Wo bin ich?

Foto: Roland Wiese, Salzwiesen Spiekeroog

Psychologie der Physiologie

„Wert legen auf Psychologie und psychologisches Wirken.

Die Psychologie muß aus der Bewusstseinsseele neu  begründet werden.

Die Psychologie sollte aber keine neue Theorie, sondern eine spirituelle Betätigung werden, mit der man dem Niedergang entgegenarbeitet, denn Menschen verlieren das Seelische. Das wäre ihre anthroposophische Aufgabe.“

(Notiz von Franz Löffler nach einem Gespräch mit Dr. Steiner am 6.Juli 1924)

Wenn heute der Begriff ‚Psychologie‘ gebraucht wird, dann ist nicht so wirklich deutlich, was damit eigentlich gemeint ist. Die Psychologie als Wissenschaft, aber auch als angewandte Technik, schwankt zwischen empirischer Wissenschaft mit einer Anlehnung an die Naturwissenschaft und einer Art Rest Psychologie mit philosophisch ernst zu nehmendem Anspruch. Diese zweite Form der Psychologie ist aktuell meist eine Art anthropologischer Phänomenologie oder auch phänomenologischer Anthropologie. Als Drittes existiert Psychologie noch als Wissenschaft, die den verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren zugrunde liegt, also Tiefenpsychologie und Verhaltenspsychologie. Aus dieser dritten Schicht speist sich wesentlich das allgemeine Selbsterleben und die Selbstanschauung. Insofern kann man berechtigt von einem psychoanalytischen Jahrhundert sprechen, was das menschliche Selbstverständnis angeht.  Was bisher nicht wirklich entstanden ist, ist eine Psychologie als eine Art menschlicher Zentralwissenschaft, die eigentlich in allen Wissenschaften als menschliches Dabei Sein der Ausgangs- und Zielpunkt ist. So versteht sich aber ganz explizit die ‚Psychologie des Ich‘, die wir im Rahmen der Forschungsstelle für Psychologie DELOS erarbeiten (Buchveröffentlichung 2016: ‚Psychologie des Ich‘). Es geht in dieser Arbeit nicht nur um eine Psychologie im engeren Sinne, eine Psychologie der Seele. Eine wirkliche Psychologie des Ich ist immer auch eine Psychologie der Natur, eine Psychologie des Geistes usw. Eine solches Verständnis von Wissenschaftlichkeit würde den erlebenden Menschen nicht aus der Forschung herausnehmen, sondern ihn gerade als Mittelpunkt, also Ausgangspunkt und Zielpunkt sehen. In und mit der Psychologie entwickelt der Mensch sein sich selbst Verstehen und sein sich selbst Erleben in der Welt. Psychologie berührt als Wissenschaft immer auch die existenzielle Verfasstheit des einzelnen Menschen. Ihre Begriffe sind in ihrer Wirkung auf das Leben der Menschen direkt spürbar. In ihnen und durch sie erlebt der Mensch sich und die Welt. Insofern hat die Psychologie die Theologie und die Philosophie abgelöst. In den letzten 200 Jahren hat sich die Psychologie aber als ‚schwache Wissenschaft‘ gezeigt. Sie hat sich der naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklung als nicht gewachsen gezeigt und deren Methoden und Grundannahmen übernommen. Dies zeigt sich bspw. in der physiologischen Psychologie und Neurologie des 19. Jahrhunderts. Die empirischen Befunde dieser Psychologie überformten die eigentliche Psychologie und das menschliche Erleben wurde zum Effekt der Physiologie. Nicht die Ergebnisse der Forschungen sind das Problem, das Problem ist die geistige Schwäche der Psychologie, die sich in den Befunden verliert.

Es gibt bei Rudolf Steiner, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, eine Perspektive, die das Problem und die anstehende Aufgabe sehr deutlich formuliert: „Der Weg der äußeren Beobachtung hört mit dem Vorgange in meinem Gehirn auf, und zwar mit jenem, den ich wahrnehmen würde, wenn ich mit physikalischen, chemischen usw. Hilfsmitteln und Methoden das Gehirn behandeln würde.  Der Weg der inneren Beobachtung fängt mit der Empfindung an und reicht bis zum Aufbau der Dinge aus dem Empfindungsmaterial. Beim Übergang von dem Hirnprozeß zur Empfindung ist der Beobachtungsweg unterbrochen.“ (GA 4, S. 77). Es scheint also eine Grenze zu geben zwischen äußerer Beobachtung, und darauf stützt sich alle empirische Wissenschaft, und innerer Empfindung. Nirgendwo in meinem Gehirn ist das, was ich jetzt gerade denke und niederschreibe mit äußeren Methoden aufzufinden.

Wenn man mit dieser Denk- und Beobachtungstatsache umgeht, kommt man zwangsläufig an den Punkt, dass einem klar wird, dass die äußere Beobachtung nie an irgendeinen inneren Prozess herankommen kann. Selbst Untersuchungen kleinster Entitäten in der Natur oder im menschlichen Organismus bleiben immer Außenperspektive. Ins Innere des menschlichen Organismus oder  der Natur kommt man nicht dadurch herein, dass man immer genauere ‚Bilder‘ oder ‚Messungen‘ der scheinbar inneren Verhältnisse herstellen kann. Die Beobachtung des Gewordenen, und nichts anderes ist empirische Beobachtung, ist die Grundlage für eine immer feinere Analyse der äußeren Wirklichkeit und für eine immer bessere technische Handhabbarkeit dieser Wirklichkeit. Während die meisten Menschen denken, die  technischen Bilder des menschlichen Inneren wären tatsächlich Bilder eines Innen, wird die Außenwelt nur immer weiter auseinandergezogen und die einzelnen Außenseiten vergrößert. Man kommt immer nur wieder an neue Oberflächen heran. Man versteht dadurch natürlich die ‚mechanischen‘ Beziehungen und Vorgänge der Natur oder des Organismus, aber man vergisst meist, dass man dazu als Mensch aus sich herausgehen muss und auf diesem Wege auch nicht wieder in sich hinein kommt, sondern immer weiter aus sich heraus.

Wenn man sich nun fragt, wo sich dann derjenige befindet, der das hier denkt und schreibt, bzw. in welchem Verhältnis derjenige zu dem steht, was als Körper sinnlich wahrnehmbar ist, dann wird es etwas abgründig. Ist derjenige in dem Körper drinnen? Und wenn ja, wie ist er da drinnen, und warum kann man ihn nicht sehen und sieht stattdessen, Nerven, Gehirn usw. ? Man kann dieses Fragen noch weitertreiben, um die Sache auf den Punkt zu bringen. Wenn ich etwas sehe, wo ist das? Wird da etwas, das ich außen sehe, durch meine Nerven in mein Gehirn geleitet? Und wenn ja wie geschieht das, was geschieht mit dem Bild, das ich sehe, wie kommt das in mein Gehirn, und wieso sehe ich es? Alles ganz einfache Fragen, aber bis heute vollkommen ungeklärt. In seinem Aufsatz „Die Sinnesorgane als voraneilende Organbildung der Leibesentwicklung“ betont auch Christian Schikarski diese Wissenschaftslücke: „Gemeinhin wird dann der Weiterleitung des Nervenimpulses ins Gehirn und der dort stattfindenden „Signalverarbeitung“ die Bewusstwerdung eines Wahrnehmungsinhaltes zugesprochen. Rätselhaft daran bleibt, wie die vergleichsweise uniformen Nervenimpulse zu der unglaublich vielfältigen Wahrnehmungswelt, die wir ja subjektiv kennen, führen können. Seit dem Beginn der Sinnesphysiologie ist in dieser Fragestellung, das muss eingestanden werden, ein Problem übriggeblieben: Die Frage, wie eine wirksame Brücke von der physikalischen Mitschwingung bis zu der in unserem Bewusstsein erscheinenden Wahrnehmung gedacht werden kann“ (ARS-Studien, S. 2) Auch Ernst Michael Kranich stellt sich in seinem Buch ‚Der innere Mensch und sein Leib‘ die Frage, wie eine Codierung/Verschlüsselung der Sinnesreize gedacht werden kann ,wenn diese von erstaunlicher Monotonie sind, und er fragt: Wie kann aber im gleichen Nerv so Unterschiedliches in derselben Form codiert sein?“ (Der innere Mensch und sein Leib, S. 134 ff.) Und weiter: „ Wenn alle Sinnesqualitäten die gleichen Wirkungen in den Nerven auslösen, dann wird es schwierig, in den Aktionspotentialen und ihrer Frequenz die Verschlüsselung  so unterschiedlicher Qualitäten zu sehen.“ (ebd.) Das bedeutet nichts anderes, als dass schon der Weg unterbrochen ist, bzw. dass nicht durch die Nerven irgendetwas Inhaltliches an das Gehirn übermittelt wird.

Rudolf Steiner hatte diese Frage in seinem Buch ‚Von Seelenrätseln‘, ohne die heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, noch weiter zugespitzt. Er bringt das Vorstellen mit der Nerventätigkeit zusammen, “wo Nerventätigkeit stattfindet, da ist Vorstellen des gewöhnlichen Bewusstseins vorhanden. Der Satz kann auch umgedreht werden: wo nicht vorgestellt wird, kann nie Nerventätigkeit gefunden werden, sondern nur Stoffwechseltätigkeit im Nerven, und andeutungsweise rhythmisches Geschehen.“ (S.156) Also ja, Nerventätigkeit und Vorstellen gehören zusammen, aber „die wahrhaftige Nerventätigkeit (kann) überhaupt nicht Gegenstand der physiologischen Sinnesbeobachtung sein.“ (ebd.) Es gibt eine Nerventätigkeit, diese ist auch Grundlage des Vorstellens und umgekehrt, aber diese Nerventätigkeit ist genauso wenig sichtbar wie die Vorstellung in mir. Was wäre also unter einer Nerventätigkeit zu verstehen, die zwar nicht zu beobachten ist, aber immer da ist, wenn vorgestellt wird? Steiner deutet damals (1917) auch an, in welche Richtung man denken müsse: „Zu einer positiven Vorstellung über die Nerventätigkeit kommt man, wenn man in ihr dasjenige materielle Geschehen sieht, durch das (…) die rein geistig-seelische Wesenhaftigkeit des lebendigen Vorstellungsinhaltes zu dem unlebendigen Vorstellen des gewöhnlichen Bewusstseins herabgelähmt wird. Ohne diesen Begriff, den man in die Physiologie einführen muss, wird in dieser keine Möglichkeit bestehen, zu sagen, was Nerventätigkeit ist.“ (S.157). 

Die Nerventätigkeit ist also ein materielles Geschehen, das in der Lage ist, einen lebendigen Vorstellungsinhalt so abzulähmen, das er uns als gewöhnliches Bewusstsein dienen kann. Dieser Begriff der Nerventätigkeit und auch des Bewusstseins wird in den Leitsätzen von 1924 wieder aufgegriffen: „Das Bewusstsein entsteht nicht durch ein Fortführen derjenigen Tätigkeit, die aus dem physischen und dem Ätherleib als Ergebnis kommt, sondern diese beiden Leiber müssen mit ihrer Tätigkeit auf den Nullpunkt kommen, ja noch unter denselben, damit „Platz entstehe“ für das Walten des Bewusstseins. Sie sind nicht die Hervorbringer des Bewusstseins, sondern sie geben nur den Boden ab, auf dem der Geist stehen muss, um innerhalb des Erdenlebens Bewusstsein hervorzubringen.“ (Leitsätze S. 19) Diese Formulierungen weisen darauf hin, dass die leibliche Grundlage eine ganz bestimmte Aufgabe hat in Bezug auf das Geistig-Seelische im irdischen Leben, sie dient dazu innerhalb dieses physischen Lebens ‚Platz‘ zu schaffen für (ein) Geistig-Seelisches, das sich seiner bewusst werden kann. Etwas weiter heißt es dann demgemäß: „Dieses (das Bewusstsein) entsteht, wenn das Geistige in den Menschen dadurch eintritt, dass die Kräfte des physischen und des ätherischen Leibes diese abbauen. Im Abbau dieser Leiber wird der Boden geschaffen, auf dem das Bewusstsein sein Leben entfaltet.“ (S.19) Die Kräfte des Organismus wirken im Bereich der Nerven nicht mehr den Leib aufbauend und erhaltend, sondern sie wirken im Nervensystem diesen  abbauend. Und abbauend heißt bis in den Bereich des Sterbens hinein („unter den Nullpunkt“).

Johannes W. Rohen beschreibt sehr präzise ein solches Sterben als die eigentliche Aufgabe des Erregungsgeschehens: “ Die Nervenzelle muss mit ihren Fortsätzen ständig ein negatives Membranpotential aufbauen, um erregbar zu bleiben. Dies kostet Energie, die vom Zellkörper kommt und über das Zytoplasma den Membranen zufließt. Im Tode hören diese energetischen Transportprozesse auf. Na+(Natrium) Ionen dringen ins Zytoplasma ein und die Konzentrationsdifferenzen gleichen sich aus. Die Zelle quillt und stirbt. Überall, wo Konzentrationsdifferenzen und Ionengradienten zusammenbrechen, d.h. die rein physikalische-chemischen Gesetze der äußeren Natur Überhand gewinnen, sterben die Zellen ab; ein Prozess, der im gleichen Maßstab beim Tod stattfindet. Im Tode löst sich aber auch das Geist-Seelische des Menschen von seinem Körper ab, d.h. es wird wieder frei. Wenn nun der nervöse Erregungsprozess mit dem Eindringen von Na+ Ionen beginnt, so bedeutet dies nicht mehr oder weniger, als dass die ein -allerdings- nur Bruchteile einer Sekunde andauerndes – Absterben beginnt. Nervenerregung ist also immer ein minuziöses Todesgeschehen, das nur deshalb nicht zu einer Katastrophe führt, weil die Nervenzelle laufend Energie aufbringt, um die Membranen wieder aufzuladen, d.h. die Zelle wieder zu verlebendigen.“ Und er konstatiert: „Wenn es sich also hier um eine Art Absterbevorgang handelt, muss man auch erwarten, dass geistig-seelische Kräfte frei werden. Die minuziösen Todesprozesse an den Nervenfasern und Synapsen (weiße Substanz)wären damit die Voraussetzung dafür, dass Bewusstsein entsteht. Durch das lokalisierte „Absterben“ entstehen Informationsprozesse, die im Seelischen als Spiegel der erregungsauslösenden Ereignisse bewusst werden können, bzw. darin ihr Abbild haben.“ (J. W. Rohen, Morphologie des menschlichen Organismus, S. 239 ff).

Christian Schikarski schildert das physiologische Geschehen der Wahrnehmung ähnlich. „Bei der Betrachtung der Nervenfunktion wird diese Neigung zum Mineral noch deutlicher: Das Membranpotential wird durch die aktive Trennung von gelösten Mineralien hervorgebracht. Das Natrium wird unter Aufwand von Energie aus der Nervenzelle ausgeschleust, das Kalium wird intrazellulär gehalten. Der Nervenreiz lässt die labile Lebensfunktion, die diese Trennung aufrechterhält, einbrechen und die Mineralien mischen sich, wie sie es in der Außenwelt tun würden. Bei jedem Reiz tritt also für kurze Zeit der Zustand der zufälligen Vermischung statt. Wenn aber etwas innerhalb des Organismus so geschieht wie in der Außenwelt, dann ist das ein Abbild eines Todesprozesses. Dieser wird jedoch sogleich in der Repolarisation wieder aufgehoben. So können wir uns bei der Betrachtung dieser Prozesse an die Begriffsbildung des Lähmungsprinzips der Nervenfunktion annähern. Es kann verständlich werden, was es heißt, wenn etwas auf dem Wege des Sterbens gerade noch aufgehalten wird und vor der Stufe zum Mineral stehen bleibt. Es geschieht dadurch, dass eine Salzlösung zwischen mineralisch und verlebendigt oszilliert. Unter diesem Aspekt ist der Nerv ein nicht zu Ende kommender Knochenprozess, weil der Nerv zu seiner Funktion ständig der quasi mineralischen Ionenmischung bedarf, damit er, zum Toten hin tendierend, nicht bis zur Kristallisation getrieben, sondern noch in Lösung gehalten wird. Die Mineralien neigen im Nerven zur Mischung wie außerhalb des Organismus und werden durch die Repolarisation immer wieder entmischt und sortiert. Sie bleiben in Lösung und fällen nicht aus in feste Konglomerate, wie es im Knochen der Fall ist.“ (Christian Schikarski, Blut und Nerv, in http://www.ARS-Studien, S. 6)

Der Vorgang, der bei Rudolf Steiner als „Eintreten eines Geistig-Seelischen in den Menschen“ beschrieben wird, zeigt sich in seiner (heute möglichen) physiologischen Beschreibung (so z.B. bei Ernst-Michael Kranich) entsprechend: Ein Sinnesreiz, z.B. Wärme, dringt in „das Leben des menschlichen Leibes“ ein. „Sie wird zum unbewussten Wärmereiz.“ Im Bereich der Nerven trifft der unbewusste Wärmereiz auf das neutrale Potential, das der Nerv aufbaut und das durch die Berührung mit dem Sinnesreiz zusammenbricht – das minuziöse Sterben befreit den unbewussten Sinnesreiz aus seiner lebendigen Einbindung und lässt ihn bewußt werden. Die Ablähmung, bzw. das Absterben des Lebens, befreit den Bewusstseinsinhalt aus dem Leben. Damit ist die Empfindung der Außenwelt möglich, im Ausgleich des Todesprozesses durch den Organismus (Stoffwechsel) wird wiederum das Selbsterleben (als Tätigkeit) hintergründig hervorgerufen. So dass man faktisch einen Atemprozess zwischen Erleben der Außenwelt und Erleben des eigenen Inneren hat.

Durch die Sterbeprozesse im Nervenbereich entsteht innerhalb des Lebens „Platz“, wie es Rudolf Steiner nennt. Dieser Platz ist der eigentliche Bewusstseinsraum und Inhalt. In den Vorträgen zur Allgemeinen Menschenkunde (1919) schildert Rudolf  Steiner im 7. Vortrag ausführlich das Geschehen im Nervensystem: „ Aber das Nervensystem hat zum Geiste eine eigentümliche Beziehung. Es ist ein Organsystem, das durch die Funktionen des Leibes fortwährend die Tendenz hat zu verwesen, mineralisch zu werden. (…) Im Nervensystem geht fortwährend das Sterben des Menschen vor sich. Das Nervensystem ist das einzige System, welches gar keine unmittelbare Beziehung zum Geistig-Seelischen hat. (…) Das Nervensystem stirbt fortwährend ab; es sagt fortwährend zum Menschen: Du kannst dich entwickeln, weil ich dir kein Hindernis biete, weil ich mache, dass ich gar nicht da bin mit meinem Leben.(…) Nur dadurch, dass es sich fortwährend aus dem Leben herausdrückt, dass es dem Denken und Empfinden gar keine Hindernisse bietet, dass es gar keine Beziehungen zum Denken und Empfinden anstiftet, dass es den Menschen leer sein läßt in bezug auf das Geistig-Seelische da, wo es ist. Für das Geistig-Seelische sind einfach dort, wo die Nerven sind Hohlräume. Daher kann das Geistig-Seelische dort hinein, wo die Hohlräume sind.  (….) Die Physiologen sagen: Die Organe des Denkens sind die Nerven, insbesondere das Gehirn. – Wahr ist, dass Gehirn- und Nervensystem gerade nur dadurch mit dem denkenden Element etwas zu tun haben, weil sie sich immerfort aus der Organisation des Menschen ausschließen, und weil dadurch das denkende Erkennen sich entfalten kann. (…)“ Rudolf Steiner beschreibt nun, dass beim Wahrnehmen, z.B. beim Sehen des Lichtes, reale physisch-chemische Vorgänge im Auge geschehen, die sich auch weiter in den Leib hinein fortsetzen. „Dazwischen bleibt eine leere Zone. In dieser leeren Zone, die durch das nervöse Organ leer gelassen ist, entwickeln sich keine solchen Vorgänge wie im Auge oder im Inneren des Menschen, die selbständige Vorgänge sind, sondern da hinein setzt sich fort, was draußen ist: Die Natur des Lichtes, die Natur der Farben selber und so weiter. Wir haben also an unserer Körperoberfläche, wo die Sinne sind, reale Vorgänge, welche vom Auge, vom Ohr, vom Wärmeaufnahmeorgan und so weiter abhängen. Ähnliche Vorgänge sind auch im Inneren des Menschen. Aber dazwischen nicht, wo die Nerven sich eigentlich ausbreiten; die machen den Raum frei, dort können wir leben mit dem, was draußen ist. Das Auge verändert Ihnen Licht und Farbe. Dort aber, wo Sie Nerven haben, wo Sie hohl sind in bezug auf das Leben, da verändern sich Farbe und Licht nicht, da leben Sie Licht und Farbe mit. Sie sind nur in bezug auf die Sinnessphäre abgesondert von einer äußeren Welt, aber innen leben Sie, wie in einer Schale, Außenvorgänge mit. Da werden Sie selbst zum Licht, da werden Sie selbst zum Ton, da breiten sich die Vorgänge aus, weil die Nerven dafür kein Hindernis sind, wie das Blut und der Muskel. (…) Wir wachen nur in einer Zone, die zwischen dem Äußeren und dem Inneren liegt, vollständig auf.“ (S. 121 ff)

Mein lebendiger Organismus dient als eine Art Übergangs-Leben der Aufnahme der geistig-seelischen Umgebung. Die Einkleidung  der geistigen Eindrücke in die sinnlichen Wahrnehmungen und damit in die eigenen Lebensprozesse führt dazu, dass das Ich nicht geistig direkt in der geistigen Umgebung steht.  Es kommt zur Subjekt/Objekt Spaltung. Der Nervenprozess hat in diesem Zusammenhang eine besondere Aufgabe: Einerseits entkleidet der ‚Sterbeprozess‘ des Nervengeschehens die in das Physisch-Lebendige eingebundene Wahrnehmung von diesem Physisch-Lebendigen, so dass es frei als Bewusstsein erscheinen kann, andererseits wird es sofort wieder abgelähmt , durch den Regenerationsprozess der Nerven. Deshalb kann Steiner zu Recht sagen, dass in der Nerventätigkeit „die rein geistig-seelische Wesenhaftigkeit des lebendigen Vorstellungsinhaltes zu den unlebendigen Vorstellungen des gewöhnlichen Bewusstseins herabgelähmt werden.“ (Von Seelenrätseln, S. 157) Und weiter schreibt er: „ Das wirkliche Vorstellen ist das lebendige; das leiblich bedingte ist das abgelähmte. Der Inhalt ist der derselbe.“ Das im Nerven stattfindende „Sterben“ macht ‚Platz‘ für das Wahrnehmen und Vorstellen, macht Platz für ein Geistig-Seelisches mitten in einem Physisch-Lebendigem. Gleichzeitig sorgt die Stoffwechseltätigkeit immer wieder für eine Regeneration nach dem ‚Sterben‘, dem Unter-Null-Kommen des Organismus, und lähmt damit das Geistig-Seelische wieder ab zum gewöhnlichen Bewusstsein. Das kann man in der Selbstbeobachtung schon daran bemerken, dass die Eindrücke und die Vorstellungen kommen und gehen. Das Assoziative der Vorstellungen, die den äußeren und inneren Wahrnehmungen einfach nur folgen, war für die physiologische Psychologie des 19. Jahrhunderts ein Kennzeichen dafür, dass auch das Ich in Wirklichkeit nur eine theoretische Fiktion ist, die sich aus dem Zusammensetzen der Assoziationen und Vorstellungen ergibt. Diese Vorstellung hat sich in der Psychologie bis heute als Untergrund gehalten, nur dass heute dieses Ich als Narration verstanden wird.

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In seinem Vortrag ‚Über die Grenzen des Naturerkennens‘ 1872 in Leipzig hat Emil Du Bois Reymond(1818-1896) als eines der unlösbaren Welträtsel die Frage nach der Entstehung des Bewusstseins oder die Tatsache der Empfindung  bezeichnet. Und er hat insofern bisher Recht behalten, dass auch alle neuroszientistischen Bemühungen der letzten 50 Jahre diese Frage nicht lösen konnte. Denn durch die Untersuchung der ‚mechanischen‘ Verhältnisse (z.B. der Nerven oder des Gehirns), und nur dies ist der Naturwissenschaft möglich, ist dem Rätsel nicht auf die Spur zu kommen. Auch die Behauptung von Korrelationen  innerer Eindrücke und bestimmten Nerven- und Gehirnprozessen ist zwar für die technische Praxis (z.B. Operationen, Prothetik etc.) hilfreich, aber klärt nicht das Grundproblem. Rudolf Steiner hat dann in seinen Vorträgen im September 1920, die sicher nicht zufällig unter dem Titel ‚Grenzen der Naturerkenntnis‘ gehalten wurden, diese Frage aufgegriffen und eine Art Anthropologie der Wissenschaft oder des Erkennens erarbeitet, mit deren Hilfe, sich die aufgeworfenen Fragen durchaus als beantwortbar zeigen. Dies ist allerdings nur möglich, wenn man den Menschen in diese Frage mit hinein nimmt.  Steiner beschreibt die Entstehung des Bewusstseins als eine  menschheitliche Entwicklung. „Wie wir im Grunde jeden Morgen, wenn wir die Augen aufschließen, das Bewusstsein wiedererlangen an unseren Wechselbeziehungen zur äußeren Welt, so war es auch im Entwicklungsgang der Menschheit. An dem Verkehr der Sinne, des Denkens mit dem äußeren Gang der Natur hat sich erst das Bewusstsein entzündet, ist erst das Bewusstsein so geworden, wie es jetzt ist. Die Tatsache des Bewusstseins sehen wir einfach historisch sich entwickeln an dem Sinnenverkehr des Menschen mit der äußeren Natur. Aus dem dumpfen, schläfrigen Kulturleben der Urweltzeiten entzündete sich das Bewusstsein an dem menschlichen Sinnenverkehr mit der äußeren Natur.“ (1. Vortrag, S.9) Entscheidend ist hier der Begriff ‚Wechselbeziehung‘ oder auch ‚Sinnenverkehr‘. Es findet eine Entwicklung zwischen einem Inneren und einem Äußeren statt, und das Bewusstsein ist das Ergebnis dieses Tätigkeit. Das Ziel dieses Verkehrs oder dieser Wechselbeziehung ist bei Steiner das völlige Aufwachen des Menschen an der Außenwelt, im Gegensatz zu dem eher träumerischen Innenleben. „Wenn wir zurückschauen in unser Seelenleben, was da ist, entweder indem wir des Morgens aufwachen und vor dem Aufwachen noch drinnen verharren in der Dumpfheit des Traumbewusstseins, oder indem wir auf Urzustände der Menschheitsentwicklung, auf das auch fast traumhafte Bewusstsein dieser Urzeiten schauen, wenn wir das alles ins Auge fassen, was gewissermaßen zurückgeschoben ist in unserem Seelenleben hinter der an der Oberfläche liegenden Bewusstseinstatsache, die aus dem Sinnenverkehr mit der äußeren Natur entsteht, so finden wir eine Vorstellungswelt, wenig intensiv, bis zu Traumbildern herabgeschwächt, mit unscharfen Konturen, die einzelnen Bilder verschwimmend. Das alles kann eine unbefangene Beobachtung feststellen. Diese geringe Intensität des Vorstellungslebens, diese Verschwommenheit in den Konturen, dieses Auseinanderschwimmen der einzelnen Vorstellungsbilder, es hört nicht anders auf, als dass wir erwachen zum völligen Sinnenverkehr mit der äußeren Natur.“ (1. Vortrag, S.10) Ein richtiges Menschsein, wach und bewusst, entsteht für uns nur durch den Wechselverkehr der mehr traumhaften und unkonturierten Vorstellungsbildung mit der Sinneswahrnehmung der Außenwelt. Damit haben wir die oben skizzierte Nerventätigkeit auf einer anderen Stufe anthropologisch erfasst. Und Steiner konkretisiert den Vorgang später im 3. Vortrag dahingehend, dass er der äußeren Empirie zuspricht unsere inneren leeren Begriffe mit Inhalt zu erfüllen. Das bedeutet ja nichts anderes, das in dem Wechselverkehr zwei Seiten des Menschen zusammenkommen, die erst einmal wie getrennt auftreten: ein inneres Empfinden, Vorstellen, Denken und ein äußerer Inhalt, der in den Wahrnehmungen liegt. Wir haben in diesem Verhältnis eine erste Stufe des peripheren Menschen erfasst, der in einer Beziehung zu einem inneren zentralen Menschen steht.

Die Perspektive Steiners zielt also in eine ganz andere Richtung als die Versuche der physiologischen Psychologie. Diese sucht eine naturwissenschaftliche Erklärung des Bewusstseins in der körperlichen Grundlage. Steiner sieht in der körperlichen Grundlage immer  ‚nur‘ eine Art Stoffwechselprozess, der Bedingung für das Auftreten von Bewusstsein ist, denn Vorstellen, Empfinden und  Denken bedienen sich der körperlichen Grundlage (im Sinne des oben Beschriebenen). Aber der eigentliche Wechselprozess findet eben statt zwischen Denken, Vorstellen, Empfinden und den äußeren Inhalten der Wahrnehmungen. Und das Ziel dieses Prozesses ist das Zusammenkommen dieser beiden Seiten der Wahrnehmung. Und die Wirkung der Wahrnehmung ist wiederum doppelt anzuschauen: Die eine Wirkung ist die anthropologische – das völlige Erwachen des Menschen in einem Bewusstseinsinhalt; die andere Wirkung ist die körperliche Entwicklung, indem die Wahrnehmung den Stoffwechsel (inklusive der Nerven und des Gehirns) ‚formt‘. Die Plastizität von Gehirn- und Nervenprozessen im Sinne einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Verknüpfung der verschiedenen Gehirn- und Nervenzellen spricht von dieser formenden und bildenden Wirkung. Ähnlich wie der Muskel (und seine Umgebung) sich durch, und entsprechend den getätigten Bewegungsprozessen bildet, bildet sich das Gehirn- und Nervensystem entsprechend den getätigten Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Denkprozessen. Aus einem vorhandenen organischen Zusammenhang bildet sich durch die getätigten Wahrnehmungsprozesse ein neuer Wahrnehmungszusammenhang. Dies zeigt sich in der Tatsache, dass durch die Wahrnehmung ein Abbau (auch eine Störung) des vorhandenen Organismus eintritt, und in der Folge der Organismus unter Berücksichtigung des Abbaus wieder neu aufgebaut werden muss. Die Wahrnehmung dient insofern der Entwicklung des Organismus entsprechend der Entwicklung des Bewusstseins, welches  sich in den Wahrnehmungen, Vorstellungen und Empfindungen bildet. Diese immer wieder neue durch die Wahrnehmung angeregte zusammenhangschaffende Tätigkeit des Organismus hat Steiner an anderer Stelle als Ich-Erlebnis beschrieben (Leitsatz 11, GA 24 dazu ausführlich R.Wiese in ‚Psychologie des Ich‘ das Kapitel ‚Erfahrungen des Ich).

Ein Gedanke zu “Wo bin ich?

  1. Der Logos
    die Überheblichkeit
    im Hochsitz
    das Klein-Ich
    das der reinen
    autonomen Vernunft
    die Einkehr
    währe den
    Quell allen Lebens
    durch die Schulung
    der Seele
    über sich
    und die Welt
    im Drama der Seele
    wo keiner
    der Autor ist
    eine Nebenrolle
    zu spielen hat
    über den Traum
    jeden Tag
    zu neuer Einsicht
    zu kommen

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