Nächsten Sonntag haben wir ein nächstes Treffen unserer Arbeitsgruppe ‚Ich-Entwicklung begleiten‘. Im Vorfeld habe ich folgende Stelle aus dem Buch ‚Die Erwartung der Engel‘ durch Zufall gefunden. Sie konkretisiert m. E. sehr genau wie sich die Ich-Frage im sozialen Geschehen zeigt. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, was aktuell im Zeitgeschehen komplett falsch läuft! R.W. 1.5.2022
Zentrales Ich und peripheres Ich im sozialen Prozess (Der Titel ist von mir)
„Denken und Lebensprozess begegnen sich in Bereichen zwischenmenschlicher Gestaltung, wenn eine geistige Ausrichtung auch zur sozialen (und seelischen) Grundlage von menschlicher Beziehung wird. Das bedeutet einerseits, dass die eigene geistige Ausrichtung sozial wirksam wird, und andererseits, dass die zwischenmenschlich wirksame Kraft dem Denken zugänglich wird. Die Schwierigkeit lässt sich vergleichen mit dem Problem, das eigene Gedankenleben gefühlsfähig zu gestalten und die eigenen Gefühle gedankenfähig zu halten; allein die Intention ist nicht ausreichend. Für einen solchen wechselseitigen Prozess, sondern es muss eine Lebenshaltung hinzukommen, die ihn ermöglicht. Der Gedanke darf das Gefühl nicht bestimmen und das Gefühl nicht den Gedanken. Im ersten Fall wird das Seelenleben überformt und ausgehöhlt, im zweiten Fall kann sich keine geistige Individualität, sondern nur <<gedachte>> Bedürfnisnatur entwickeln.
Für den zwischenmenschlichen Bereich bedeutet dies: Die geistige Individualität umfasst auch den anderen Menschen, und der andere Mensch umfasst auch meine Ich-Individualität. Wirke ich nur bestimmend auf den anderen Menschen, so kann mir der Ich-Prozess nicht von außen entgegenkommen, und ich überforme meine Umgebung. Stelle ich mich vollständig auf den anderen ein, so werde ich zur Wirkung äußerer Kraft und ich werde mich verlieren. Die Frage, die Erzengel-Wirksamkeit verdeutlichen kann, lautet deshalb (wiederum aus der Perspektive des Geistselbst oder des früheren Engels gestellt): Wie kann eine Menschenbegegnung so stattfinden, dass ich mir selbst in dem anderen begegne und der andere sich selbst in mir begegnet? Wir kann mir aus dem anderen mehr von mir selbst entgegentreten, als ich in mir zur Zeit spüre, und wie kann ich dem anderen etwas geben, was er in sich zur Zeit selbst nicht realisieren kann?
Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie wird gleichsam verflüssigt. (Hervorhebung von mir)Ich habe nicht mehr nur das Gefühl, dass ich in mir selbst, in meiner Leibes- und Seelenorganisation stecke; ich habe außerdem nicht mehr das Gefühl, dass außerhalb meiner Selbst nur Nicht-Ich existiert. Ich bin nicht mehr mit mir, wie ich in mir stecke, identifiziert, sondern ich bemerke, was mir von mir selbst von außen zukommen kann. (…)
(…) Denn es kann ja nicht darum gehen zu meinen, das Fremde wäre mein Eigenes oder das eigene Innenbewusstsein könnte für den anderen Menschen ich-fähig sein. Vielmehr gilt es gerade im Erleben des Fremden bemerken zu können, was zu mir gehört und wogegen ich mich eher abgrenzen muss. Gleichzeitig soll sich die eigene Außenwirkung durchaus so gestalten, dass sie von der Ich-Individualität zeugt – aber gerade in der Authentizität des Ich dem anderen vielleicht einen Erfahrungsbereich eröffnen kann, in dem er in einem Nicht-Ich sich selbst wiederentdeckt.
Dieser Vorgang ist grundverschieden von dem, der in der Psychologie mit dem Begriff ‚Identifikation‘ belegt wird. Denn es ist ein geistige, nicht ein seelischer Vorgang gemeint, in dem sich der Geist nicht an die Grenzen der individuellen Leibesorganisation gebunden fühlt, aber den Organismus doch als Träger der eigenen Ich-Fähigkeit erlebt. Kennzeichen für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehung im Sinne des Erzengel Michaels ist nun, dass diese Prozesse sich in der Begegnung von Ich-Individualitäten vollziehen, der bewussten Gedankenbildung zugänglich sind und unter Ausschluss älterer Prinzipien der Gemeinschaftsbildung. Nicht gabrielische Vererbungs- und Blutskräfte aus Familien- und Nationalitätszusammenhängen, nicht abstrakter Rechtsprinzipien oder <<übergeordnete>> Bedingungen etwa einer Familien- oder Staatsform bestimmen den Umgang von Menschen, sondern diejenige Kraft, die aus dem Erleben der Ich-Individualität im Denken (an der Grenze von Bewusstsein und Sein) entsteht.“
(Wolf-Ulrich Klünker, Die Erwartung der Engel, 2003, S. 138 ff.)
Gefällt mir:
Like Wird geladen …