Eigenschaften der eigenen Person ‚klebt‘ sondern diese in der Lage ist zu ‚verdauen‘. Markus Gabriel formuliert es unnachahmlich kompliziert definitorisch: „Geist ist also eine indefinit (unendliche R.W.) Dimension unserer Selbsterfassung als wahrheitsfähiger Lebewesen. (…) Die einzige Invariante, die man zu dieser Charakterisierung unser Charakterisierungsfähigkeit postulieren muss, ist die hier beschriebene Dimension der Modifizierbarkeit unserer selbst.“ Die gegenwärtige Zeit fordert schon dieses wahrheitsfähige Lebewesen, aus dessen realen Lebensbewegungen und -Vollzügen heraus sich neue gesellschaftliche Lebensformen entwickeln.
Roland Wiese 13.6.2020

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