eine Rezension des Buches ‘Ich-Bildung’ von Philip Kovce (Verlag des Ita-Wegman Instituts, 2017)
(erscheint im Mai 2018 in Die Drei)
Lieber Philip Kovce, es ist vielleicht nicht üblich die Rezension eines Buches so zu beginnen. Aber mir erscheint es angesichts des Namens und des Themas deines Büchlein:‘ Ich-Bildung‘ – nicht stimmig eine objektivere Tonart zu wählen. Die persönliche Ansprache rührt nicht etwa aus einer persönlichen (seelischen) Beziehung, die wir hätten, sondern aus einer inhaltlich-thematischen Beziehung – der Beziehung zum Ich und seine Bildung bzw. seiner Entwicklung (vielleicht ist es so, dass dadurch eine persönlichere, seelische Beziehung aufscheint). Ich habe mich in einigen Seminaren intensiv mit dem Thema Ich-Entwicklung in der sozialen Arbeit beschäftigt, aber auch literarisch (z.B. ‚Psychologie des Ich‘) in einigen Beiträgen. Wenn einen dann die Anfrage nach der Besprechung eines Buches mit dem Titel Ich-Bildung erreicht, stößt das natürlich auf eine ganz andere Resonanz, als wenn man mit dem Thema noch nichts zu tun hatte. Ich-Bildung durch Ich-Entwicklung; Ich-Entwicklung durch Ich-Bildung so könnte man den Zusammenhang unserer Beschäftigung mit dem Ich etwas formelhaft bezeichnen. (es sei erwähnt, dass du auch ein weiteres kleines Büchlein zum Ich verfasst hast: ICH SETZE ICH SÄTZE; 2016 bei Aquinarte erschienen).
Wenn man die Fragestellung, die du in dem kleinen Text in neun Kapiteln behandelst in einem Zitat von Gerhard Kienle konzentriert, dann könnte man eine Stelle aus der ‚Ungeschriebenen Philosophie Jesu‘ von ihm nehmen (einen Text, auf den du dich ja auch beziehst; ein Büchlein, das ich 2003 für 3 € in einem Antiquariat gefunden habe): „Wenn Jesus sagt (Johannes 14.6):“Ich bin der Weg, die Wahrheit, das Leben“, so meint er unter dem Wort Weg wohl auch, dass eine intellektuelle Tätigkeit nötig sei (…)Wir werden aber sehen, dass Weg nicht nur Induktion meint, sondern vielmehr eine Einheit von Schicksalsbewältigung und Erkennen.“ (Kienle S.81) Ich glaube Ich-Bildung, Ich-Entwicklung besteht genau in diesem Zusammenhang von Leben und Erkennen. Oft werden sie ja gegeneinander ausgespielt: Erkennen schwebt quasi über dem Wasser; Leben ist per se existentiell. Eine zweite Formulierung von Gerhard Kienle hat mich bewegt, und ich halte sie menschenkundlich (auch therapeutisch und pädagogisch) für zukunftsträchtig: „Was die Jünger des Täufers an Jesus wahrnehmen sollten, waren keine spektakulären Wunder, sondern Jesu ungewöhnlich starke natürliche Bewegungskraft, die auf andere, sofern dies erbeten wurde, überging.“ (Kienle S.41) Möglicherweise führt die Einheit von Erkennen und Schicksalsbewältigung zu einer solchen Bewegungskraft, die übergehen kann auf andere (auch auf die Natur)?
Entschuldige, dass ich so direkt in das Thema einsteige, aber dein Buch hat ja als eine Art Untertitel (und Unterthema): „ Ich-Bildung. Der Mensch als Schöpfer seiner selbst. Motive einer ungeschriebenen Philosophie Gerhard Kienles“. Das Buch selbst ist ja die geschriebene Nach-Fassung eines ungeschriebenen Vortrages von dir, den du 2017 auf einer Tagung gehalten hast. Du selbst hast an der Universität (Witten-Herdecke) studiert, die Gerhard Kienle ja Anfang der achtziger Jahre (also kurz vor deiner Geburt) mit gegründet hat. Und heute forschst du dort.
Du schilderst in den ersten 8 Kapiteln die Geschichte der Ich-Bildung in den letzten Jahrhunderten vor dem 21. Jahrhundert mit Hilfe der exemplarischen Ich-Erkunder, Fichte, Stirner (für mich sehr interessant, da inhaltlich noch unbekannt), Nietzsche. Und für das 20. Jahrhundert bezeugen Steiner und Gerhard Kienle die Weiterentwicklung dieses Weges. Eines Weges, der immer deutlicher die Einheit von Erkennen und Leben beinhaltet – nicht mehr ganz so philosophisch ist, wie noch zuvor. Zum Schluss, in deinem 9. Kapitel kommst du an den Anfang zurück, an die Frage nach der Anwesenheit. „Der Mensch, der bei sich selbst einzieht, kommt nach Hause; und er kommt zu sich selbst, wenn der andere ihn als Gast empfängt. Ich bin es, der zu mir selbst kommt; und du bist es, der mich freundschaftlich beherbergt. Ich bilde mich daran, womit ich mich verbinde. Wenn wir Ich-Bildung geistesgegenwärtig vollziehen, dann sind alle jene dabei anwesend, die die Möglichkeit dieser Anwesenheit geistesgeschichtlich erst errungen haben. Und wir adeln diese Möglichkeit, indem wir Ich-Bildung selbstbewusst verwirklichen.“ (Kovce 59). Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen (abgesehen davon, dass der Vorteil geschriebener Texte darin besteht, dass man sie lesen kann, und wie ich z.B. jetzt bei Gerhard Kienle, durch dich angeregt, auch noch 14 Jahre später).
Roland Wiese, Horstedt