„In diesem Band, der auf eine Vorlesungsreihe an der Alanus Hochschule zurückgeht, zeigen zehn philosophische Forscher, dass und wie die Anthroposophie selbst unmittelbar und substanziell anknüpfen kann an die Philosophiegeschichte von der Antike bis in die Gegenwart. Dabei werden Übereinstimmungen mit anderen Denkrichtungen, aber auch Divergenzen sicht- und diskutierbar.“ (Klappentext)

Das hier zu rezensierenden Buch hat den Titel ‚Die philosophischen Quellen der Anthroposophie‘. Die Intention des Buches hängt mit seiner Entstehung zusammen: Es sind Vorlesungen für Studierende, die hier (für sie) dokumentiert werden. Gleichzeitig liefert es einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion der Frage, wie die Anthroposophie in die Philosophiegeschichte eingebettet ist, bzw. versucht diese Einbettung herzustellen. Tatsächlich ist Rudolf Steiner bis heute kein Protagonist der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts und die Anthroposophie auch keine Philosophie. Es wird also einerseits nach den Verbindungen der Anthroposophie in die Philosophie hinein gefragt und anderseits werden die Unterschiede zur Philosophie herausgearbeitet.
Die Tatsache, dass ein solches Projekt nötig erscheint, verweist aber auf ein Phänomen im Umgang mit der Anthroposophie und mit Rudolf Steiner, das auf dem Klappentitel, im Verlagstext und in der Einführung immer wieder thematisiert wird. „Rudolf Steiner und seine Anthroposophie stehen in der öffentlichen Wahrnehmung als solitäre Phänomen da.“ Im 20. Jahrhundert war diese „Exklusivität“ der Anthroposophie weder für die Öffentlichkeit noch für die Anthroposophen ein großes Thema. Man war sich bewusst, dass die Anthroposophie als Inhalt nicht so einfach zugänglich ist, aber dies beeinträchtigte nicht die Wirksamkeit in den praktischen Bereichen wie Medizin, Schule, Heilpädagogik und Landwirtschaft. Schwierig war es aber auch damals schon für Wissenschaftler im akademischen Kontext, insbesondere im naturwissenschaftlichen Bereich sich auf Anthroposophie zu beziehen. Diese Situation hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten grundsätzlich verändert, und in den Jahren nach dieser Vorlesungsreihe (2017) noch einmal gravierend verschärft.
Es hat sich nicht das Phänomen des Solitären und Exklusiven der Anthroposophie verändert, aber der gesellschaftliche Umgang damit hat sich deutlich verändert. Man lässt sie in ihrer Besonderheit nicht mehr so stehen, sondern man stößt sich daran! Aus der Sicht der Menschen, die sich mit Anthroposophie beschäftigen, könnte das so gesehen werden, dass es ja nicht ungewöhnlich ist, dass neue und fortschrittliche Ansätze von denen bekämpft werden, die noch mit den bestehenden Ansätzen identifiziert sind. Die Wissenschaftsgeschichte, ebenso wie die Gesellschaftsgeschichte ist voll von Beispielen solcher solitärer Forscher und auch von Beispielen wie diese massiv bekämpft wurden. Das was heute als Wissenschaft angesehen wird, hat dies selbst in seinen frühen Protagonisten erlebt.
Da in der heutigen Zeit die heftigste Kritik mit der Zuschreibung von Unwissenschaftlichkeit verbunden ist, liegt es nahe die Einbettung der Anthroposophie in die Wissenschaft anzustreben, um aus der Position des Solitären und Exklusiven herauszukommen. Wenn aber die Position des Solitären genau damit zusammenhängt, das man eigentlich diese Wissenschaft weiterentwickelt hat, dann wäre es vielleicht eher die Aufgabe diese Weiterentwicklung herauszuarbeiten, also die inhaltliche Unterscheidung herauszuarbeiten, die die Position der Anthroposophie und Rudolf Steiners von der heutigen Wissenschaft unterscheidet. Damit wäre dann immerhin der Grund für die solitäre Stellung benannt und es wäre damit umzugehen.
Wolf-Ulrich Klünker benennt im ersten Beitrag des Buches ‚Keine Wirklichkeit ohne Mensch‘ eine solche Position. In diesem Beitrag wird deutlich, dass eine ganz bestimmte Erkenntnishaltung grundsätzlich und notwendigerweise eine individuelle Wirklichkeit konstituiert (schafft). „Die <eigentliche> Wirklichkeit besteht nicht in dem Stein, der irgendwo unbemerkt herumliegt, sondern in dem vom Menschen erkannten und insofern bewusst identifiziertem Stein. Diese Aussage gilt für jeden Wissenschaftsbereich, beispielsweise für die Philosophie (es gibt keinen unerkannten Geist ‚an sich‘) und auch für die Psychologie (die Wirklichkeit der Seele existiert nur, indem sie bewusst empfunden oder erkannt wird)“ (S. 12 ff.). Diese Verbindung des individuellen Erkennens mit dem Gegenstand, erschafft den Menschen erst als individuelles Wesen und führt dazu, dass er sich erst einmal einsam fühlt, „weil er spürt, dass nur er selbst (und mit ihm jeder andere individuelle Mensch) in diesem Moment, an dieser Stelle in seiner konkreten Zuwendung zum Erkenntnisgegenstand Wirklichkeit „bilden kann.“ (S.13 ff.) Wenn man mit diesem Erkenntniserlebnis umgeht, berührt man in seinem Inneren jenes Ich, das über den Tod hinaus geht, so zitiert Klünker Steiner im Anschluss. Das hat Konsequenzen für den Erkennenden, z.B. das Grunderlebnis der Einsamkeit (‚Die Einsamkeit des Aristoteles‘ heißt ein Kapitel), das hat Konsequenzen für die Beziehung der Menschen zueinander, für die Beziehung zur Welt und das hat natürlich auch entsprechende Folgen für den Wissenschaftsbegriff. „Damit ist der individuelle Mensch in seiner Empfindung, im ernsthaft gewollten und praktizierten (gelebten) Sachbezug konstituierendes Element wissenschaftlicher Erkenntnis.(…) Für eine so verstandene Wissenschaft wird es sinnlos und überflüssig eine Wirklichkeit außerhalb menschlicher Erfahrung anzunehmen.“ (S.29 ff.) (Insofern ist immer die Anthroposophie die Quelle der Philosophie!) Es kann im Rahmen dieser Besprechung die inhaltliche Seite eines solchen Ansatzes nicht weiter ausgeführt werden. Es soll nur darauf hingewiesen werden, dass eine solche individuelle Wissenschaft auch nur durch Individualitäten realisiert werden kann. Insofern scheint der Durchgang durch innere Einsamkeit (als Grunderlebnis solcher Bemühung) und äußere Isolation als soziale Folge ein notwendiges Phänomen zu sein, denn diese Form von Wirklichkeit lässt sich nicht anpredigen oder objektiv beweisen, sondern muss individuell errungen werden. In Zukunft müsste es dann eigentlich nur noch solitäre und exklusive, sprich individuelle Wirklichkeiten und ihre sie schaffenden Forscher geben.
Schaut man mit diesem Ansatz jetzt auf die weiteren Beiträge des Buches (und man kann eigentlich nicht hinter diesen Ansatz zurück) dann kommt man zu dem was die anthroposophischen Quellen der Philosophie sein könnten. Man kommt zu den individuellen Wirklichkeiten der Autoren in ihrem Interesse an ihrem jeweiligen Gegenstand. Man nimmt dann die Beiträge als Aussage des Ichs des jeweiligen Autors und damit als dessen Wirklichkeit. Das kann hier natürlich nicht umfänglich durchgeführt werden und ist mehr die Beschreibung der eigenen Leseerfahrung und ist darauf basierend als Anregung gemeint, wie das Buch (anthroposophisch) zu lesen sein könnte.
Vielleicht blickt man dann etwas anders auf die einzelnen Ansätze: Es wird der Bezug zu Kant und Goethe bearbeitet (Jost Schieren), die Nähe zu Fichte (Marcelo da Veiga), die Beziehung Hegel-Steiner wird ausführlich geschildert (Leonard Weiss), ebenso die Entwicklung der Nietzsche Beziehung in Steiners Biografie (David Marc Hoffmann). Auch das wichtige Brentano Kapitel darf nicht fehlen (Axel Föller-Mancini), Jaap G. Sijmons versucht Edmund Husserl in die 12 Weltanschauungen Steiners einzuordnen und Johannes Wagemann dreht die Frage nach den Quellen um, indem er Herbert Witzenmanns Weg zur Anthroposophie skizziert. Jeder dieser Ansätze eine ganz eigene menschliche und geistige Welt.
An zwei Beispielen soll einmal versucht werden den oben skizzierten Ansatz deutlicher werden zu lassen. Natürlich auf die Gefahr hin in die Irre zu gehen oder missverstanden zu werden. Beginnen möchte ich mit dem Beitrag von Salvatore Lavecchia: „Denken als schöpferisches Licht des Guten“. Immer wenn ich etwas von Salvatore Lavecchia lese, werde ich durch die Art seines Denkens und Schreibens an den Ort geführt, von dem er spricht. Es handelt sich in diesem Sinne eher nicht um deskriptive Wissensvermittlung, sondern um einen ganz eigenen Ansatz, der das ist, wovon er spricht. „Im Menschen erreicht der Ursprung des Seins, durch das menschliche Selbst und sein Denken, die eigene höchste Offenbarung im Physischen, die das Physische mit dem Ewigen verbindet, der physischen Wirklichkeit – weiterhin in Platons Begrifflichkeit ausgedrückt – die Gottähnlichkeit schenkend. In anderen Worten: In der physischen Welt ergibt sich keine höhere Instanz, als das nach seinem wahren Wesen tätige Denken bzw. „Ich“ des Menschen, wenn es sich darum handelt, jene Einheit von wahrer Erkenntnis und authentischer Ethik zu bilden, die den Menschen zur stimmigen Begegnung mit sich selbst und mit den anderen Wesen zu führen.“ (S.45) Die Licht-Ich-Philosophie oder Licht-Anthroposophie ist Salvatore Lavecchias ganz eigenes Gebiet und seine ganz eigene Wirklichkeit. Da ist er seine ganz eigene Quelle! Vor allem im Kontrast mit den beiden sehr aristotelischen Beiträgen Klünkers ergibt sich eine ganz deutliche individuelle menschliche und geistige Figur!
Eine völlig andere Signatur hat für mich der Beitrag von Hartmut Traub: „Erfahrungsorientierte Seelenkunde.“ Während die anderen Autoren (Klünker und Lavecchia ausgenommen) manchmal so wirken, als ob sie als Anthroposophen ihr (und Steiners) akademisches Recht einfordern, wirkt es bei Hartmut Traub so, als ob er mit dem Akademischen hinter sich, Steiners Ansatz erkundet. Aber er unternimmt dies mit der wissenschaftlichen und vielleicht auch menschlichen Erfahrung, dass in der Wissenschaft etwas fehlt, was für den Menschen eigentlich lebensnotwendig ist. Das Überforderungsprojekt des Diesseits (so Traub) sei prinzipiell eben genau dazu nicht in der Lage dem Menschen das zu geben, was für „den in unseren unseligen Zeiten den schicksalsvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennendsten sind: Die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit des Daseins“ (so zitiert er Edmund Husserl aus dem Jahr 1936, S. 129). Es geht also nicht nur um ‚Wissenschaft‘ es geht auch um das ‚Leben‘.
Es klingt erst einmal etwas abseitig, wenn er das historische Modell der Physiko- und Psycho-Theologie heranzieht, um die praktische Seelenentwicklung in der Anthroposophie zu begründen. Aber interessant war für mich hier die Berührung von „Physiko“ und „Psycho“, die für Traub durch die Seelenentwicklung, wie sie Steiner veranlagt, hat verbunden werden können. (Auch das kann hier nicht weiter ausgeführt werden). „Vor einem Abstieg in den esoterischen Eskapismus sichern die Psycho-Theologie sowie die zum Teil in ihrer Tradition stehende Philosophie des Idealismus sowie Steiners Anthroposophie eine erkenntnisorientierte Anthropologie und Egologie.“ (S.14) Ja, das klingt noch sehr abstrakt und dünn, aber mit einer Wissenschaft des Ich könnte es weitergehen.
Der zweite Beitrag Wolf-Ulrich Klünkers ‚Erkenntnis im Morgen- und Abendlicht, Psychologie und Kosmologie im 13. Jahrhundert‘ liefert dazu einen konkreten Beitrag. Er zeigt anhand der Figur einer mittelalterlichen Unterscheidung zwischen der Erkenntnis der Engel im Morgenlicht und der Erkenntnis im Abendlicht, was es bedeutet, wenn das Verhältnis von Selbsterkenntnis und Welterkenntnis („Psycho“ und „Physiko“) auseinandergerissen wird. „Die spirituelle Einseitigkeit wäre genauso eine Illusion wie die reine Erkenntnisorientierung am materiellen Sein der Dinge, die sich für den Engel am Abend darstellt.“ (…) „Es kann an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise ausgeleuchtet werden, was ein solcher Erkenntnisbegriff für ein Wissenschaftsverständnis des 21. Jahrhunderts bedeuten würde.“ (S. 69)
Die Besprechung eines über 300-seitigen Buches kann und soll die dort verhandelten Inhalte natürlich nur anreißen und dafür das Interesse wecken. Gleichzeitig ist sie der Versuch eines eigenen inhaltlichen Zusammenhanges, der sich dem Rezensenten zwar aus dem Buch ergibt, aber vielleicht auch über es hinausgeht…
Der Umgang mit Steiner und der Anthroposophie ist und bleibt kompliziert. Er gelingt nur, wenn eine eigene individuelle inhaltliche Perspektive vorhanden ist, die dem Gegenstand und dem Erkennenden angemessen ist. Alle seelischen und sozialen äußeren Intentionen bewirken interessanterweise meist das Gegenteil des Beabsichtigten. Nur die inhaltliche Weiterführung ‚löst‘ das Exklusivitätsproblem positiv auf. Wahrscheinlich ist eine solche erst einmal nur individuell möglich, wie man an diesem Buch gut bemerken kann.
Roland Wiese Horstedt
Diese Buchbesprechung wurde für die Zeitschrift ‘Anthroposophie’ verfasst, wird aber dort nicht veröffentlicht. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass die Auswahl der besprochenen Beiträge zu begrenzt ist und damit dem Buch nicht gerecht wird. Das ist einerseits nachzuvollziehen von den Erwartungen des Herausgebers her, andererseits stimmt es wiederum nicht, denn ich habe ja meinen Ansatz explizit offengelegt. Aber das können die Leser und Leserinnen ja selbst beurteilen, denn jetzt kann ich sie ja hier im Blog veröffentlichen.
Roland Wiese 31.7.2022