1917-2017 – 100 Jahre ‚Von Seelenrätseln‘

(PDF Link) 1917

1917 -2017 100 Jahre ‚ Von Seelenrätseln‘

Das Jahr 1917 war in der europäischen Geschichte kein gutes Jahr. Der europäische Krieg wird endgültig zum Weltkrieg durch den Kriegseintritt der USA, und diese dadurch zu der Weltmacht, die sie heute geworden ist. In Russland führt die Oktoberrevolution zu der Entwicklung im Osten, die ebenfalls bis heute weltbestimmend geworden ist. Im Schatten dieser weltgeschichtlichen Ereignisse erscheint das Buch ‚Von Seelenrätseln‘ von Rudolf Steiner: 1. Auflage Berlin 1917. Ein merkwürdig zusammengestückeltes Buch aus verschiedenen Aufsätzen: Anthropologie und Anthroposophie; Max Dessoir über Anthroposophie, Franz Brentano (Ein Nachruf); Skizzenhafte Erweiterungen. Und Rudolf Steiner schreibt im Vorwort: „Es könnte wohl scheinen, als ob in der gegenwärtigen Zeit die Interessen des Menschen nach anderer Richtung gehen müssten, als diejenigen, in welcher die folgenden Betrachtungen sich bewegen. Doch glaube ich, dass man nicht nur nicht abgezogen von den ernsten Pflichten dieser unmittelbaren Gegenwart gegenüber durch solche Betrachtungen wird, sondern dass, was in ihnen liegt, gerade dieser Gegenwart dient durch Impulse, die vielleicht weniger unmittelbar hervorstechende, aber dafür umso stärkere Beziehungen zu dem Erleben dieser Gegenwart haben. Berlin 10. September“ (S.10)
Das Buch ‚Von Seelenrätseln‘ enthält tatsächlich solche Impulse, aber es verbirgt sie eher, als dass es sie deutlich hervortreten lässt. Und so ist es kein Wunder, dass dieses Buch und die Entdeckungen, die es enthält, nicht wirklich weitergehend rezipiert worden sind. Dieses Urteil gilt ungeachtet der Tatsache, dass die Dreigliederung des menschlichen Organismus, die hier zum ersten Mal veröffentlich wird, in anthroposophischer Medizin und Waldorfpädagogik eine wichtige und bekannte Grundlage geworden ist. Rudolf Steiner hat in dieser Zeit um 1917/18 herum einige wichtige psychologische Grundlagen veröffentlicht (in diesem Buch) aber auch in seinen Vorträgen in Zürich . Der Tod von Franz Brentano im März 1917 in Zürich scheint für ihn in Bezug auf seine Psychologie ein wichtiges Signum gewesen sein. Nicht umsonst bezieht er sich in ‚Von Seelenrätseln‘ immer wieder auf dessen Psychologie. Brentano war für Rudolf Steiner eine Art Repräsentant für eine philosophische Psychologie, deren eigentlicher Kern aus der aristotelischen Psychologie bestand. Die aristotelische Psychologie mit den zentralen drei Büchern ‚Von der Seele‘ hatte noch die Frage gestellt, was aus der Seele wird, wenn sie vom Leib getrennt wird. Rudolf Steiner knüpft an diese aristotelische Fragestellung in seinen Züricher Vorträgen explizit an. In ‚Von Seelenrätseln‘ steht dagegen eine andere Fragestellung im Mittelpunkt: Das Verhältnis des Seelischen zum Physiologischen und zum Geistigen andererseits. Rudolf Steiner behandelt diese zentrale Fragestellung im 6. Kapitel der skizzenhaften Erweiterungen: ‚Die physischen und die geistigen Abhängigkeiten der Menschen-Wesenheit‘ auf dreizehn Seiten. Er spricht von skizzenhafter Schilderung von Ergebnissen von 30 jähriger Forschung, die er andeutend darlegen will.
Die zentrale Entdeckung Steiners, die er dann schildert, erscheint in ihrer Schlüssigkeit so einfach, dass man sich fragt, warum darauf noch niemand anders gekommen ist. Gleichzeitig kann man aber auch den Eindruck haben, dass sie in ihrer Konsequenz für das Leben und Erleben immer noch nicht wirklich angekommen ist. Stattdessen scheinen wir in den Konsequenzen der damaligen physiologischen Psychologie eines Theodor Ziehens festzustecken, was nichts anderes zur Folge hat, dass wir alles Seelische erst auf die Nerven gestützt haben und heute auf das Gehirn stützen. Rudolf Steiner beschränkt den Zusammenhang eines Seelischen mit der Nerventätigkeit nur auf das Vorstellen; das Fühlen und das Wollen stützen sich dagegen auf ganz andere leibliche Grundlagen. Das Fühlen bringt er in Beziehung „zu demjenigen Lebensrhythmus, der in der Atmungstätigkeit seine Mitte hat und mit ihr zusammenhängt.“ (S.151) Und diese Atmungstätigkeit will er bis in die äußersten peripherischen Teile der Organisation gedacht sehen. (Wenn man weiß, dass Tumore lebendige Gebilde im Organismus sind, die sich aus dieser Atmungstätigkeit ausgliedern und eine eigene Atmung entwickeln, ergibt das interessante Zusammenhänge). Das Wollen stützt sich auf die Stoffwechselvorgänge. „Wie dann, wenn etwas >vorgestellt< wird, sich ein Nervenvorgang abspielt, auf Grund dessen die Seele sich ihres Vorgestellten bewusst wird, wie ferner dann, wenn etwas >gefühlt<wird , eine Modifikation des Atmungsrhythmus verläuft, durch die der Seele ein Gefühl auflebt: so geht, wenn etwas> gewollt< wird, ein Stoffwechselvorgang vor sich, der die leibliche Grundlage ist für das als Wollen in der Seele Erlebte.“(S.152ff)
Ein musikalisches Erleben ist deshalb nicht nur ein Nerven-Sinnesvorgang, „die Seele lebt nun nicht in dem bloß Gehörten und Vorgestellten (des Tones), sondern sie lebt in dem Atemrhythmus; sie erlebt dasjenige, was im Atemrhythmus ausgelöst wird dadurch, dass gewissermaßen das im Nervensystem Vorgehende heranstößt an dieses rhythmische Leben.“ (S.152) Überall durchdringen sich die Tätigkeitsformen. Der Atemrhythmus, das Atmen und damit die Luft ist eine Art Träger des Fühlens. Rudolf Steiner hatte schon 1910 in seinem Buch ‚Anthroposophie‘, das er nicht beendet hat, die Wechselwirkung von Sinneserlebnissen und Lebensprozessen im Blick, möglicherweise fehlte ihm damals das vermittelnde Zwischenglied des Atmens und Fühlens. Während das auf die Nerven (und die Gehirntätigkeit) gestützte Vorstellungsleben ‚abgelähmtes‘ geistig Wesenhaftes abbildet, ist das Seelische, das mit dem Atmungsrhythmus und dem Fühlen zusammenhängt, ein noch Lebendiges, das deshalb auch den gesamten Lebensprozess durchdringt und modifiziert. Von der anderen Seite her durchdringt das Wollen den gesamten Organismus als Stoffwechseltätigkeit. Während die Funktion des Vorstellens die wache Bewusstseinsbildung bewirkt, hat das Fühlen im Atmungsrhythmus mehr ein ‚träumerisches‘ Mitempfinden des Geistigen zur Folge, und ist das Wollen im Stoffwechselprozess eher ein ganz unbewusster Vorgang, der sich in der Bewegungsfähigkeit zeigt.
Im Sinnesprozess findet Steiner ein Einströmen der Außenwelt in den Menschen, im Wollen und Bewegen eine Wirksamkeit, die den Organismus ‚übergreift‘. Der Mensch lebt dadurch in den ‚Gleichgewichts- und Kräfteverhältnissen der Außenwelt‘ mit. Das Fühlen und die Atmung vermitteln diese beiden Weltprozesse im Menschen. Die Seele wird heute im Wesentlichen nur noch als Bewusstseinsprozess erlebt und verstanden. Die menschliche Seele, wie Steiner sie charakterisiert, erscheint im und an dem menschlichen Organismus und in der Welt als Bewusstseinsseele (Abbild und Bild), als Luftseele (lebendige Empfindung und Gefühl) und als Bewegungsseele (Weltveränderung). Sobald ich nun diese drei Seelentätigkeiten miteinander in Verbindung bringe, also aktiv in dieses Verhältnis eingreife, kann ich in Bezug auf das Vorstellen erleben, das es eigentlich aus einem einfließenden lebendigen Denkzusammenhang gebildet wird (nur abgelähmt durch die Nerventätigkeit). „Das wirkliche Vorstellen ist das lebendige; das leiblich bedingte ist das abgelähmte. Der Inhalt ist derselbe. Wenn das Fühlen, das sich im leiblichen Atmungsrhythmus zeigt den sterblichen Teil des Menschen ‚offenbart‘; so zeigt sich gleichzeitig in dem Inhalt des Fühlens und des Fühlenden der ‚unsterbliche geistige Seelenwesenskern‘. Das Wollen, das in seinen leiblichen Vorgängen der Stoffwechselprozesse, am wenigsten dem Inhalt entspricht, der in ihm lebt, es enthüllt bei entsprechender Aktivierung und Sensibilisierung den karmischen Bezug zur Außenwelt.
Eigentlich gilt für die Seelenwissenschaft, die Rudolf Steiner 1917 skizziert, und die damit die Psychologie von Aristoteles (insbesondere ‚de anima‘) weiterführt, dass sie bei genauem Betrachten schildert, was heute seelische Wirklichkeit geworden ist. Eine seelische Wirklichkeit, die alleine in der abgelähmten Spiegelwirklichkeit des Bewusstseins existieren soll, ist weder seelisch noch leiblich aushaltbar. Eine seelisches Fühlen, das nicht seine eigene Unsterblichkeit berührt, kann nicht wirklich befriedigen, ein Wollen, das nicht seine eigenen karmischen Impulse in der Welt bemerkt und verwirklicht, verbindet sich möglicherweise mit allgemeinen Objekten. Insofern geht es dem heutigen menschlichen Seelenleben vielleicht schon so, wie Steiner es für Brentano in seinem Nachruf diagnostiziert: Er lebte eigentlich schon in der imaginativen Schicht der Wirklichkeit, die er sich selbst aber immer wieder mit naturwissenschaftlicher Begrifflichkeit verborgen hat. Heutige Psychologie und gegenwärtiges Erleben brauchen deshalb diesen Zusammenhang, der in ‚Seelenrätseln‘ geschildert wird, er müsste aber entsprechend freigelegt und auf den heutigen Stand menschlicher und wissenschaftlicher Entwicklung gebracht werden.
Roland Wiese, Horstedt, Oktober 2017 ( nach einem Seminar der DELOS-Forschungsstelle in Berlin Eichwalde zum Thema )

erschienen in ‚Anthroposophie‘ Vierteljahreschrift, 4.2017

 

 

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