Zentrales und peripheres Ich in der Entwicklung des Schicksals


In meinem letzten Beitrag habe ich ein Thema angesprochen, das nicht so einfach zu denken ist: Die wechselseitige Ich-Entwicklung. Beziehung als eine solche wechselseitige Ich-Entwicklung zu denken dafür gibt es natürlich unterschiedliche Modelle (wie auch in dem Kommentar von Klaus Weber angeführt) und jeder kann sich dabei auch ganz Unterschiedliches denken. Um zu präzisieren, was damit aber eigentlich gemeint sein könnte, möchte ich ein Beispiel aus meinem Leben schildern, das den Unterschied zwischen zentralem Bewusstseins-Ich und peripherem Schicksals-Ich vielleicht etwas deutlicher werden lässt. Wobei die Voraussetzung für ein solches Beispiel natürlich wiederum ein drittes Ich ist, was beide Anteile erst in einen neuen Zusammenhang bringt. Und dieses spätere Ich ist erst durch die beiden anderen entstanden.

Als ich mit ca. 30 Jahren meinen Abschluss als Heilerzieher in der Akademie Sondern machte, wurden wir in einem Abschlusskolloquium gefragt, was wir denn nun beruflich weiter machen wollten. Ich habe auf diese Frage geantwortet, dass ich etwas mit Jugendlichen machen wolle. Das war das, was ich bisher an Tätigkeit kennengelernt hatte. Was ich auf keinen Fall machen wolle, sei eine Tätigkeit im psychiatrischen Arbeitsfeld, also eine Arbeit mit Menschen, die psychisch erkrankt sind. Man muss dazu erwähnen, dass die Akademie Sondern in einer psychiatrischen Einrichtung ‚ Hof Sondern‘ beheimatet war. Dort wohnten und arbeiteten Menschen mit psychischen Erkrankungen. Eine der wenigen anthroposophischen Einrichtungen, die sich dieser Zielgruppe gewidmet haben. Nach der Veranstaltung wurde ich auf dem Weg draußen von einer Betreuerin angesprochen. Sie habe gehört, dass wir auf unserem kleinen Hof in Norddeutschland einen jungen Mann aufgenommen hätten, um den wir uns kümmerten. Sie wollte fragen, ob wir uns vorstellen könnten, noch jemanden aufzunehmen. Es gehe um eine junge Frau mit Psychose, die ein Kind bekomme und deshalb in der Einrichtung nicht mehr richtig sei. Und obwohl ich kurz zuvor noch das Gegenteil behauptet hatte – keine Arbeit mit psychisch kranken Menschen, willigte ich ein, darüber ins Gespräch zu kommen.

Diese Entscheidung, und das folgende Zusammenleben mit der jungen Frau in unserer Familie, hat mein späteres Leben inhaltlich wesentlich ausgerichtet. Man könnte zu Recht behaupten, dass durch diese Begegnung mein Leben erst in seine zu ihm gehörende Richtung gekommen ist. Hatte ich kurz vorher im Hinblick auf das Ende meiner Ausbildung noch alle möglichen beruflichen Optionen erwogen, ergab sich jetzt durch diese Berührung mit dem Thema Psychiatrie und dem konkreten Schicksal psychisch kranker Menschen, und noch konkreter mit dem Schicksal dieses bestimmten Menschen, eine deutliche Inhaltsbestimmung in vielfältiger Hinsicht. Dies betrifft sowohl äußerlich soziale Fragestellungen, aber auch inhaltliche Fragestellungen, was überhaupt eine psychische Erkrankung ist und wie sie therapeutisch zu behandeln ist.

Heute ist dieser Zusammenhang für mich klar und deutlich zu sehen. Damals sah ich davon ja noch nichts. Jeder, der heute auf meine Biographie schauen würde, sähe die Schlüssigkeit des Geschehens, aber in der punktuellen Situation damals, war davon konkret nichts zu erkennen. Für mich ist es so, dass durch die Frage der Betreuerin ein wichtiges Thema meines Ich von außen an mich herangetragen wurde. Und die Sensibilität der Bewusstseinsseite bestand nur darin diese Berührung irgendwie zu bemerken. Der inhaltliche Teil des Ich kommt von außen, und das Bewusstsein hat die Aufgabe diesen Zusammenhang zu bemerken. Dabei kann sich das Bemerken auch auf ganz einfache Zusammenhänge erst einmal beschränken.

Dieses Beispiel ist gewissermaßen ein sehr niedrigschwelliges Beispiel für gegenseitige Ich-Entwicklungsräume. Niedrigschwellig deshalb, weil in ihm keine besonders intensive bewusste Begegnung mit bestimmten Voraussetzungen vorliegt. Es fehlt in der bisherigen Schilderung noch ein wichtiges Kennzeichen für die Ich-Charakteristik: Die Dauer und Tiefe der Verbindung. Denn solche Entwicklungsräume des Ich sind vermutlich nicht reine Bewusstseinsräume, sondern in irgendeiner Weise existentielle Lebensverbindungen. In der Regel gehören zur Ich-Entwicklung auch zeitliche Dimensionen – wie eine gewisse Dauer, eine gewisse Verbindung und Verbindlichkeit. (Denn das Ich wird das, womit es sich verbindet).

Bewusstseinsentwicklung, als eine aktive geistige Betätigung, die das Ich mit sich vornimmt, kann aber als Voraussetzung dafür gesehen werden, dass es zu einem Bemerken in der Situation kommt, ohne dass dieses Bemerken inhaltlich gefüllt sein muss mit Vorstellungen. (Diese können völlig falsch sein und sich auch nicht einlösen). In diesem Fall war die inhaltliche geistige Auseinandersetzung, die dem Ganzen vorweg gegangen war die Frage, ob das Ich einen Schicksals-Umkreis hat und wie der zu denken ist. Wir hatten uns in unserer Ausbildung mit der komplizierten Frage eines Umkreis-Ichs beschäftigt. Ich habe heute noch eine Tafelzeichnung unseres Dozenten vor Augen, in der diese Fragestellung versucht hatte bildlich darzustellen. Ebenso gehört zu dem Bewusstseinsvorlauf die Aufgabe anhand einer Biographie das Schicksal eines Menschen mit Behinderung darzustellen. Meine Biographie war das Buch von Peter Härtling über Hölderlin, den Dichter der als Mensch mit seelischer Erkrankung von einer Tischler-Familie aufgenommen wurde und in seinem Turm bis an sein Lebensende wohnte. Aber, – all diese Elemente spielten in meiner konkreten Situation natürlich keine vordergründige Rolle. Aber sie waren meine erste Berührung mit einem Begriff des Karma, der für mich zum Ausgangspunkt wurde für die Frage nach dem Umkreis-Ich des Ich-Punktes und welches Milieu es braucht, damit es zu einer solchen Berührung kommen kann.

 

 

 

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