Die Luft ist der Leib der Seele

Ich war am Dienstag als Gast im Seminar ‚Die Antwort der Seele‘ von Wolf-Ulrich Klünker und Ramona Rehn an der Alanus-Hochschule in Bonn. Der Titel des Seminars ist ja auch der Titel eines Buches von W. U. Klünker , das 2007 erschienen ist: ‚Die Antwort der Seele, Psychologie an de Grenzen der Ich-Erfahrung‘. Für mich spannte sich an diesem Nachmittag ein Bogen von heute bis in das Jahr 2004 zurück, in dem in der Wochenschrift Das Goetheanum drei Aufsätze erschienen sind: „1. Seele und Geist, 2. Seele und Krankheit und 3. Seele und Angst“. Für jemanden, der wie ich in der Psychiatrie arbeitete, waren diese Aufsätze damals geradezu eine Art Erlösung. Denn in ihnen wird ein Verhältnis zum eigenen Seelischen aufgezeigt, das von jedem Menschen ganz persönlich denkbar und innerlich nachvollziehbar ist. Im Gegensatz zu einem Verhältnis, wie es die gegenwärtige psychiatrische Wissenschaft heute sieht: Mein seelisches Erleben sei im Wesentlichen ein Phänomen, das seine Ursachen in meinem Hirnstoffwechsel hat. Abgesehen davon, dass diese Vorstellung inzwischen auch wissenschaftlich nicht mehr wirklich trägt, ist sie auch für den einzelnen Menschen nicht mit sich in einen erlebbaren Zusammenhang zu bringen. Damit ist aber die Verbindung zwischen Seele und Leib ungeklärt.

Ich habe dann den Studierenden im Seminar erzählt, das mich damals das kleine Kapitel ‚Die Luft als Leib der Seele‘ aus dem Buch sehr berührt hat. Weil damit, mit der Luft und der Atmung, eine Verbindung der Seele mit dem Leib für mich denkbar und erlebbar war. Wir haben damals diese Aufsätze kopiert und im unserem Umkreis als Arbeitsmaterial verteilt und benutzt. Und sie waren eine erste Grundlage unserer gemeinsamen Forschungsarbeit mit Wolf-Ulrich Klünker und den Menschen aus dem DELOS-Zusammenhang. Ich habe dann auch, weil ich die Aufsätze so gut und wichtig fand, Wolf-Ulrich Klünker angeregt, daraus ein Buch zu machen. Und aus den drei Aufsätzen und einigen anderen, die auch dieses Thema hatten, ist dann das Buch geworden. Dieser ganze Zusammenhang war wie ein biografischer Hintergrund, eigentlich viel mehr noch eine Art Substanz aus Biografie und geistigem Inhalt verbunden, die mir im Seminar klar wurde und mich mit Dankbarkeit erfüllte. Der zentrale Satz: Die Luft ist der Leib der Seele diente mir im Seminar wie eine Art Mantra für eine elementare Psychologie, die wieder ein Seelisches erschafft, das mit der Außenwelt verbunden ist. „Die Seele lebt im Element der Luft, die Luft ist derjenige Äther, der ihr von außen entgegentritt, und im Luftelement geschieht der Austausch zwischen der >>subjektiven<< Innenwelt und der <<objektiven>> Außenwirklichkeit.“

In der heutigen Psychologie dagegen ist der Begriff der Seele nahezu vollständig durch den Begriff des Bewusstseins ersetzt und dieses ist mit dem Gehirn und dem Nervensystem verbunden. Ich konnte den Studierenden aus der Arbeit in der Psychiatrie berichten, wo dem depressiven Menschen dann erklärt wird, welche Substanz in seinem Gehirn nicht ausreichend vorhanden ist und welche Medikamente er jetzt braucht. Die Seele und ihr Leben und Erleben spielt da keine wesentliche Rolle mehr. Selbst in der Psychotherapie ist das heute bevorzugte Verfahren die Verhaltenstherapie. Erst wenn es ans Sterben geht taucht plötzlich die Seele, und die Frage was mit der Seele geschieht wenn der Mensch stirbt (wieder) auf. In der Hospizarbeit, bei den Sterbebegleitern (ich arbeite dort als Supervisor) geht es wieder und immer um die Frage, was es der Seele schwer macht oder auch leicht macht, sich aus dem Körper zu lösen. Insofern braucht es gerade im 21. Jahrhundert eine Psychologie des Ich, die das seelische Erleben und die Seele als zentrales Element kennen und wieder in den Mittelpunkt stellen.

Das Seminar am Dienstag war für mich deshalb eine kleine Sternstunde, weil sich ein Kreis von nahezu 20 Jahren Arbeit an diesem Thema schließen konnte.

Eine schöne geistesgeschichtliche Quelle für diesen Zusammenhang findet sich bei Nikolaus von Kues in seinem Kompendium.( Nikolaus von Kues, Philosophisch-Theologische Werke, Bd. 4, Meiner 2002, S. 51 ff.) Diese habe ich dann in einem Aufsatz über die Entwicklung der Wahrnehmung etwas genauer angeschaut.

Ein aktuelle Realisierung dieser Fragen für das direkte Empfinden kann in der Ausstellung von Ramona Rehns Arbeiten in der Bibliothek der Alanus-Hochschule angeschaut werden. (siehe meinen Beitrag)

Das Sehen des Menschen (Roland Wiese 2007, unveröffentlicht)

(Es gibt von diesem Aufsatz verschiedene Entwürfe – dieser hier ist eine Art Zusammenfassung)

Dieser Name’ Mensch’ bedeutet, dass die anderen Tiere von dem, was sie sehen, nichts betrachten, noch vergleichen oder eigentlich anschauen, der Mensch aber sobald er gesehen hat, auch zusammenstellt und anschaut. Daher wird  unter allen Tieren der Mensch allein Mensch genannt, weil er zusammenschaut, was er gesehen hat.“[1]

Die Entwicklung der Wahrnehmung ist in der Menschheitsentwicklung ein Geschehen, das nicht leicht zu beobachten ist. Noch schwieriger scheint es die Entwicklung der eigenen Wahrnehmung zu verwirklichen und in den Blick zu bekommen. Dabei scheint dieses Entwicklungsfeld eines zu sein, das gegenwärtig entscheidend mit der Entwicklung des Menschen und  der  Erde zu tun hat. Wolf-Ulrich Klünker hat dieses Feld in seinem Buch „Die Erwartung der Engel“ ausdrücklich in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen über ein aktuelles Verhältnis des Menschen zu geistigen Wesenheiten gestellt.“Während das christliche Mittelalter stark die Empfindung hatte, dass in der Begegnung mit dem Begriff, wie sie sich im Denken vollzieht, eine Berührung des Engels stattfindet, muss der Blick  in der Gegenwart eher (wie bereits erwähnt) auf die Wahrnehmung gelenkt werden.“[2] Man kann leicht bemerken, dass mit einer solchen Aufgabenstellung eine Art doppelter Blick notwendig zu sein scheint: Ich nehme etwas wahr und ich richte den Blick auf diese Wahrnehmung. Gleichzeitig ist eine Wissenschaft der Wahrnehmung keine, die nur diese Wahrnehmung untersuchen kann, ohne dass diese Untersuchung nicht wiederum eine Wirkung auf diese Wahrnehmung hat.[3] Der  Blickwinkel der folgenden Betrachtungen ist demgemäß kein anthropologischer, die Entwicklung der Wahrnehmung am Beispiel des Sehens soll eine gewisse Orientierung geben über die Zielrichtung dieser Entwicklung, insbesondere inwieweit durch diese  Entwicklung auch eine neue Wirklichkeit entsteht.

Wie hängen sinnliche Wahrnehmung und übersinnliche Wahrnehmung zusammen? Wo sind die Grenzen? Wo sind Übergänge? Im 9. Jahrhundert wagt Johannes Scotur Eriugena eine interessante Prophezeiung. Er sagt von dieser Prophezeiung, dass sie in diesem Leben, also im 9. Jahrhundert wohl verstanden werden kann, aber nicht erfahren. Die Erfahrung sei erst in einem künftigen Leben möglich. Diese Vorhersage beschreibt die Entwicklung der Wahrnehmung sehr genau, und auch die Voraussetzungen dieser Entwicklung:“Durch unsere Leiber werden wir in jedem Körper, den wir erblicken werden, wohin wir auch unsere leiblichen Augen wenden mögen, den Herrn selbst mit durchsichtiger Klarheit anschauen.“[4] In dieser Aussage wird eine Verbindung hergestellt zwischen dem Sehen und dem Schauen des Christus. Diese Art des Wahrnehmens wird als Gottes-Erscheinung (Theophanie) bezeichnet. Eine solche Erscheinung Gottes „wird nur allein von Gotte gewirkt und entsteht aus dem Herabsteigen des göttlichen Wortes, d.h. des eingeborenen Sohnes, der die Weisheit des Vaters ist, zu der von ihm geschaffenen und gereinigten  Natur, aus der durch die Liebe gewirkten Erhöhung der menschliche Natur zu gedachtem Worte.“[5] Die von Gott in uns bewirkten Erscheinungen entsprechen dem, wie die Engel und die Seelen der Verstorbenen Gott sehen. Dass Gott nur in uns erscheint, ist die Grundlage dafür, dass er auf  „vielfache Weise denen, welchen es beschieden ist, bei sich einzukehren“[6] erscheinen kann. Die Erscheinungen Gottes in uns, werden dadurch individuell und uns angemessen sein . Dieser Gedanke Eriugenas, der ihm zwar nur als wahrscheinlich erscheint, den er aber eben doch denken kann, deutet einen Begriff von Individualität ein, der in dem Zusammenhang von persönlichem Denken des einzelnen Menschen und göttlicher Weisheit  gründet. Dies zeigt sich auch in der weiteren Präzisierung und Konkretisierung dieses zu bildenden Zusammenhanges: „Die Weisheit des Vaters, in welcher und durch welche  Alles gemacht ist und welche nicht geschaffen, sondern schaffend ist, entsteht in unseren Seelen durch ein unaussprechliches Herabsteigen ihrer Barmherzigkeit und gestaltet sich auf unaussprechliche Weise in unserem Denken  zu einer Weisheit, die gleichsam zusammengewachsen ist aus dem zu uns Herabsteigenden und in uns Wohnenden einerseits und aus unserem eignen Denken andererseits, welches von jenem in Liebe aufgenommen und umgewandelt worden ist.“ [7](Für diese Formulierung benutzt J.S.Eriugena ein Zitat von Augustinus).Man kann in der Art der Beschreibung etwas von der Art der Erscheinung erleben. Die beschriebene  Situation ist deutlich erst einmal ein innerer Vorgang, der sich in zwei Richtungen gleichzeitig ereignet: in einem Herabsteigen des Christus, und einem Aufsteigen unseres Denkens. Das individuelle Maß dieses Geschehens hängt von unserer individuellen Bemühung ab. Um die Erscheinungen noch klarer und konkreter zu fassen, vor allem auch die Art des Zusammengehens  von menschlicher Natur und göttlicher Natur, benutzt Johannes Scotus ein Beispiel aus dem äußeren Naturzusammenhang: das Erscheinen des Lichtes in der Luft (dieser Zusammenhang von Licht und Luft wird uns bei Cusanus später wieder begegnen). Das Sonnenlicht  selber ist unsichtbar – es wird erst sichtbar durch die Luft, die dadurch  „selber für Licht gilt“, weil das Licht überwiegt. Mit Hilfe dieses Beispiels solle man sich deutlich machen, wie  Gott  selbst auf keine Weise erscheint und doch mit dem menschlichen Denken verbunden, zur Erscheinung kommen kann. Denken wird in diesem Beispiel mit der Luft gleichgesetzt und Gott mit dem Licht. Es handelt sich hierbei um ein Beispiel, dass tatsächlich eine Art Hinweis auf die  lichtartige Qualität der Gottes-Erscheinung geben kann. Auch das Überwiegen des Lichtes ist ein wichtiger Hinweis. Der Bezug zur Luft gibt dagegen den Bezug zur empfindenden Seele. Johannes Scotus kehrt nun zur Frage des Sehens mit den leiblichen Augen zurück. „Er (Maximus)  sagt nicht: durch unsere eigenen Leiber werden wir Gott selber sehen, weil er an und für sich nicht sichtbar ist, sondern er sagt: durch unsere eigenen Leiber werden wir, was in jedem Körper ist , als Gott selbst sehen. Durch die Körper also, und nicht durch sich selbst, wird Gott in den Körpern gesehen.“[8]. Johannes Scotus beendet diesen Einschub in seiner Abhandlung mit der Bemerkung, dass in ihm ein Verlangen nach weiterer Untersuchung verbleibt, aber mit den derzeitigen Mitteln anscheinend noch nicht möglich ist.

Alanus  bezieht sich im 13. Jahrhundert auch auf die Gottes-Erscheinungen (Theophanien). Auch er bezeichnet sie als Annäherung der menschlichen  Erkenntnisweise an die des der Engel, und auch er bezeichnet als das Erkenntnisgebiet einer solchen engelartigen Erkenntnis die Naturerkenntnis. Die „Theophanie“ beginnt mit der sinnlichen Wahrnehmung der natürlichen Welt und „gelangt von da aus zu einer begrifflich-geistigen Erkenntnis. Ja, sie ist sogar der Zukunftsweg der Menschen zur Gotteserkenntnis. Dieser Weg ist aber gefährdet“, wenn die Sinneswahrnehmung nicht zur Welterkenntnis, sondern zur Grundlage des menschlichen Selbstgefühls verwendet wird. Hier kommt eine seelische Fragestellung hinzu, in der wir heute mitten drinnen stehen. Die Frage nach dem Verhältnis von Naturerkenntnis und Selbstgefühl des wahrnehmenden Menschen.[9]

Die für unsere Betrachtung entscheidenden Stellen (im historischen Verlauf), finden sich bei Nicolaus Cusanus. In seinem Spätwerk, dem sogenannten Kompendium, findet sich im 13. Kapitel  eine Untersuchung über die wahrnehmende Seele (anima sensitiva), die einen wesentlichen Schritt in das Sehen hinein vollzieht. Dabei  wird insbesondere auch der Zusammenhang zwischen  Sehen und Leben genauestens betrachtet.“Also muss die sinnenhafte Seele, die ihr verbundene Luft beleben, damit sie in der belebten Luft  die Erkenntnisbilder der Gegenstände wahrnehmen kann.“[10] Hier verbinden sich Geist, Luft, Leben und Wahrnehmung im Seelischen. Die Belebung der mit der Seele verbundenen Luft ermöglicht die Wahrnehmung in der belebten Luft. „Die Luft ist also der Körper des Lebens unseres sinnenhaften Geistes, durch dessen Vermittlung dieser den ganzen Körper belebt und die Gegenstände wahrnimmt.“[11] Wahrnehmen und Beleben rücken in dieser Beschreibung nahe aneinander. Die Luft verhält sich dabei als ein Körper der Seele. Wobei Cusanus unter Luft noch etwas anderes versteht, als wir heute. Luft selbst ist von keinem Sinn zu erfassen. Sie muss erst geformt werden, durch das Licht, den Geruch oder anderes. Erst dann wird die Luft selbst auch erkennbar. Die mit der Seele verbundene Luft ist ein Körper des Lebens, durch den der ganze Körper belebt wird und die Welt wahrgenommen wird. Zur Wahrnehmung gehört aber auch das Erkenntnisbild des Gegenstandes, das erst die Wahrnehmung auslöst. Auch dieses Erkenntnisbild ist ein geistiges, es wirkt auf den organischen Körper formend ein. Die Seele belebt die Luft; das Erkenntnisbild formt sie. Insofern ist die Seele als leer und rein zu bezeichnen, „sie erkennt nur, wenn sie aufmerkt. Also besitzt sie eine immer belebende und erkennende Kraft, der sie sich bedient, wenn sie bewegt wird, damit sie aufmerke.“[12] Die Seele also wacht erst auf, wenn sie durch einen äußeren Eindruck bewegt wird. Das immerwährende Beleben und Erkennen, muss durch etwas äußeres geweckt werden. Es bleibt sonst ohne Inhalt, und damit leer. In der Wahrnehmung wird die Seele wirklich erkennend. Vorher ist sie es nur möglicherweise. Aber, und das ist im Mittealter noch nicht Thema, auch der Gegenstand  wird erst in diesem Augenblick wirklich erkannt, vorher befindet er sich in der Möglichkeit des Erkanntwerdens. Erkennen und Erkanntwerden werden in der  menschlichen Wahrnehmung wirklich. Belebender Geist und formender Geist vereinen sich in der Wahrnehmung des Erkenntnisbildes.  Dabei hängt der belebende Geist von der formenden Kraft des Gegenstandes ab, in welcher Weise er Wirklichkeit wird; die formende Kraft, die sich im Gegenstand befindet, ist wiederum abhängig von dem Erkenntnisvermögen der wahrnehmenden Seele, in wieweit sie erkannt wird. Die Wahrnehmung selbst zeigt sich so als eine individuelle augenblickliche Situation, die quasi nicht wiederholbar ist, und die eine bestimmte Substanz durch die Vereinigung von wahrnehmender Seele und formendem Geist schafft. Werde ich mir dieses Zusammenhanges bewusst, in dem ich da selbst mit-schaffend  stehe, „berühre ich den Entstehungspunkt des Verhältnisses von Materie und Form im Sinnesprozess – und an dieser Stelle ist als Kraftprinzip Engelwirksamkeit anwesend.“[13] Es ist deutlich, dass diese Möglichkeit der Berührung für beide Seiten Konsequenzen hat. Mensch und Natur, berühren sich, und diese Berührung hat Folgen für den Menschen, wie für die Natur. Psychologisch formuliert, bedeutet diese Charakterisierung der Wahrnehmungssituation, dass ich nur noch wirklich werde, in der Wahrnehmung, und nur so weit wirklich, wie ich wahrnehme. Nehme ich aufgrund bestimmter innerer Begriffe die Natur als ein rein materielles Geschehen war, kann diese Vereinigung nicht bewußt geschehen und ich nehme das Geistige der Natur unbewußt in mich auf, während ich bewußt die Natur als materielles Geschehen „draußen“lasse. Man kann vielleicht sagen, dass sich in einem solchen Fall die Seele auftrennt in einen empfindenden Teil und einen denkenden Teil. Schaffe ich es aber in mir die Berührung zwischen Erleben und Leben herzustellen, habe ich auch das Gefühl mit der Naturumgebung in einer bewußten Verbindung zu sein. Wobei die Richtung dieser Verbindung durch die grundlegende Tatsache gegeben ist, wie sie Cusanus beschreibt: Der Geist belebt die mit ihm verbundene elementare Natur, und wird dadurch in der elementaren Natur wahrnehmungsfähig für die Form.

Cusanus geht aber noch einen Schritt weiter, und dieser Schritt ist wichtig für die Entwicklungsmöglichkeit der sinnenhaften Seele. Er findet „in der sinnenhaften Seele, über die lebensspendende Kraft hinaus ein gewisses erkennendes Vermögen, gleichsam als Abbild der Vernunftkraft, das in uns mit der Vernunftkraft selbst verbunden ist.“[14] Leben und Erkennen sind in der sinnenhaften Seele  miteinander verbunden. Das Erkennen ist wie oben ja schon beschrieben aber nur ein „Vermögen“, es kann sich anscheinend nicht selbst verwirklichen, sondern ist auf Anregung von außen angewiesen. Es ist aber auch mit der Vernunftkraft verbunden.  Das erkennendende Vermögen ist demnach nicht nur Abbild der Vernunftkraft, die Vernunftkraft wirkt über die Verbindung in die sinnenhafte Seele hinein; und umgekehrt kann die sinnenhafte Seele in das Geistige des Menschen hinein wirken. Rudolf Steiner hat den Zusammenhang von sinnlichem Wahrnehmen und übersinnlichem Erkennen in einem Aufsatz von 1918  beschrieben. „Ein Denken, das dem Organismus nicht unterworfen ist, lebt für das gewöhnliche Bewusstsein nur, während der Mensch im sinnlichen Wahrnehmen begriffen ist. Dieses sinnliche Wahrnehmen selbst ist vom Organismus abhängig. Das in ihm enthaltene und in ihm mitwirkende Denken ist aber ein rein übersinnliches Element, an dem der Organismus keinen Anteil hat. In diesem Denken hebt sich der Mensch  aus dem Organismus heraus. Wer dieses Denken im Wahrnehmen sich zum abgesonderten Bewusstsein zu bringen vermag, der weiß durch unmittelbares Erleben, dass er als Seele sich unabhängig von seinem  Leib ergreift. Dieses erste Sich-Erleben des Menschen als übersinnliches Seelenwesen ergibt sich der entwickelten Selbsterkenntnis. Es ist in jedem Wahrnehmungsakte unbewußt vorhanden. Es handelt sich nur darum, die Selbstbeobachtung so weit zu schärfen, dass bemerkt wird: Im Wahrnehmen offenbart sich ein Übersinnliches.“[15]

Die Entwicklung dieses übersinnlichen Erkenntnisvermögens, das Cusanus als rein und durchsichtig beschreibt, kann dadurch geschehen, dass es bewusst mit dem gewöhnlichen Denken verbunden wird.

Aber auch die Wahrnehmung ist durch diese Verbindung entwicklungsfähig. Denn eine Verstärkung des Licht-Anteils im Sehen, macht dieses zum Hell-Sehen. Die belebte Luft würde wie Licht erscheinen. Dieses Licht der Vernunftkraft, würde die Zusammenhänge zwischen den Dingen erleuchten. Die Vernunft  wirkt  „alles entweder durch sich selbst oder durch die Natur. Deshalb ist das Werk der Natur ein Werk der Vernunftkraft.“[16] Die Vernunftkraft wirkt also durch sich selbst, das gibt  ihr die Möglichkeit in unserem Denken zu erscheinen; oder durch die Natur, das gibt dem Menschen die Möglichkeit sie durch die Natur wahrzunehmen. Die empfindende  und belebende Seele muss nun und kann nun das Werk der Natur, dass sie als Gegenstand wahrnimmt mit Hilfe des erkennenden Vermögens so aufbereiten, dass die Vernunftkraft es erkennen kann. Denn die reine Vernunft  kann das Sinnenfällige nicht erkennen. Der Wahrnehmungsvorgang und die damit verbundene Empfindung ist demnach kein Abbildungsvorgang, er ist eine Art „Verdauungsprozess“ der Empfindung, eine Auflösung dieser Natur und Neubildung in mir. Die Entwicklungsdimension dieser Begegnung und Umbildung liegt aber in der Tatsache begründet, dass das Werk der Natur  nur noch das Werk der Vernunft ist; während in uns die Vernunft  wirkt.[17] Im Menschen sind das Werk der Natur und die  wirkende geistige Vernunft miteinander verbunden.   In der Wahrnehmung der Sinnenseele berühren sie sich direkt.

Ein weiterer Schritt wird im 20. Jahrhundert möglich und nötig, nachdem durch die Naturwissenschaft die Verbindung zwischen subjektivem Erleben und objektiver äußerer Natur aufs Äußerste auseinandergezogen worden ist, bis zu dem Punkt, dass eine solche Verbindung nicht mehr wahrnehmbar ist. Dies erfordert jetzt vom Menschen diese Verbindung dadurch wiederaufzufinden, indem er sie selbst herstellt. Die Existenzmöglichkeit der Verbindung zwischen Innen und Außen, zwischen Natur und Geist im Menschen ist jetzt abhängig von dem was ich über diese Verbindung denke. Die Natur-Begriffe, die eine solche Verbindung leugnen, machen mich blind für ein Sehen des Geistigen in der Natur. Rudolf Steiner formuliert diese Lebens- und Erkenntnissituation 1924 in dem Leitsatzbrief „Das Michael-Christus-Erlebnis des Menschen“. Der Mensch erlebt die gegenwärtige Welt als Werk des Geistes, deren Gestaltung zwar als göttlich empfunden, aber nicht mehr als göttlich-belebt erfahren werden kann. Rudolf Steiner  warnt sogar vor allen Versuchen eine solche Belebung in die Welt hineinzuimaginieren. Das wäre illusionäre Phantastik. Stattdessen „wird man in der folgenden Art geistig leben. Man wird Erkennen und Leben so hinnehmen, wie sie nun einmal seit dem fünfzehnten Jahrhundert hingenommen werden müssen. – Aber man wird sich an die Michael-Offenbarung halten; man wird diese Offenbarung als ein Licht in die Gedanken leuchten lassen, die man aus der Natur empfängt; man wird sie als Wärme im Herzen tragen, wenn man der göttlichen Werk-Welt  gemäß leben muss.“[18] Einerseits die Hinnahme des Erkennens und Lebens wie sie zur Zeit sind; andererseits die Durchdringung des eigenen Denkens mit der Michael-Offenbarung, und dadurch eine Durchleuchtung der Gedanken die man in dem Erkennen und Leben aus dieser Werk-Welt bekommt. Diese durchleuchteten Gedanken wiederum kann man im Herzen als Wärme tragen. Eine gewisse Nüchternheit, Resignation  gilt es einerseits auszuhalten; eine Tätigkeit andererseits muss vollzogenwerden – das sich an die Michael-Offenbarung halten,  diese Offenbarung  als ein Lichtin die Gedanken leuchten lassen, diese durchleuchteten Gedanken als Wärme im Herzen tragen, wenn man lebt,wie man gegenwärtig leben muss. Sich an etwas halten, dieses leuchten lassen, etwas im Herzen tragen, während man lebt. Eine gewisse Objektivierung  im Verhältnis zu mir selber klingt da an. ‚Man’ muss aber anscheinend sehr genau die Verhältnisse beachten, die da beschrieben werden: Erst das Hinnehmen, dann sich an die Michael-Offenbarung halten, diese als ‚Licht’ in das von außen kommende Erkennen leuchten zu lassen, die durchleuchteten Gedanken als Wärme im Herzen tragen, während man lebt. Ich darf mich also nicht mit dem Erkennen und Erleben völlig identifizieren, ich muss es hinnehmen, das ähnelt dem Erleiden der Sinnenseele; Aktivität erfordert das Halten an die Michael-Offenbarung, weil dieses Halten erfordert einen Standpunkt, der in dem normalen Erkennen und Erleben der Welt nicht mehr gefunden werden kann; in diese Gedanken diese Offenbarung als Licht leuchten lassen, ist wiederum ein passiv-aktiver Vorgang; diese durchleuchteten Gedanken als Wärme im Herzen zu tragen, während man lebt, wie man leben muss; – das deutet auf einen geistigen Lebensprozess hin, eine dauernde Tätigkeit. Das Licht-Wärme Geschehen, das ich da bilde, befindet sich im Austausch mit der Umwelt, aber in einer sehr differenzierten Weise. Ich antworte nicht direkt mit der Michael-Offenbarung auf die Gedanken meiner Umgebung, ich durchleuchte sie erst in mir, lasse sie zur Wärme werden, die ich in mir trage während ich lebe. Es zeigt sich eine gewisse Organbildung, ein Aufbau eines Licht-Wärme Organs, eine Verbindung von Sehen und Leben in einer noch keimhaften Form. Dieses Organ ist nicht reines Erkenntnisorgan, auch nicht reines Lebensorgan. Das Erkennen ist nicht zu Ende, wenn in mir Gedanken über die Außenwelt entstehen, es geht weiter, diese Gedanken warten auf einen Lichtprozess, der sie zur Wärme werden läßt, die dann zur inneren Lebensquelle werden kann inmitten des Gegenwartslebens.

Gegenüber der Werk-Welt der Gegenwart reicht es anscheinend nicht mehr aus Erkenntnisbilder der Gegenstände wahrzunehmen. Die Verbindung zu dem Licht, das diese Gedanken durchleuchten kann, muss von mir bewusst aufgesucht und gehalten werden. Andererseits haben diese Gedanken anscheinend etwas an sich, das sie bei der Durchleuchtung zur Wärme werden läßt. Dieser Licht-Wärme-Prozess, von Rudolf Steiner auch als Lichtseelenprozess bezeichnet hat sich als Möglichkeit, wie als Notwendigkeit für das Leben des Menschen durch das 20. Jahrhundert hindurch weiterentwickelt. Im 21. Jahrhundert klingt das bei Wolf-Ulrich Klünker in seinem Buch „Die Erwartung der Engel so: Diese „Weiterentwicklung hängt davon ab, dass sich das freie , in seiner Zukunftsentwicklung  nun nicht mehr naturabhängige, aber naturgestützte Ich-Bewusstsein in neuer Weise der Natur zuwendet.“[19] Voraussetzung dafür ist aber ein Ich-Bewusstsein, das  sich nicht mit dieser Natur identifiziert, sondern sich aus ihr herausgelöst hat, sich durch die eigene geistige Tätigkeit immer wieder neu erschafft, sich dann aber wieder der Natur zuwendet. Diese Reihenfolge zeigt sich deutlich als Fortsetzung der von Rudolf Steiner  1924 beschriebenen Haltung gegenüber dem Erleben seiner Zeit. Wolf-Ulrich Klünker beschreibt die Fortsetzung dieses Prozesses im Leben der Gegenwart  differenziert , und damit  gibt damit dem gegenwärtigen Bewusstein eine klare Blicklenkung .  Es werden drei Blickrichtungen in die Wahrnehmungssituation aufgezeigt. Die erste Aufmerksamkeit  richtet sich auf die Ausbalancierung von Subjekt- und Objektseite in der eigenen Wahrnehmung. Ich muss erleben können, wie sich äußere Wärme, Kälte, Witterung etc. und inneres Erleben berühren. Diese Berührung stelle ich selbst als einen ersten Zusammenhang her. Normalerweise fallen diese beiden Seiten in der Wahrnehmung auseinander, oder vermischen sich heillos. Mal bin ich in der subjektiven Erlebensseite, mal in der objektiven Vergegenständlichung. Ich kann das eine als eine mich aufnehmende  zukünftige Willens-Kraft  erleben, das andere mehr als vergangenheitsorientiertes Denken. Die Berührung entsteht erst inder unmittelbaren „Präsenz, Wachheit, Aufmerksamkeit, Interessehaltung im Lebensaugenblick (…).[20] Die Weiterführung des Bewusstseins der Zusammenhangsbildung  bis in das Erleben einer Landschaft, einer bestimmten Wetterstimmung vertieft diese Berührung mit dem Engel. „In dem Augenblick, in dem ich mir dieses Zusammenhanges bewusst werde, in welchem ich bildend stehe, berühre ich den Entstehungspunkt des Verhältnisses von Materie und Form im Sinnesprozess – und genau an dieser Stelle ist als Kraftprinzip die Engelwirksamkeit anwesend.  Der Engel ist nicht mehr als bestimmte äußere Gestalt zu denken, sondern in der Kraftberührung innerlich zu erleben. „Die Erde, das Wasser, die Luft mit dem Licht und die Wärme sind selbstverständlich gegeben; wie sie sich aber zu einer Form im Einzelnen und im Gesamten etwa der Gewitterstimmung verbinden, hängt von meiner Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit , meiner Erlebnisintensität  im Augenblick ab. In diesem Moment ist der Engel zugegen; er ist niemals längerfristig erfahrbar, er existiert im Augenblick. Seine Seinsweise ist genau auf der Grenze zwischen meinem eigenen Erleben und äußerer Wirklichkeit. Er ist die äußere Wirklichkeit, aber nicht als starres Bild, nicht als gegebenes Geschehen, sondern als Kraft. Und diese Kraft ist in meinem Erleben anwesend: als Intensität meiner eigenen Erlebnistiefe, als diejenige ‚äußere’ Kraft, die sich im inneren Erleben als das äußere Witterungsgeschehen darstellt.“[21] Auch meine  biographische Vergangenheit fließt in diesen Augenblick vollständig mit ein, und umgekehrt offenbart sich die Landschaft, die Stimmung als ein Erlebnis, dass nicht irgend ein äußerer Prozess ist, den ich anschaue, sondern  als ein Erlebnis , das mit mir schicksalshaft verbunden ist. Wobei die Schicksalsdimension eines solchen Erlebnis sich erst viel später zeigen kann, insofern eine Fortwirkung des Augenblicks im Erleben und Leben ist. Ich muss und kann mit dem Ich einen weiten Zeitraum zwischen Erlebnis und auftauchender leiser seelischer Stimmung überbrücken und den Zusammenhang in mir bemerken. Diese drei Zusammenhangsbildungen, zwischen subjektivem Innen und objektivem Außen, zwischen Einzelheiten und Gesamteindruck der Landschaft der Stimmung, und dem überzeitlichen-inhaltlichen Zusammenhang, sind immer mehr notwendig und möglich um als Mensch noch  Natur erleben zu können und dadurch auch erst wieder  eine menschliche Natur herzustellen.

Was bei Johannes Scotus Eriugene noch Verstehen bleiben musste, kann heute zur  menschlichen Erfahrung werden. Leben und Sehen, Sehen und Leben rücken immer näher aneinander, ja sie durchdringen sich: Sehen wird Leben, und Leben wird Sehen. Und in diesem Übergang bewirken sie Entwicklungen sowohl für die äußere, wie für die innere Wirklichkeit des Menschen. Aber auch das Sich-Erleben  des Menschen als übersinnliches Seelenwesen ist mit diesem Prozess verbunden. In einem Beispiel schildert Cusanus des Prozess des Sehens: „Du siehst, dass der Sonnenstrahl das gefärbte Glas durchdringt und dass in der Luft das Erkenntnisbild der Farbe erscheint.“ Farbe als Stoff bleibt im Glas, die Farbe als Glänzen ist in der Lage die Luft zu färben. Wichtig ist dabei auch die Durchsichtigkeit des Glases, wie die Durchsichtigkeit der Seele. Das Licht kann durch beide hindurch. Beim Glas nimmt es im Durchdringen den Glanz der Farbe mit; gemeinsam durchdringen und färben sie die Luft; bei der Seele färbt es das Durchsichtige Luftige und Belebte des Gesichtssinnes. Cusanus sieht denn auch dieses Sehen des farbigen Glases und der gefärbten Luft als ein Gleichnis des Menschen. „Körper ist er, wie es die Luft ist; Seele wie das Erkenntnisbild der Farbe, die ganz und gar die Luft durchdringt, formt und färbt; Geist aber, wie der Strahl des Lichtes, das die Farbe erleuchtet.“ Das wäre tatsächlich ein anderes Sich-Erleben des Menschen, wenn er sich als ein Wesen erleben würde, das einen luftartigen Körper hat, eine Seele, die diesen Körper wie Farbe durchdringt und färbt, und einen Geist, der diese farbige Seele erleuchtet.


[1] Platon, Kratylos (übersetzung von Schleiermacher), zit.nach Beiträge zur Rudof Steiner Gesamtausgabe Nr. 121, Dornach 1999, S64,65

[2] Wolf-Ulrich Klünker, Die Erwartung der Engel, Stuttgart 2003, S.41

[3] siehe hierzu auch Roland Wiese, Von der Grenze des Durchsichtigen in Anthroposophie II/2005, S.110 f.

[4] J.S.Eriugena, Über die Einteilung der Natur, Meiner 1994, S.10

[5] ebd. S. 13

[6] ebd. S. 12

[7] ebd. S. 14

[8] ebd. S.15

[9] diese Frage soll in einer eigenen Untersuchung besprochen werden.

[10] Nikolaus Cusanus, Kompendium 13. Kapitel S. 51,  in Meiner 2002, S.

[11] ebd.

[12] Ebd.

[13] Wolf-Ulrich Klünker, Die Erwartung der Engel, Stuttgart 2002, S.43

[14] Anm.11, S.53

[15] Rudolf Steiner, Frühere Geheimhaltung und jetzige Veröffentlichung übersinnlicher Erkentnnisse, GA 35, S. 397 ff.

[16] ebd. S.47

[17] Ein entsprechender Entwicklungsbegriff findet sich bei Rudolf Steiner in seinem Buch Geheimwissenschaft: „Darauf beruht ja alle Entwickelung, dass erst aus dem Leben der Umgebung selbständige Wesenheit sich absondert; dann in dem abgesonderten Wesen sich die Umgebung  wie durch Spiegelung einprägt und dann dieses abgesonderte Wesen sich selbständig weiterentwickelt.“

[18] Rudolf Steiner, Leitsätze GA 26, S. 102

[19] s. Anm. 12,  S.50

[20] ebd. S. 42

[21] ebd. S. 43

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