Am Wochenende (21.10. -23.10.22) fand in Alfter auf Initiative von David Richardoz ein Forschungskolloquium mit Studierenden von der Alanus Hochschule und der Cusanus Hochschule zu den Perspektiven einer zeitgemäßen Ich-Psychologie statt. Neben Wolf-Ulrich Klünker, Ramona Rehn und Emmanuel Rechenberg hatte David auch mich für einen Beitrag eingeladen.

Die Bewusstseinsseele (BW/S) fand nur noch auf der Wand neben der Tafel Platz
Abstraktion und Leben – die Therapie des Ich
Das Folgende ist kein Bericht über das oben genannte Kolloquium. Ich gehe mit einigen Eindrücken und Empfindungen aus dem Treffen um. Es handelt sich insofern nicht um Forschungsergebnisse, sondern um Forschungsanfänge…
Eine gewisse Paradoxie: Das Abstrakte, die Theorie der Menschenkunde, an die Tafel gezeichnet, – hat eine verlebendigende Wirkung. Noch merkwürdiger: es wirkt in der gemeinsamen Beschäftigung in die konstitutionellen Untergründe der Beteiligten hinein, ruft diese hervor. Fragen der Pathologie, Krankheit, aber auch geistige Fragestellungen wachen in den Einzelnen auf, werden sichtbar und spürbar. Weitergehend, durch das Persönliche hindurch, werden grundsätzliche Forschungs-Fragen deutlich: zum Beispiel die Frage nach der eurythmischen Bewegung. Das ‚Abstrakte‘ als schwarzer Faden durch alle auftauchenden Bewegungen hindurch.

Physischer Leib/äth.Leib/äth.-astral/astral-äth./astral.Leib/Ich/Bew.Seele. Ein abstraktes Schema, mit dem Fokus auf den mittleren Bereich: Das Leben wird seelisch; das Seelische wird Leben! Das normalerweise unbewusst verlaufende Leben, organisch und biografisch, wird erlebend und erlebt. Das normalerweise vom Leben abgetrennte, nur spiegelnde Bewusstsein wird lebenswirksam aber auch Leben.
Was ist Abstraktion, Abstraktheit heute? In der Geistesgeschichte gibt es unterschiedliche Verfahren des Abstrahierens. Das Abstrahieren ist (bei Platon und Aristoteles) das Werkzeug des menschlichen Denkens, um etwas in seiner Wesenheit zu bestimmen. Im Mittelalter bemerkt sich der Denkende im Abstrahieren selbst als Denkender, es dient also der Selbstbestimmung und der Sachbestimmung. In diesem Vorgang bildet sich das Ich als Ich-Form im Denken heraus. Heute scheint die Abstraktion eine neue Funktion zu haben. Wir sind als Menschheit durch die Abstraktion hindurch gegangen! (W. U. Klünker). Eine Folge dieses Durchganges ist die beinahe vollständige ‚Mechanisierung‘ aller Lebensbereiche. Abstrakte Modelle, Formeln, Systeme werden auf das Leben technisch angewandt. Die abstrakte Forschung hat ihre Wirklichkeit ‚nur‘ noch in der technischen Anwendbarkeit, ja ihre Voraussetzung ist (oft) eine technische Anwendung, die wie eine Abstraktion wirkt und die Forschung erst ermöglicht. Ein eigene geistige Wirklichkeit, wie sie im Mittelalter noch im Denken wahrgenommen wurde, ist nicht mehr vorhanden. „Andererseits wird das Kosmisch-Geistige im 20. Jahrhundert, also an einem gewissen Endpunkt seiner Entwicklung, in der abstrakten Intellektualität des menschlichen Denkens zu einer dünnen, gleichsam pergamentartigen Membran. Es verliert das Leben, die geistige Tiefe und Substanz, wird reduziert auf abstrakte Formen und Inhalte des Denkens; geistige Inhalte werden an den Glauben und die Religion bzw. an die Überzeugung einer subjektiven Weltanschauung delegiert.“ (W. U. Klünker, Die Empfindung des Schicksals, S. 156). Die ehemals kosmische Formkraft und damit Wirklichkeit der ‚Natur‘, des ‚Kosmos‘, ist immer mehr in die Intellektualität des menschlichen Denkens eingezogen, ohne dass dieses Denken sich dieser Herkunft bewusst ist. So schreiben z.B. Dieter Henrich und Lambert Wiesing übereinstimmend, dass Denken und Selbstbewusstsein als gegebene Tatsache hingenommen werden müssten, ohne dass man ihre Herkunft klären könne. Johannes Scotus Eriugena (9. Jahrhundert) und Albertus Magnus (13. Jahrhundert) haben eine solche Entwicklung dahingehend prognostiziert, dass die schaffenden Erkenntnisformen aus der Natur in das Denken des Menschen übergehen. Aber sie sind davon ausgegangen, dass sie dann durch den menschlichen Geist wieder zum göttlichen Sein zurückgeführt werden.
Man kann also berechtigt davon sprechen, dass der ‚kosmische Geist‘ im abstrakten Denken heute an einen gewissen Endpunkt gekommen ist. Wolf-Ulrich Klünker sieht in dieser Entwicklung die Notwendigkeit und die Möglichkeit dafür, dass „aus dieser dünnen, pergamentartigen Membrane des Geistes (…) für das menschliche Ich eine seelische Empfindung für den ehemals kosmischen Geist entstehen (kann): Der Geist wird gleichsam so dünn und leer, dass er im menschlichen Ich wie durch seelische Luft bewegt werden kann – wenn sich der Mensch auf ihn bezieht.“ (ebd. S. 156) Es geht also jetzt um eine freie menschliche Hinwendung zu einem erst einmal kraftlosen, abstrakt wirkenden Denken.
Diese Entwicklung zeigt sich wie spiegelbildlich auch im menschlichen Seelischen. Galt im Mittelalter noch die Formel: scientia forma animae, also die Wissenschaft, das Erkennen ist die Form der Seele, ist diese Formwirksamkeit dem abstrakten Denken der Gegenwart erst einmal nicht mehr inhärent. Die Seele, dass seelische Erleben ist also angewiesen auf eine Formwirksamkeit, die es sich selbst gibt, indem es sich geistig betätigt, obwohl diese geistige Betätigung erst einmal nur abstrakt und damit ohne direkte Kraftwirksamkeit ist.
Ein solche Situation der menschlichen Seele ist die (eigentliche) Ursache für vielfältige existentielle Nöte und Pathologien. Die Abstraktion, das abstrakte Denken und die zunehmende Abstraktion des Lebens wirken in das seelische Erleben entleerend und chaotisierend hinein. Die Krise des Geistes wird spiegelbildlich zur (notwendigen) Krise der Seele (und des Lebens). Das Ich ist heute der Brennpunkt dieser Lage von Seele und Geist. Das Ich ist insofern selbst therapiebedürftig. In dieser Lage ist es permanent gefährdet sich ‚alten‘ geistigen Formkräften zuzuwenden, bzw. alten geistigen Formen diese Kräfte zuzuschreiben und aus eigener Kraft zu geben. (Auch das war Thema im Kolloquium). Auch die Hinwendung zur Wissenschaft als gültige geistige Objektivität führt nur in neue Abgründe hinein, denn für die Wissenschaft gilt das gleiche, was einmal für Revolutionen formuliert wurde: Sie frisst ihre Kinder! Da sie sich immer nur auf äußere Evidenz und ihre Modelle stützen kann, hat sie keine Eigentragkraft und ist deshalb permanent von ‚Falsifizierung‘ bedroht.
Abstraktion kann also in doppelter Hinsicht zu einer Katharsis des Erlebens führen. Das Erleben wird so ‚abstrakt‘ wie das eigene Denken, es ist weder geistig geformt, noch seelisch aufgeladen. Es ist leer. Es gibt nichts mehr her über sich selbst hinaus. Das Erleben wird dadurch begriffsartig; es wird der Sache ähnlich, mit der es sich verbindet. Es wird dadurch ähnlich formend wie die alten Begriffe. Wolf-Ulrich Klünker hat die Anthroposophie Rudolf Steiners im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts als eine erste Stufe eines solchen Erlebens charakterisiert. (Die Empfindung des Schicksals, S. 157) Sie war darauf ausgerichtet ein Erleben geistiger Zusammenhänge durch eigene seelische Aktivität zu erzeugen und zu erleben. Heute kann ein solches Erleben auch im Wahrnehmen leben. (Auch das wurde im Kolloquium besprochen). Die alte Formel, dass das Erkennen sich im Erkennen der Sache angleicht vertieft sich jetzt in den Bereich des Erlebens hinein.
Die Abstraktion als Durchgangsort, oder Eigenort des Ich. Der Ort, wo das Ich nicht aus ‚alten‘ Kräften bestimmt wird, sondern erste Eigenbewegungen vollziehen kann, gegenüber einer toten Bildwirklichkeit des Geistes (und damit auch der Seele). Abstraktion als Endform des Denkens und abstrakter Wille als erste Form eigener Bewegung gehören zusammen. Vielleicht ist dies auch der Ort an dem die eurythmische Bewegung zu Hause ist. Eine bestimmte Bewegung um der Bewegung selbst willen, eine Empfindung der Bewegung als Bewegung. Wie ist hier das Verhältnis zwischen empfundener und gedachter Bewegung zu denken? Die Eurythmie Formen als abstrakte Formen kosmischer Bewegung (Laute und Konsonanten). Das Verhältnis von Abstraktion und Bewegung, oder anders formuliert, die Bewegung nach dem Denken, wird hier (und im Kolloquium) nur angedeutet.
Geisteswissenschaftliche Forschung ist so betrachtet immer menschenkundliche Forschung. Sie bezieht sich direkt auf das Verhältnis von Begriff (Theorie) zur Wirklichkeit des Erlebens und Lebens. Insofern fußt sie auf einer neuen Form des Begriffsrealismus, dessen Wirksamkeit keine Anwendung oder technische Umsetzung braucht. Dieses Verhältnis näher zu untersuchen könnte ein lohnender Weg sein für eine aktuelle Psychologie des Ich.
Roland Wiese 31.10.2022