Das Ich im Grenzbereich des Lebens

Die Umbildung geisteswissenschaftlicher Begriffe für eine Psychologie des Ich

Der folgende Beitrag ist ein Nachklang zweier Veranstaltungen der Forschungsstelle für Psychologie DELOS, kann aber auch unabhängig von diesen gelesen werden. In den Veranstaltungen ging es in der ersten um ein aktuelles und realistisches Verständnis früherer Hochschulansätze in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners und damit um ein Verständnis der ‚Schwellensituation‘ des Ich, in der zweiten Veranstaltung ging es um ein Verständnis des ‚Ätherischen Menschen‘, verkürzt also um eine Verständnis des Menschen, der sich inzwischen in einer ‚Wasserwirklichkeit‘ des Lebendigen bewegen können muss, sich aber immer noch in einer physischen Gegenstandswelt denkt.

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Die aktuelle Zeitlage scheint sich dahingehend zuzuspitzen, dass das Krisenhafte des Lebens nicht zur Ausnahme, sondern zum Dauerzustand wird. Dies gilt sowohl für die größere Zeitlage, wie auch für das einzelne Leben. Da die meisten dieser Krisen direkt oder indirekt menschengemacht sind, zeugen sie davon, dass unsere Lebensformen nicht wirklichkeitsfähig sind. Die Krisen werden auch allgemein immer als ein Aufwachen verstanden aus vorherigen illusionären Lebenshaltungen und Einschätzungen dessen was Leben ist. Oft wird in den Krisen dann mit drastischen Reaktionen (und manchmal auch Fehl- und Überreaktionen) versucht den Anforderungen der Wirklichkeit gerecht zu werden. Das ganze Geschehen ähnelt dann aber mehr dem was geschieht, wenn ein Mensch, der nicht schwimmen kann ins Wasser gerät und droht unterzugehen. Er wird hektisch und versucht mit allen möglich Bewegungen sich über Wasser zu halten, wehrt oft selbst Rettungsversuche ab, und geht doch letztlich unter. Hilfreich wäre es gewesen sich vorher mit den Gesetzmäßigkeiten des Wassers durch Schwimmen Lernen vertraut zu machen. Wenn man sich fragt, ob es im Vorfeld der Krisenwirklichkeit unseres aktuellen Lebens denn Möglichkeiten des Schwimmen Lernens gab, dann muss man etwas tiefer in das letzte Jahrhundert schauen. Man kann dann tatsächlich Beschreibungen solcher menschlicher Lagen finden, allerdings nicht als Lebenspsychologie, sondern als Beschreibung für selbst erzeugte Entwicklungssituationen, durch geistige Schulung. Wenn man die damaligen sogenannten esoterischen Schulungsansätze in dieser Hinsicht untersucht, ob sie möglicherweise eine Art Vorlauf und Vorschein auf eine Wirklichkeit waren, die jetzt allgemeine Lebenswirklichkeit für viele Menschen geworden ist, dann könnte aus ihnen eine Lebenspsychologie des Ich gewonnen werden. Dazu müsste man sie aber transformieren aus einer historischen Situation, in die sie vor einhundert Jahren eingebettet waren, in die aktuelle Gegenwart. Einige Ansätze in dieser Richtung sollen hier exemplarisch geschildert werden. Damit wird aber auch erst verständlich, was mit ‚Ich-Entwicklung‘ eigentlich gemeint ist.

Einer der Zentralbegriffe der esoterischen Entwicklung des letzten Jahrhunderts ist der Begriff der ‚Schwelle‘. Ein frühes Beispiel für dieses Zentralthema ist  Steiners Text von 1913 ‚Die Schwelle der geistigen Welt‘. Im Titel wird schon die Schwelle im doppelten oder dreifachen Genitiv angesprochen, als Schwelle der geistigen Welt, oder als Schwelle zur geistigen Welt usw. Für die damalige psychologische Konstitution des Menschen mit einer starken Verankerung in der ‚sinnlich wahrnehmbaren Welt‘ eine Übergangsproblematik: Man musste sich erst einmal aus der durchaus noch gegebenen seelischen Einbindung in die sinnliche Welt herauslösen, um sich in einer Welt zurechtzufinden, ja eine solche Welt überhaupt ‚wahrnehmen‘ zu können, in der andere Gesetzmäßigkeiten gelten als in der einfachen Welt der äußeren Sinne. Es wird also eine Unterscheidung zwischen sinnlicher Welt und geistiger Welt gemacht und die Schwelle ist das, was den Übergang zwischen diesen beiden Welten deutlich macht. Man könnte auch sagen eigentlich handelt es sich um eine einzige Welt, die für den Zweck des Erkennens in zwei Welten unterschieden wird. Man kann das Verhältnis zwischen geistigen Ursachen und sinnlichen Erscheinungen nur richtig denken und erleben, wenn man diesen Unterschied erst einmal klärt. In dem Buch ‚Die Schwelle der geistige Welt‘ wird im Sinne eines Begriffsaufbaus grundlegend die Voraussetzung dafür geschaffen, sich der unterschiedlichen Wirklichkeiten (in der einen Wirklichkeit) bewusst werden zu können. Ohne zusätzliche Eigenbemühung waren die Menschen damals aber noch ‚geschützt‘ vor dieser sogenannten ‚geistigen Welt‘  sie ‚steckten‘ noch fest in sich und ihrer natürlichen und sozialen Umgebung. Aber, und das ist der Grund, warum von Steiner in dieser Zeit die entsprechenden Grundlagen geschaffen wurden für den Schwellenübergang, durch Wissenschaft und Technik wurden die Menschen zunehmend aus der Einbindung herausgelöst und in die technische Welt hineingezogen. Diese technische Welt kann aber nicht das bieten, was die alte natürliche und soziale Umgebung den Menschen gegeben hat: geistige Orientierung und Zusammenhänglichkeit. Sie trägt solche Kräfte nicht in sich. Insofern droht der Mensch herauszufallen aus sich und der ‚geistigen Welt‘. Der Übertritt über die Schwelle, wie es Steiner formuliert, ist eine Entwicklung, die für die Menschheit allgemein ansteht. Die damalige esoterische Sonderform, oder Vorform dieses Übertretens, ist insofern notwendig als erster Schritt einer solchen Entwicklung! Ziel ist es, durch eigene Erkenntnisbemühung sich einen individuellen geistigen habitus, oder geistigen Raum aufzubauen, der in der Lage ist, die eigene geistige Führung im Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu übernehmen, wenn eine solche nicht mehr ‚natürlich‘ gegeben ist.

Steiner spricht hier ein zentrales Bewusstseins-Ich an, dass aber noch in einer seelischen Lebensumgebung eingebunden ist. Das heißt diesem zentralen Ich entspricht noch kein peripheres Ich als individualisierte Lebensumgebung. Der erste Schritt der Entwicklung dieses zentralen Ichs ist der Aufbau einer individuelleren seelischen Konstitution und einer entsprechenden Gewohnheitsbildung aus dem Ich. Ich zitiere hier einmal aus dem Buch von 1913: „Die Einsicht in die Ergebnisse der Geisteswissenschaft wird erleichtert, wenn man im gewöhnlichen Seelenleben dasjenige ins Auge faßt, was Begriffe gibt, die sich so erweitern und umbilden lassen, dass sie allmählich an die Vorgänge und Wesenheiten der geistigen Welt heranreichen. Wählt man nicht mit Geduld diesen Weg, so wird man leicht versucht sein, die geistige Welt viel zu ähnlich der physischen oder sinnlichen vorzustellen. Ja man wird ohne diesen Weg nicht einmal zustande bringen, eine zutreffende Vorstellung von dem Geistigen selbst und seinem Verhältnisse zum Menschen sich zu bilden.“ (Kapitel 2 Von dem Erkennen der Geistigen Welt , S. 103) Man sieht es geht erst einmal um eine begriffliche Annäherung, um eine Vorstellungsbildung. Das heißt der merkwürdige Dualismus der Anthroposophie der ersten Jahre dient der ersten Unterscheidung zwischen bestimmten Wirklichkeiten. Die Methode wird aber auch auf dem weiteren Weg beibehalten, die Begriffe „des gewöhnlichen Seelenlebens“ werden benutzt als Grundlage für die zu bildenden Begriffe für die geistigen Verhältnisse im Unterschied zu den sinnlichen Verhältnisse. Dabei wird das Umbilden der Begriffe selbst als die Tätigkeit beschrieben, die notwendig ist, damit man nicht den Fehler macht, mit den Begriffen für die physische Welt sich die geistige vorzustellen. Ich schildere dies hier so ausführlich, weil genau diese Fehler im heutigen Diskurs ständig gemacht werden.

Wenn man das Datum 1913 konkret fasst, dann sieht man, dass wenig später, 1914  eine dramatische Entwicklung begonnen hat, die dann im 20. Jahrhundert die gesamten Lebensverhältnisse der Menschen grundlegend verändert hat. Transzendentale Obdachlosigkeit, seelische Einsamkeit, und geografische und damit physische Entwurzelung sind die Kennzeichen der Entwicklung und die Voraussetzungen und Forderungen an den Menschen, dies durch eigene Ich-Entwicklung zu ersetzen. Ich-Tätigkeit deswegen, weil die einfache Orientierung an den äußeren Verhältnissen anscheinend nicht eine wirkliche Grundlage für ein kontinuierliches und geschlossenes Selbstgefühl geben kann, die Wechselhaftigkeit des Lebens und der Lebensverhältnisse, das heißt die Orientierung an den äußeren Verhältnissen gibt dem Menschen keinen ausreichenden Halt, keine wirkliche Stütze mehr. Der ständig drohende Wegfall solcher scheinbaren Stützen in Beziehungen, in Arbeitsverhältnissen usw. bedroht das Ich in seiner Existenz. Das heißt, nur die Eigenkonstitution als geistiges Wesen und in der Folge als individuelles seelisches Wesen und wiederum in der Folge als lebendiges Wesen, wird dem Ich wieder die Tragfähigkeit geben, die es braucht, um sein Leben zu führen.

Man kann dies als ein ‚Über die Schwelle‘ Gehen der Menschheit verstehen. Die Menschheit und der einzelne Mensch sind gewissermaßen ohne die notwendigen Begriffe über die Schwelle in eine Welt geraten, die anscheinend physisch-sinnlich ist, sich aber nicht so verhält, sondern sich als völlig instabil und krisenhaft zeigt, sowohl im einzelnen Leben, wie menschheitlich. Selbst die bisher tragende Natur ist weggebrochen und will vom Menschen getragen werden. Man spricht von der Volatilität der Verhältnisse, vom ‚Auf Sicht Fahren‘  usw. um zu kennzeichnen dass wir uns nicht mehr in einer dreidimensionalen Welt befinden, wo klar ist wo oben und unten ist usw. Man könnte dies noch weiter ausführen und belegen, aber in diesem Zusammenhang geht erst einmal nur um die Feststellung, dass wir uns in einer Lebenswirklichkeit befinden, die Merkmale der Schwelle aufweist, und die deshalb von uns verlangt, sich entsprechend zu verhalten.

Ein Problem, neben der geschilderten Weltentwicklung, die ja in Wirklichkeit eine Folge der Ich-Entwicklung des Menschen ist, ist, dass die damals zu Beginn des 20. Jahrhunderts angelegten Verständnismöglichkeiten für diese Welt zwar durchaus zur Kenntnis genommen worden sind. Dies aber nur von einem menschlichen Zusammenhang, der die damaligen Grundlagen Steiners immer noch 1:1 in ihrem ursprünglichen Zusammenhang behandelt. Diese historisierende Isolierung wesentlicher menschenkundlicher Voraussetzungen verhindert ihre Zugänglichkeit für die heutige Lebenssituation. Man hat heute andere Sorgen, als einen ‚Schulungsweg‘ zur geistigen Entwicklung zu gehen. Wolf-Ulrich Klünker hat sich dieser Transformation ausdrücklich und ausführlich angenommen. Grundlegend zum Beispiel in dem Buch ‚Die Erwartung der Engel‘, Der Mensch als neue Hierarchie (2003). Exemplarisch für das Thema ‚Schwelle‘ sei  hier auf einen Aufsatz verwiesen, der mit dem Titel „Geisteswissenschaftliche Merkmale der Schwelle“ zuerst in den Mitteilungen der Anthroposophischen Gesellschaft erschienen ist, später aber auch in dem Buch ‚Anthroposophie als Ich-Berührung‘ abgedruckt worden ist (2010). (Er ist auch auf der Seite der DELOS Forschungsstelle zu finden). In diesem Aufsatz bezieht Klünker die Schwellenthematik auf die heutigen individuellen und kollektiven Grenzsituationen der letzten Jahrzehnte und konstatiert, das „Leben und geistige Realität an der Schwelle (…) so eng (zusammenrücken), dass sie fast identisch werden und verwechselt werden können. Die früheren Erkenntnisgrenzen (man denke an die umzubildenden Begriffe R.W.) für den Einblick in die geistige Welt werden zu irdischen Lebensgrenzen mit seelischen Schwellenerlebnissen.“ (S.52) Diese Entwicklung der Erkenntnisgrenzen zu Lebensgrenzen denken zu können wäre ein erster Schritt, um verstehen zu können, in welcher Lage wir Menschen uns heute befinden. Hier wird auf diese Entwicklung erst einmal nur hingewiesen , ohne sie tiefer zu befragen. „Individuelle Lebenslage und seelische Innensituation spiegeln die objektive Wirklichkeit einer Entwicklungsgrenze der Menschheit“ (S.52) Nicht umsonst, haben viele Beobachter der aktuellen Situation den Eindruck, dass das vergangene Jahrhundert wiederauferstanden ist. An einer solchen Grenze kann man auch zurückprallen, weil man das Vorwärts nicht sehen kann und sich am Vergangenen festhalten will. „An diesem Berührungspunkt von Innen und Außen stellt sich häufig der Eindruck ein: So kann und darf es nicht weitergehen. (Man spricht dann von Zeitenwende, meint aber meist ein Zurückwenden! R.W.) Das Gefühl der Unerträglichkeit, gleichzeitig aber auch der Machtlosigkeit zur Änderung; die Suche nach neuer Kraft, wenn die aus der Vergangenheit wirkenden Kräfte sich biographisch erschöpfen; die Sehnsucht nach seelisch-geistiger Tragfähigkeit, wo die mitgebrachten Erlebnisweisen und Beziehungen sich als illusionär erweisen – alles Hinweise auf die Notwendigkeit, die Merkmale der Schwelle geisteswissenschaftlich zu verstehen.“ (S.52)

Das was bei Rudolf Steiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als innerseelische Schwellensituation geschildert wurde, ist heute mitten im Leben angekommen. Es ist gewissermaßen existentielle Lebenssituation geworden, der nicht mehr auszuweichen ist. Insofern müssten auch die Strategien des Umganges mit dieser Entwicklung der Schwellensituation aktualisiert werden. Wolf-Ulrich Klünker skizziert eine solche Aktualisierung in seinem Aufsatz, indem er die geschilderten Lebenssituationen differenziert in „vor der Schwelle“  in „Schwellennähe“, dann „auf der Schwelle“ und in „jenseits oder hinter der Schwelle“. Die schon oben geschilderte Grenzerfahrung ist ganz deutlich eine Erfahrung vor der Schwelle, sie ist seelisch meist schon da, bevor dann in Schwellennähe, sich alle Verhältnisse (geistig, seelisch, leiblich und sozial) beginnen real zu chaotisieren, sprich aufzulösen. Auf der Schwelle „zeigt sich die Notwendigkeit, situative Urteils- und Entscheidungsfähigkeit auszubilden, in innerer Aufrichtigkeit auf die eigene Situation zu blicken (>>schonungslos>>).“ Das heißt die risikobehaftete Situation anzunehmen. Die Offenheit aller Prozesse auszuhalten, setzt aber voraus sich geistig selbst halten zu können und nicht zu versuchen mit geistigen Inhalten der Vergangenheit (seien sie noch so bedeutsam) die Leere zu füllen. Nur dann, wenn man sich in dieser Offenheit halten kann, kann man zu Wahrnehmungen des wirklich Neuen aus der Zukunft kommen, ein Merkmal das Klünker für die Situation hinter der Schwelle beschreibt. „(…) eventuell auch Einsichten, die nicht bewusst vorbereitet waren, sich aber nun aus der Grundhaltung von situativer Aufmerksamkeit ergeben; daraus kann dann eine innere und äußere Lage des Ich entstehen, die eine neue Anknüpfung an die eigene biographische und schicksalhafte Vergangenheit ermöglicht.“  Diese Anknüpfung ist dann aber ichgeprägt und wirkt „eigentümlich >>frei<<.“

Man wird an diesem exemplarischen kleinen Beispiel bemerken, wie notwendig eine Umschmelzung und Umbildung der Begriffe notwendig ist, die in der alten esoterischen Schulung wie eingeschlossen sind, um zu einer aktuellen Ich-Psychologie zu kommen, die dem Ich Begriffe gibt, mit denen es heute als Ich leben kann.

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