
In meinem Beitrag mission accomplished, den ich geschrieben habe im Zusammenhang mit meinem Rückzug aus meiner beruflichen Tätigkeit bei der Gesellschaft für soziale Hilfen, skizziere ich ja eine ganz bestimmte erste Epoche der Entwicklung hin zu einer gemeindenahen und sozialen Psychiatrie. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie eigentlich der nächste Schritt dieser Entwicklung aussieht. In diesem Beitrag soll dieser Frage nachgegangen werden.
Angestoßen und konkretisiert wurde die Beschäftigung mit dieser Frage durch ein Erlebnis, das ich vor kurzem bei einer Klausur mit Kollegen hatte. Es waren zu dieser Klausur drei Menschen eingeladen, die als Gäste berichten sollten über die Ausbildung und Tätigkeit als Genesungsbegleiter*innen und über ‚Recovery‘ in der psychiatrischen Versorgung. Als Fachliche Leitung einer sozialpsychiatrischen Einrichtung habe ich mich natürlich schon auf vielen Tagungen und in Fortbildungen und auch in meinem Alltag mit diesen Themen beschäftigt. Aber erst bei dieser Klausur habe ich eine innere Berührung mit dem erlebt, was als geistige Bewegung und auch als geistige Kraft in den ganzen äußeren Modellen und Konzepten und Projekten wirkt. Es waren einige Schlüsselbegriffe, die dort genannt wurden, die bei mir in ganz bestimmter Weise aufschlagen konnten. Und die mich wie zurückführten an den Ausgangspunkt meiner Erfahrung und Arbeit mit Menschen, die psychiatrische Erfahrungen gemacht hatten.
Als wir 1987 unsere Familie um eine Mitbewohnerin erweiterten, die vorher in einer psychiatrischen Reha-Einrichtung gelebt hatte, hatte dies den Grund, dass die junge Frau schwanger war und alle Beteiligten der Meinung waren, dass es besser wäre in einer familiären Lebensumgebung ihr Kind zu bekommen und mit ihm zu leben. Wir hatten sehr schnell den Eindruck, dass wir zwei Dinge tun mussten, um der neuen Konstellation gerecht zu werden. Erstens einen Umkreis von Menschen zu finden, der uns allen helfen konnte und für uns und unsere neue Mitbewohnerin eine soziale Stütze sein konnte, sowohl im Alltag, aber auch in möglichen Krisensituationen. Zweitens uns gemeinsam mit der Frage zu beschäftigen, was eigentlich die allgemeine Situation des Menschen in der heutigen Zeit ist und in welchem Verhältnis die besondere Situation psychischer Erkrankung dazu steht. Wir haben zu diesem Zweck einen kleinen Arbeitskreis gegründet, der sich regelmäßig in unserer Wohnküche traf und versucht hat diesen Fragen nachzugehen. Wir haben insbesondere gemeinsam ein Buch eines holländischen anthroposophischen Psychiaters studiert, das den Titel trug: ‚Der Mensch an der Schwelle‘ (auf Holländisch klingt es noch direkter: ‚mens op de drempel‘) von Bernhard Lievegoed. Das Buch beschreibt die Existentialität von Schwellenerfahrungen, wie sie bei Einweihungsvorgängen alter Zeiten auftraten, stellt aber auch die Frage nach heutiger Schwellenerfahrungen des Menschen. Wir haben uns auch unsere Biografien erzählt, haben Biografien von uns wichtigen Menschen studiert und auch künstlerisch gearbeitet und miteinander gefeiert. Es war klar, als wir dann später auch einen Verein gründeten (Umkreis e.V.), dass unsere Mitbewohnerin Mitgründerin war.
Was hat dies mit ‚Recovery‘ und ‚Ex-Inn Genesungsbegleitung‘ zu tun? Es waren begriffliche Übereinstimmungen in den Philosophien beider Bewegungen, die mich vor dem Hintergrund unserer damaligen Erforschungen, direkt berühren konnten. Ein solcher Begriff aus der Philosophie der Ex-Inn Bewegung war der der seelischen Erschütterung und die damit verbundene Frage nach dem Sinn einer solchen seelischen Erschütterung. Im Gegensatz zu äußeren Erschütterungen wirkt die seelische Erschütterung von innen so, dass die bis dahin vielleicht tragfähige Seelenstruktur sich auflöst, schlagartig oder schleichend. Es geht um eine meist existentielle Erfahrung, die das Selbst bedroht oder sogar für bestimmte Zeit zerstören kann. Ein Mann hat mir ein solches Erlebens einmal als apokalyptischen Weltuntergang beschrieben – äußeres und inneres Erleben (z.B. ein Gewitter) flossen ineinander. In der Ex-Inn und der Recovery werden diese seelischen Krisen ernst genommen und das Leiden daran nicht verharmlost oder heruntergespielt. Aber es wird vermieden diese Krisen als Fragen von Gesundheit oder Krankheit zu verobjektivieren. Die Dichotomie von Gesundheit oder Krankheit wird aufgehoben! Es geht um Erfahrungen eines Menschen und seinen Umgang mit diesen Erfahrungen. Das bedeutet nichts anderes, als dass die seelische Erschütterung, die seelische Krise nicht aus sich selbst verstanden und bearbeitet werden kann, sondern erst durch einen neuen Entwicklungsschritt aus dem Ich heraus Sinn gibt. Dazu muss die Erfahrung der Erschütterung aber ernst genommen werden und nicht als Symptom einer Erkrankung, mit der ich nichts zu tun habe von mir weggeschoben werden. Umgekehrt macht es eben auch keinen Sinn die Erfahrung aus sich selbst heraus deuten, verstehen zu wollen.
Eine Krise wird so zu einem „Vorgang, bei dem nützliche Inhalte aus an sich unnützen Quellen gewonnen werden. (…) Es ist beeindruckend, wenn Menschen davon berichten, wie eine als unnützes, unsinniges und ungerechtes Leid empfundene psychiatrische Erkrankung dazu führte, dass sich ihr Leben über die Bewältigung der Erkrankung hinaus zum Besseren verändert hat.“ S. 29
So wie es Krisenerfahrungen, Erfahrungen seelischer Erschütterung gibt, gibt es auch Erfahrungen von Genesung (Recovery). Auch diese Erfahrungen sind immer ganz persönlich und intim und können leicht untergehen, wenn sie mit Unheilbarkeitsprognosen und anderen negativen Prognosen von Professionellen verstellt werden. Dies ist der zweite Begriff, der direkt bei mir eine seelische Empfindung und Bewegung ausgelöst hat. Die Empfindung war: Genau darum geht es, es geht um diese doppelte Erfahrung, die Erfahrung der Krise und der Erschütterung und die Erfahrung der Genesung, man könnte auch sagen des Wiederaufbaus, der Auferstehung, Genau um diese Erfahrung geht es für den heutigen Menschen. Damit wird Entwicklung konkret erlebbar. Erst durch diese Erfahrung und durch diesen Prozess wird das eigene Leben individualisiert und als eigenes Leben erlebt.
«Recovery ist ein zutiefst persönlicher, einzigartiger Veränderungsprozess der
Haltung, Werte, Gefühle, Ziele, Fertigkeiten und Rollen. Es ist ein Weg, um
trotz der durch die psychische Krankheit verursachten Einschränkungen ein
befriedigendes, hoffnungsvolles und konstruktives Leben zu leben.
Recovery beinhaltet die Entwicklung eines neuen Sinns und einer neuen
Aufgabe im Leben, während man gleichzeitig über die katastrophalen
Auswirkungen von psychischer Krankheit hinauswächst.»
Recovery ist weder Endprodukt noch Resultat. Es geht auch nicht darum, einfach ‚geheilt‘ oder in der Gemeinde stabilisiert zu sein. Recovery bedeutet oft eine Transformation des Selbst, bei der man sowohl eigene Grenzen akzeptiert, als auch eine Welt von Möglichkeiten entdeckt. Darin liegt das paradox von Recovery. Indem man akzeptiert, was man nicht tun oder nicht sein kann, beginnt man zu entdecken, wer man sein und was man tun kann.“
William Anthony, 1993 (S.25)
Man kann in diesen Formulierungen bemerken, wie stark sich die menschenkundliche ‚Funktion‘ von Krankheit und Behinderung verändert hat. Ihre Beziehung zur Ich-Entwicklung wird deutlich. Erst in den persönlichen Transformationsprozessen ergibt sie ‚Sinn‘ und wird sie individuell als Erfahrung. Schaut man sich die historische Entwicklung der entsprechenden Bewegungen und Initiativen an, dann kann bemerken, dass in den 90er Jahren im Untergrund starke Impulse in Richtung von Individualisierung und eines Denkens von Entwicklungsprozessen wirken, während im Vordergrund anscheinend die medizinischen Gehirnmodelle und Behandlungsmethoden dominieren. Man muss sich entweder als Betroffener oder als Helfender schon auf die Suche machen, um diesen Entwicklungsweg und diesen Transformationsprozess zu finden. Schon diese Suche gehört anscheinend schon zu den ersten Schritten der Transformation. Trotzdem gilt auch hier: Finde ich in der mich umgebenden Welt überhaupt einen Denkzusammenhang, der mir eine Alternative zu den materialistischen Modellen der Gehirnmedizin bietet. Rudolf Steiner hat schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in seinem ‚Votum zur Psychiatrie‘ darauf hingewiesen, dass die (damals) vorhandenen allgemeinen Begriffe krankmachend seien und dass es Begriffe bräuchte, die mit dem Leben übereinstimmen können, also auch denkbar und erlebbar sind.
„Als Ron anfing, Stimmen zu hören, war das für ihn ein Zeichen von Wahnsinn. Das isolierte ihn nicht nur von anderen, sondern auch von sich selbst. Er beschreibt ein entfremdetes Selbst, ängstlich, später ängstlich und wütend. Er traute seiner eigenen Erfahrung nicht mehr. Und er fand keinen Sinnzusammenhang für seine Erfahrungen in unserer Gesellschaft. Er hatte seine Erfahrungen den psychiatrischen Expertinnen überlassen, und diese hatten die Diagnose ‚Schizophrenie‘ gestellt und die entsprechende Behandlung angeboten. Aber Diagnose, medikamentöse Therapien, Elektrokrampfbehandlungen halfen ihm nicht. Erst als er durch den Kontakt mit anderen Stimmenhörern begann, seine eigene Erfahrung ernst zu nehmen und mit seiner Lebensgeschichte in Verbindung zu bringen, änderte sich etwas. (…) Er (Ron) sieht Selbstwert und Selbstakzeptanz dadurch gefährdet, dass die persönliche Erfahrung auf den Ausdruck einer Erkrankung reduziert wird und der Eindruck eines defekten und reparaturbedürftigen Selbst entsteht. Man muss sich dazu entscheiden, die Erfahrung selbst in Besitz zu nehmen.“ S. 108 ff.
Damit kommen wir zu einem dritten Begriff, der mich direkt angesprochen hat und der auch mit meiner Erfahrung in der sozialen Arbeit übereinstimmt. Es ist der Begriff der Hoffnung oder der Begriff der Zukunftsoffenheit. In diesem Begriff liegt eine der wesentlichen Voraussetzungen für Entwicklung, denn dieser Begriff basiert auf einem Willensbegriff, der sich auf nichts anderes stützt als auf seine reine abstrakte, durch nichts abgesicherte, Zukunftsoffenheit und Ausgerichtetheit. Dieser Wille ist aber nicht nur zukunftsoffen, er ist auch empfindlich und empfindsam umgebungsorientiert. Das bedeutet, er kann durch die Bedingungen in der Umgebung auch gestört und irritiert werden. Umgekehrt bedeutet es auch, dass er aus der Umgebung zugesprochen werden kann. Weniger inhaltlich konkret als mehr als grundsätzliche menschliche Konstante, als grundsätzlich immer vorhandene menschliche Fähigkeit. Diese Willensoffenheit des Menschen zeigt sich im Leben in Wirklichkeit immer nur in dem nächsten konkreten Schritt, aber so klein ein solcher nächster Schritt auch ausschauen mag, in ihm ist die gesamte Zukunft als Potential enthalten. Und das kann empfunden werden in einer Art Vorbewusstsein. (Ich möchte diesen Freud’schen Begriff, der weniger bekannt ist, hier neu verstehen und weiter entwickeln. Im Buch weist Christian Horvath auf diesen Begriff hin und dass ihm zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ich würde weitergehen und eben ein neues Denken dieses Begriffes versuchen). Das bedeutet die Umgebung, der unterstützende Mensch hat eine ganz wichtige Aufgabe in diesem Transformationsprozess.
„Helen Glover nennt als entscheidende Kompetenz für professionelle Helferinnen die Entwicklung eines „intent to hope‘ – eines „Willens zur Hoffnung“. (…) Durch professionelles Versagen im Bereich Aufbewahrung und Rückgabe von Hoffnung entstehe seelische Impotenz, die den menschlichen Geist und das menschliche Leben zerstöre.“ (…) Helen Glover definiert „seelische Impotenz“ folgendermaßen: Das psychiatrische System und die Gesellschaft geben einer erkrankten Person eine Botschaft, die dazu führt, dass sie ihre Willenskraft, ihre Träume, Leidenschaften und ihre Erinnerung an Gesundheit verliert, und sie werden durch eine Botschaft von Unfähigkeit und verlorener Hoffnung ersetzt, was zum unaufhaltsamen Tod der menschlichen Seele führt.“
Die Zitate, gerade auch aus der Perspektive der Erfahrenen machen deutlich, worum es geht. Und es wird auch deutlich, dass die nächste Entwicklung in der Psychiatrie nicht im technischen Bereich zu finden ist, sondern in der geschilderten Zuwendung zu dem, was hier als Recovery oder Genesung angesprochen wurde. Und das eine solche Entwicklung nur mit und durch die Erfahrung der Betroffenen angestoßen wurde und weitergeführt werden kann. Man kann hinter die Ich-Entwicklung des 20. Jahrhunderts nicht wieder zurück, sondern kann auf sie setzen. „Es ist Ich.“
Roland Wiese, Horstedt, Ostern 2023
Literatur: Recovery, Das Ende der Unheilbarkeit, Michaela Amering und Margit Schmolke, Psychiatrie-Verlag, 5. Auflage 2012