Rezension von Psychologie des Ich

Eine erste Rezension unseres Buches ist in der Zeitschrift Anthroposophie Weihnachten 2016 erschienen.

Plädoyer für eine bewußte und zukunftsfähige
Ich-Entwicklung

Wolf-Ulrich Klünker, Johannes Reiner, Maria Tolksdorf und Roland Wiese, Psychologie des Ich. Anthroposophie. Psychotherapie, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2016, 187 Seiten, 22 €

Wolf-Ulrich Klünker, Johannes Reiner, Maria Tolksdorf und Roland Wiese stellen mit ihrem Buch „Psychologie des Ich. Anthroposophie. Psychotherapie“ die Frage nach dem menschlichen Ich und wollen damit die anthroposophische Menschkunde für die heutigen Fragen der Psychologie und Psychotherapie fruchtbar und zukunftsfähig machen. Bemerkenswert ist, wie die Autoren den gemeinsamen inhaltlichen Bogen aus verschiedenen Perspektiven und Besonderheiten ihrer jeweiligen Gebiete der Psychologie herstellen.

Ausdrücklich und anknüpfend an Goethes Märchen und den Begriff des Erquickenden Gesprächs, werden die Leser zur Eigentätigkeit aufgefordert und mit der Frage konfrontiert, warum in der heutigen Zeit ein „entwicklungsfähiges Verständnis des Ich“ notwendig ist. Wir (als Steuerberaterin und Sozialarbeiter) stellen uns diese Frage, weil uns im heutigen Zeit- und Selbsterleben die Notwendigkeit eigener Entwicklung drängt und weil uns immer wieder Menschen begegnen, die keinen Zugang zu sich bekommen und auch niemanden finden, der einen Zugang zu ihnen bekommt, sodass ihnen droht, in ihrer seelischer Not gefangen zu bleiben.

Einleitend richtet Johannes Reiner (Psychotherapeut in eigener Praxis) den Blick auf die Frage, wie man überhaupt sein Ich wahrnehmen und erleben kann. Im ersten Schritt differenziert er das Ich hinsichtlich der drei Daseinszustände Wachsein, Schlafen und nachtodlich/vorgeburtliche Existenz und führt weiter aus, dass es darum geht, die Grenzen der unterschiedlichen Erkenntnis- und Bewusstseinsstadien zu überwinden. Die an diesen Grenzen auftretenden Schwierigkeiten beschreibt er damit, „wahrnehmen zu lernen, wo zunächst nichts wahrzunehmen ist“. Den Umgang mit den anzustrebenden Grenzerfahrungen und -überschreitungen stellt er in Zusammenhang mit Platons Höhlengleichnis und meditativen Basisübungen wie den „Six steps in self-development“ (also den „Nebenübungen“) sowie der Tagesrückschau.

Anschließend beschreibt Roland Wiese (Fachlicher Leiter einer sozialpsychiatrischen Einrichtung) den im Heilpädagogischen Kurs dargestellten Zugang zum eigentlichen, aus dem Vorgeburtlichen wirkenden Seelenleben. Erst mit der Frage, wie sich das Ich durch sein eigenes Interesse durch den Leib mit der Welt verbindet, wird Entwicklung (und damit Heilung) möglich. Therapeutische Wirksamkeit heißt, das Erwachen eines Ich-Prozesses, d.h. wenn bei einem Patienten konkretes Interesse an einer Sache und Willenskräfte entstehen, zu unterstützen und weiter anzuregen, damit dies dann zum Ausgangspunkt für seine Selbstentwicklung wird.

In einem zweiten Abschnitt entwickelt er aus den Leitsätzen 11 bis 16 einen Übungsansatz für Phänomene der Ich-Erfahrung. Im Überschreiten des Alltagsbewußtseins beginnt das Ich sich in seiner Differenzierung zu denken und damit als tätiger Geist selbst zu bemerken. Erst das eigene, aktive Denken macht das Ich im Leben wirklich und wirksam. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die Unterscheidung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein, die ein solches differenziertes Denken ermöglicht.

Maria Tolksdorf (Kinder- und Jugendpsychotherapeutin in eigener Praxis) entwickelt in ihrem Beitrag, wie eine neue Aufmerksamkeitshaltung einen Raum entstehen lässt, in dem sich Kinder und Jugendliche wahrgenommen fühlen können. Sie beschreibt Kinder und Jugendliche, die erschöpft, orientierungslos, sich selbst fremd, auf der Suche nach ihrer eigenen Identität sind und die vor allem verstanden werden wollen. Kinder und Jugendliche, die Begleiter brauchen, die sich nicht auf vorhandene Einsichten und Methoden reduzieren, sondern es wagen, „sich bewusst der Verunsicherung und Krise und damit der Möglichkeit der Neuorientierung zu stellen“. Es geht darum ein Milieu zu schaffen, das vom eigenen Interessenswillen getragen wird und in dem „Therapeut und Patient sich wechselseitig zu Zeugen ihres Selbstseins werden“.

In seinem zweiten Beitrag erweitert Johannes Reiner diesen Gesichtspunkt auf die psychotherapeutische Begleitung von Erwachsenen. Im Zentrum stehen mehrere Fallbeispiele, die „einen Blick auf Fragen freigeben, die Menschen in existentieller psychischer Not in sich tragen und auf die sie Antworten suchen“. Einleitend gibt er dazu eine Zusammenfassung des „Votums zur Psychiatrie“ und beschreibt abschließend, wie anthroposophische Psychotherapie dadurch gekennzeichnet ist, dass sie im Menschen über das Physisch-Ätherisch-Astrale hinaus das geistige Wesen sieht, das sich mit dem Geistigen im Kosmos verbinden will: „Das Ich ist ein individualisierter Teil des (Welten-) Geistes.“

Abschließend beschreibt Wolf-Ulrich Klünker (Professor für Philosophie und Erkenntnisgrundlagen der Anthroposophie an der Alanus-Hochschule, Alfter) in komprimierter Form die Entwicklung einer Wissenschaft vom Ich (ausgehend von Delphi als alter Mysterienstätte, über Aristoteles, Themistios, Alanus ab Insulis, Thomas von Aquin, Albertus Magnus und Hegel zu Rudolf Steiner), um abschließend Grundlinien einer Psychologie der Zukunft zu skizzieren. Diese „Psychologie des Ich“ kennzeichnet sich dadurch, dass sie „in sich selbst Ich-Kraft entstehen lässt, […] bereits in ihren menschenkundlichen Grundlagen eine therapeutische Kraft entwickelt“. Im Kern setzt eine Psychologie des Ich voraus, Entwicklung aus der Zukunft heraus denken zu können. Ein solches Verständnis verändert alle Beziehungen: zum Mitmenschen, zum Tier, zur Pflanzenwelt und auch zum nachtodlichen Sein und zielt auf „die Notwendigkeit […], sich auf ein Sein nach diesem Leben bewusst und eigenverantwortlich vorzubereiten“.

Seine Darstellung verweist auf die lange Tradition der Wissenschaft vom Ich und wirft darüber hinaus grundsätzlich die Frage nach dem Selbstverständnis von Wissenschaft auf. Eine zukunftsfähige Wissenschaft ist nicht nur eine auf Objektivität zielende Methodenlehre, sondern immer auch die existentielle und subjektive Selbstbefragung desjenigen, der Wissenschaft betreibt. Dies führt über Wissen hinaus in einen geistigen Bereich, in dem Selbsterkenntnis und Selbstentwicklung zum Ausgangspunkt werden können: „Das Denken des Denkens als Selbstkonstitution des Ich“.

Zusammengefasst ist uns wichtig:

  • Die heutigen Lebenszusammenhänge fordern die Selbstgestaltung des eigenen Lebensumfeldes, was wiederum bedeutet, einen Zugang zu den Kräften zu bekommen, aus denen Zukunft überhaupt entstehen kann. Und das ist nur möglich durch die eigene Ich-Entwicklung.
  • Eine wirkliche Begegnungsqualität mit sich selbst und anderen Menschen ergibt sich erst aus einem vertieften Ich-Verständnis. Dem konkreten und gerade auch dem sich verirrenden und scheiternden Leben kann dadurch wieder Sinn und Würde verliehen werden.
  • Um therapeutische Möglichkeiten zu erweitern, reicht es nicht aus sich Methoden anzueignen, vielmehr ist man mit seinem Ich gefragt, das erst dann wirksam wird, wenn sich ein individueller, lebendiger und selbsterkennender Zugang zu ihm eröffnet.
  • Eine zentrale Aussage des Buches ist für uns, dass Therapeuten zu einem zukunftsfähigen Verstehen ihrer selbst, zu einem Bewusstwerden und Erleben eigener Grenzen der Ich-Erfahrung kommen müssen. Denn dann können sie bei ihren Patienten Kräfte für eine bewusste Ich-Entwicklung freilegen, fördern und damit therapeutisch wirksam sein.

Dieses Buch fordert uns als Leser, als Menschen und als Therapeuten heraus. Die Sammlung aus Berichten eigener, höchst persönlicher Erfahrungen mit der therapeutischen Arbeit, plus die wissenschaftliche Ausarbeitung der beschriebenen Themen, die alle durch eine starke persönliche Berührung des jeweiligen Autoren gekennzeichnet sind, haben eine Präsenz und Strahlkraft, die uns danach ein Stück verwandelt weiter in die Welt gehen lassen.

Der „bescheidene Beitrag“, wie die Autoren ihre Arbeit in ihrem Vorwort nennen, erweist sich in diesem Sinne als tastend, nicht festgezurrt, individuell und gleichzeitig beim lesenden Sicherarbeiten als grundsätzlicher, zukunftsweisender Wurf: Ein gelungenes Buch und auch für Nicht-Therapeuten gut zu lesen.

 

Sigrid und Volker Schenk, Lübberstedt

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