Rezension: Thomas Binder, Ich-Entwicklung für effektives Beraten, Göttingen 2016

 

Was ist Ich Entwicklung? Und was hat sie mit der Beratung von Menschen zu tun? Thomas Binder, selbst Berater, muss in seinem Buch beide Fragen beantworten. Das liegt daran, dass das Forschungsgebiet ‚Ich-Entwicklung‘ in unseren Breiten wenig bekannt ist.  Insofern füllt sein Buch zwei Lücken:  Das mangelnde Wissen über die langjährige empirische Forschung, vor allem in Amerika und  in den angelsächsischen Ländern, über das was man dort Ego-, oder Self-Developement  nennt. Die zweite Lücke betrifft die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Berater und Klient – welche Auswirkungen hat hier die Frage der Entwicklung der Beteiligten? Die Psychologie hat sich bisher mehr den Fragen der seelischen Eigenschaften gewidmet, weniger dem dahinter sich verbergenden Zusammenhang des Ich, der ja interessanterweise in der Lage ist, seine eigenen Eigenschaften  zu verändern.  Und in der Beratung hat man sich oft mehr mit den Methoden beschäftigt, wie man dies fördern kann, aber weniger die Frage gestellt, ‚wer‘ es  mit ‚wem‘ zu tun hat. Thomas Binder führt in das Thema Ich-Entwicklung ein, und man merkt, er ist intensiv mit dem Thema verbunden, ohne die wissenschaftliche kritische Perspektive zu verlieren. Er gibt sowohl einen Überblick über die nahezu 60 jährige Forschungsentwicklung von Jane Loevinger und ihren Kollegen, wie auch über angrenzende, mehr therapeutische Forschungsrichtungen (z.B. Robert Kegan).  Für mich als Leser, war es interessant zu bemerken, dass im Buch ganz viele empirische Studien erwähnt werden, was damit zu tun hat, dass die empirische Psychologie kein Modell der Ich-Entwicklung konstruiert, sondern Phänomene entdeckt und beforscht, und das Mitvollziehen dieses Weges ist trotz der vielen Studien hochspannend. Das  zweite Thema, was hat Ich-Entwicklung mit effektiver Beratung zu tun, ist naturgemäß neuer und schwieriger zu untersuchen. Es wird im Buch deutlich, dass  Das Thema Ich-Entwicklung sich häufig hinter vielen Problemen  verbirgt, und dass es deshalb notwendig ist, dass Berater und Therapeuten dieses Thema durch die äußeren Probleme hindurch in den Blick nehmen können. „Das fehlende Wissen unter Therapeuten  bezüglich Ich-Entwicklung und anderer Entwicklungstheorien bringt viele Klienten allen Alters um einen Schatz an Wissen, der eine große Auswirkung auf die Art der Behandlung und die Interventionsstrategien haben kann.“ (G.G. Noam im Buch auf S. 242). Ich würde darüber hinausgehen, eigentlich brauchen alle Menschen dieses Wissen, um die eigene Entwicklung verstehen und gestalten zu können. Thomas Binders profundes Buch leistet dazu einen wichtigen Beitrag!

28.10.2017

Roland Wiese, Sozialtherapeut und Supervisor

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