Lieber Gabriel,
zu deinem 90. Geburtstag möchte ich gerne das Gespräch fortsetzen, das wir mündlich und schriftlich im Jahr 2021 wieder aufgenommen haben. Inzwischen hatten wir im Frühjahr eine Mitgliederversammlung im Umkreis, anlässlich der mir weitere Zusammenhänge unserer eigenen Entwicklung klar geworden sind. Unsere Arbeit hier vor Ort hatte immer eine doppelte Signatur: Ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines geistig-künstlerischen Milieus, in dem sich die Entwicklungen der einzelnen Menschen vollziehen können, und das gleichzeitig durch diese Entwicklungen dieses Milieu existentiell vertieft. Ich habe für diese Milieubildung in unserer Entwicklung hier zwei Phasen deutlich unterscheiden können: Die erste Phase war im wesentlichen geprägt durch unser Interesse für die biografische Entwicklung des Menschen. Diese Phase in den achtziger und neunziger Jahren wurde (auch bei uns) stark angeregt durch die Veröffentlichungen von Bernhard Lievegoed, der ja auch für dich eine wichtige Inspirationsquelle war. Das Verständnis für die biografische Entwicklung allgemein und für die eigene persönliche biografische Entwicklung war in dieser Zeit ein neues Thema. Es verband eine menschenkundliche Fragestellung nach der Seele des Menschen mit der psychologischen und therapeutischen Fragestellung nach der eigenen Seele. Es war insofern Forschung, Bildung und Therapie in einem. Die Biographiearbeit, wie sie sich dann als Selbsterkenntnismethode und als Selbstentwicklungsanregung in den achtziger und neunziger Jahren entwickelte, unterschied sich deutlich von den bis dahin mehr analytischen psychologischen Verfahren. Sie hatte implizit immer einen Bezug zu einer kosmologischen Wirklichkeit der menschlichen Seele und hatte damit auch einen starken Bezug zum Mittelalter (Schule von Chartres) und zur platonischen Antike. Die Frage der biografischen Entwicklung wurde populär in einer Zeit, in der die Einbindung der einzelnen Seele in eine soziale Entwicklung sich immer mehr auflöste und der einzelne Mensch immer mehr gefordert war, seine Biographie selbst zu gestalten, ohne etwas darüber zu wissen, wie dies gehen kann.
Du Gabriel hast die biographische Entwicklung der Seele immer schon als ‚Kernhandwerkszeug‘ für Sozialarbeiterinnen und Therapeutinnen angesehen und in diesem Sinne auch lehrend gearbeitet. In dieser Sichtweise haben wir uns dann auch getroffen und unsere Ausbildungswege im Umkreis e.V. für Menschen in sozialen und therapeutischen Berufen gemeinsam entwickelt und durchgeführt. Wobei dahinter keine äußere Planung stand, sondern ein Bemerken nach einem Bedarf an dieser Art ‚Lernen für Erwachsene‘ und eine entsprechende geistesgegenwärtige Reaktion auf diesen wachsenden Bedarf. Parallel zu der verstärkten Ausbildung von Menschen entwickelte sich auch die Anwendung der biografischen Methode in der therapeutischen und sozialen Arbeit. Die biografische Methode konnte auch (und bei dir war dies explizit Intention) humanistische psychologische Anschauungsweisen integrieren, während diese, ohne den biografischen Entwicklungsaspekt, immer etwas willkürlich in der Luft hingen.
Geprägt war dieses Lernen und Forschen von einem starkem Lernen in der Gruppe, also mit anderen Menschen. Damit hatte man immer die Möglichkeit in den Unterschieden der einzelnen Biographien die eigene erst zu bemerken. Außerdem ermöglichte es die eigene Unterschiedlichkeit mit anderen so zu besprechen, dass sie wieder in einem integrierenden Menschenbild zusammenflossen. (Das Gegenteil heutiger Auseinandersetzungen). Die seelische Dramatik, die bei Entwicklungen nicht zu vermeiden ist, konnte so meist konstruktiv genutzt werden.

Ich habe diese Epoche für uns im ‚Umkreis‘ im Frühjahr als unsere ‚Engel-Epoche‘ bezeichnet. Sie mündete bei uns in vielfältiger äußerer soziale Arbeit z.B. 1999 in der Gründung der Gesellschaft für soziale Hilfen, die heute viele hundert Menschen in ihrem Leben unterstützt.
Warum ‚Engel-Epoche‘? Wer sich mit den Lebenszusammenhängen beginnt bekannt zu machen, muss selber eigenes zusammenhangfähiges Denken und Empfinden ausbilden. Er beginnt damit in die Sphäre bewusst einzutreten, in der der Engel zusammenhangsbildend wirkt. Die Zusammenhänglichkeiten im eignen Leben zu entdecken heißt auch immer mehr Verantwortung für einen Bereich des Lebens zu übernehmen, der bis dahin unbewusst gestaltet worden ist. Man bemerkt wie äußere Ereignisse, zu denen man damals nicht Ich gesagt hätte, jetzt zu Innenverhältnissen der eigenen Biographie geworden sind. Man entdeckt den biographischen Atem zwischen Umkreis-Ich und zentralem Ich.
Ich halte diese historische Periode vor dem Jahrtausendwechsel für eine wichtige Zeit, in der der Mensch immer mehr zum ‚Mitregenten‘ des Engels im eigenen Schicksal werden konnte, aber auch werden musste. Nur diese Berührung mit der eigenen Schicksalswirklichkeit kann davor schützen sich mit problematischen Missionen zu verbinden, wie wir es in den letzten Jahrzehnten massiv erleben mussten. Denn nur diese Berührung mit der eigenen Engelwirklichkeit, und damit auch mit dem Kräftegeschehen, das sich im Leben realisiert, kann der eigenen Seele die Kraft geben sich in sich zu halten und sich nicht in problematische Kräftwirklichkeiten hineinziehen zu lassen. Wer ohne eine persönliche ‚Engel-Berührung‘ in die Kraftwirklichkeiten höherer Hierarchien hineingezogen wird, ist nicht in der Lage diese angemessen zu vermenschlichen. Die ‚Rettung der Seele‘ ist auch eine Rettung des Menschen vor der Unmenschlichkeit geistiger Missionen. Ansonsten ‚ergibt‘ sich der Mensch seinen Vererbungs- und Blutskräften aus Familien und Nationalitätszusammenhängen, oder abstrakten Rechtsprinzipien oder „übergeordneten“ Bedingungen einer Familien- oder Staatsform (so Wolf-Ulrich Klünker in ‚Die Erwartung der Engel‘ 2003). Nur das Individualitätserlebnis der eigenen Lebenszusammenhänge, das ich mir durch eigene (künstlerische) Zusammenhangsbildung schaffe, schützt vor solchen Überformungen. Das 21. Jahrhundert wird zunehmend zur Prüfung dieser Ich-Form des Menschen. Wir leben in einer Erzengelwirklichkeit, die sich nur vermenschlichen lässt, wenn wir selber in unserem eigenen Schicksal aufwachen! Der Umgang mit dieser Ich-Wirklichkeit ist unsere zweite Epoche.
Lieber Gabriel, wir danken dir für deine Repräsentanz dieser Aspekte der menschliche Seele im Ich in unserer Entwicklung. Es hat uns auf unsere Schicksalsspur gebracht, in deren Realisierung wir seitdem unterwegs sind.
Wir wünschen dir alles Gute zu deinem 90. Geburtstag!
Roland Wiese 16.7.20223