Transformation und Ich-Entwicklung

In meinem Beitrag mission accomplished, den ich geschrieben habe im Zusammenhang mit meinem Rückzug aus meiner beruflichen Tätigkeit bei der Gesellschaft für soziale Hilfen, skizziere ich ja eine ganz bestimmte erste Epoche der Entwicklung hin zu einer gemeindenahen und sozialen Psychiatrie. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie eigentlich der nächste Schritt dieser Entwicklung aussieht. In diesem Beitrag soll dieser Frage nachgegangen werden.

Angestoßen und konkretisiert wurde die Beschäftigung mit dieser Frage durch ein Erlebnis, das ich vor kurzem bei einer Klausur mit Kollegen hatte. Es waren zu dieser Klausur drei Menschen eingeladen, die als Gäste berichten sollten über die Ausbildung und Tätigkeit als Genesungsbegleiter*innen und über ‚Recovery‘ in der psychiatrischen Versorgung. Als Fachliche Leitung einer sozialpsychiatrischen Einrichtung habe ich mich natürlich schon auf vielen Tagungen und in Fortbildungen und auch in meinem Alltag mit diesen Themen beschäftigt. Aber erst bei dieser Klausur habe ich eine innere Berührung mit dem erlebt, was als geistige Bewegung und auch als geistige Kraft in den ganzen äußeren Modellen und Konzepten und Projekten wirkt. Es waren einige Schlüsselbegriffe, die dort genannt wurden, die  bei mir in ganz bestimmter Weise aufschlagen konnten. Und die mich wie zurückführten an den Ausgangspunkt meiner Erfahrung und Arbeit mit Menschen, die psychiatrische Erfahrungen gemacht hatten.

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Kolloquium zur Ich-Psychologie Teil 2

Abstraktion und Leben Teil 2

Leben erleben

Einer der zentralen Begriffe einer gegenwärtigen Psychologie des Ich ist der Begriff des ‚Selbstgefühls‘. Wolf-Ulrich Klünker hat ihn in dem Buch ‚Die Empfindung des Schicksals‘ immer wieder neu charakterisiert. „In der Gegenwart hat sich das Selbstgefühl des Ich zu dem Berührungspunkt von Bewusstsein und Leben herangebildet. (…) Indem das Ich jetzt sich selbst empfindet und erlebt, fühlt es (zumindest indirekt) seine eigene Existenz in der Berührung von Bewusstsein und Leben.“ (S.23) Wichtig ist hieran die Betonung des Jetzt. Es geht um das Bemerken im gegenwärtigen Erleben. Das ältere Selbstgefühl ruht auf der unbewussten Tätigkeit der unteren Sinne auf und war insofern leibgestützt. Es gab dem Bewusstsein ein Daseinsgefühl.  Das gegenwärtige Selbstgefühl strahlt nicht mehr unbewusst in das Bewusstsein als dessen Untergrund. Es bildet sich immer wieder neu im Berührungspunkt von Bewusstsein und Leben. Es ist immer aktuelles Erleben. Es bildet sich aus der Verbindung von Bewusstseinsinhalten und Bewegungen und der zeitlichen und  örtlichen Situation. Die bisher getrennten Wahrnehmungen der unbewussten, aber aktiv tätigen unteren Sinne und bewussten, aber passiv rezeptiven oberen Sinne kommen zusammen. Ursache dafür ist die Entwicklung der Intellektualität hin zu einer möglichen Durchleuchtung der oberen Sinne. Diese bleiben nicht mehr rein passiv und lösen dann ein reaktives Denken aus, sondern das stärkere Denken wirkt in die Sinneswahrnehmung hinein. Dieses Hineinwirken ist weniger als inhaltliches Wirken zu denken, sondern mehr als Zusammenhangsbildend. Das bisherige Selbstgefühl bezog seine Identität aus der zusammenhänglichen Kraft der unteren Sinne. Die stützende Kraft der irdischen Verhältnisse und die zeitliche Kontinuität der Lebensprozesse, die bisher das Selbstgefühl konstituiert hat, werden nun durch die Zusammenhänglichkeit der Bewusstseinsverhältnisse ‚aufgehoben‘ in ein aktuelles Ich-Gefühl.

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Die Einsamkeit des Aristoteles

Mir ist vor kurzem eine Neuerscheinung aus dem INFO3 Verlag zur Rezension zugeschickt worden: Die philosophischen Quellen der Anthroposophie, herausgegeben von Jost Schieren. Das Buch enthält die Beiträge einer Vorlesungsreihe an der Alanus Hochschule von 2017.
Ich werde dieses Buch für die Zeitschrift ‚Anthroposophie‘ besprechen. In meinem Blog möchte ich etwas anderes versuchen. Ich möchte das Buch weiterdenkend kommentieren. Das heißt ich werde bestimmte Stellen herausgreifen und mit ihnen weiterarbeiten. Dabei werde ich hier eine andere Perspektive wählen als in meiner Rezension, evtl. sogar eine völlig gegensätzliche.

Erstes Zitat: „Rudolf Steiner und seine Anthroposophie stehen in der öffentlichen Wahrnehmung als solitäre Phänomene da. Der abgeschlossene Kosmos seines Werkes macht es für Nachfolger und Kritiker gleichermaßen zu einem exklusiven Bezugspunkt.“ (Klappentext hinten)
Ähnliche Formulierungen finden sich auch in der Einleitung von Jost Schieren. „Werk und Person Rudolf Steiners sind umstritten.“ „Steiner und dessen Anthroposophie sind kulturell eine beinahe vollständig solitäre Erscheinung, die ihre Bedeutung allein von einer überzeugten Anhängerschaft und den wirksamen Einflüssen auf die genannten Lebensfelder erhält.“ Usw.
Interessant ist hier, dass diese Formulierungen aus einer Zeit noch vor der Corona Pandemie stammen. In den letzten zwei Jahren hat sich die Beziehung der Öffentlichkeit zur Anthroposophie und zu den Anthroposophen aus einer eher neutralen Nichtbeachtung in eine eher kritische Beachtung umgewandelt. Dies betrifft inzwischen auch die bislang so positiv gesehenen Lebensfelder, wie Schulen, Kindergärten, Landwirtschaft und Kliniken.

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Ich-Entwicklung begleiten

Nächsten Sonntag haben wir ein nächstes Treffen unserer Arbeitsgruppe ‚Ich-Entwicklung begleiten‘. Im Vorfeld habe ich folgende Stelle aus dem Buch ‚Die Erwartung der Engel‘ durch Zufall gefunden. Sie konkretisiert m. E. sehr genau wie sich die Ich-Frage im sozialen Geschehen zeigt. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, was aktuell im Zeitgeschehen komplett falsch läuft! R.W. 1.5.2022

Zentrales Ich und peripheres Ich im sozialen Prozess (Der Titel ist von mir)

„Denken und Lebensprozess begegnen sich in Bereichen zwischenmenschlicher Gestaltung, wenn eine geistige Ausrichtung auch zur sozialen (und seelischen) Grundlage von menschlicher Beziehung wird. Das bedeutet einerseits, dass die eigene geistige Ausrichtung sozial wirksam wird, und andererseits, dass die zwischenmenschlich wirksame Kraft dem Denken zugänglich wird. Die Schwierigkeit lässt sich vergleichen mit dem Problem, das eigene Gedankenleben gefühlsfähig zu gestalten und die eigenen Gefühle gedankenfähig zu halten; allein die Intention ist nicht ausreichend. Für einen solchen wechselseitigen Prozess, sondern es muss eine Lebenshaltung hinzukommen, die ihn ermöglicht. Der Gedanke darf das Gefühl nicht bestimmen und das Gefühl nicht den Gedanken. Im ersten Fall wird das Seelenleben überformt und ausgehöhlt, im zweiten Fall kann sich keine geistige Individualität, sondern nur <<gedachte>> Bedürfnisnatur entwickeln.

Für den zwischenmenschlichen Bereich bedeutet dies: Die geistige Individualität umfasst auch den anderen Menschen, und der andere Mensch umfasst auch meine Ich-Individualität. Wirke ich nur bestimmend auf den anderen Menschen, so kann mir der Ich-Prozess nicht von außen entgegenkommen, und ich überforme meine Umgebung. Stelle ich mich vollständig auf den anderen ein, so werde ich zur Wirkung äußerer Kraft und ich werde mich verlieren. Die Frage, die Erzengel-Wirksamkeit verdeutlichen kann, lautet deshalb (wiederum aus der Perspektive des Geistselbst oder des früheren Engels gestellt): Wie kann eine Menschenbegegnung so stattfinden, dass ich mir selbst in dem anderen begegne und der andere sich selbst in mir begegnet? Wir kann mir aus dem anderen mehr von mir selbst entgegentreten, als ich in mir zur Zeit spüre, und wie kann ich dem anderen etwas geben, was er in sich zur Zeit selbst nicht realisieren kann?

Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie wird gleichsam verflüssigt. (Hervorhebung von mir)Ich habe nicht mehr nur das Gefühl, dass ich in mir selbst, in meiner Leibes- und Seelenorganisation stecke; ich habe außerdem nicht mehr das Gefühl, dass außerhalb meiner Selbst nur Nicht-Ich existiert. Ich bin nicht mehr mit mir, wie ich in mir stecke, identifiziert, sondern ich bemerke, was mir von mir selbst von außen zukommen kann. (…)

(…) Denn es kann ja nicht darum gehen zu meinen, das Fremde wäre mein Eigenes oder das eigene Innenbewusstsein könnte für den anderen Menschen ich-fähig sein. Vielmehr gilt es gerade im Erleben des Fremden bemerken zu können, was zu mir gehört und wogegen ich mich eher abgrenzen muss. Gleichzeitig soll sich die eigene Außenwirkung durchaus so gestalten, dass sie von der Ich-Individualität zeugt – aber gerade in der Authentizität des Ich dem anderen vielleicht einen Erfahrungsbereich eröffnen kann, in dem er in einem Nicht-Ich sich selbst wiederentdeckt.

Dieser Vorgang ist grundverschieden von dem, der in der Psychologie mit dem Begriff ‚Identifikation‘ belegt wird. Denn es ist ein geistige, nicht ein seelischer Vorgang gemeint, in dem sich der Geist nicht an die Grenzen der individuellen Leibesorganisation gebunden fühlt, aber den Organismus doch als Träger der eigenen Ich-Fähigkeit erlebt. Kennzeichen für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehung im Sinne des Erzengel Michaels ist nun, dass diese Prozesse sich in der Begegnung von Ich-Individualitäten vollziehen, der bewussten Gedankenbildung zugänglich sind und unter Ausschluss älterer Prinzipien der Gemeinschaftsbildung. Nicht gabrielische Vererbungs- und Blutskräfte aus Familien- und Nationalitätszusammenhängen, nicht abstrakter Rechtsprinzipien oder <<übergeordnete>> Bedingungen etwa einer Familien- oder Staatsform bestimmen den Umgang von Menschen, sondern diejenige Kraft, die aus dem Erleben der Ich-Individualität im Denken (an der Grenze von Bewusstsein und Sein) entsteht.“

(Wolf-Ulrich Klünker, Die Erwartung der Engel, 2003, S. 138 ff.)

Zusammenhänge im Geistselbst

Ich-Entwicklung Begleiten,  24. April 2021

Holz

Der folgende Beitrag ist kein Protokoll des letzten Zoom-Treffens in unserer Forschungs- und Arbeitsgruppe ‚Ich-Entwicklung Begleiten‘. Es ist mehr ein Versuch Begriffe aus dem Leben heraus zu gewinnen, die in der Lage sind mit diesem Leben umzugehen. Insofern bildet unser Treffen den realen Hintergrund für den folgenden Beitrag, er kann aber vielleicht, und deshalb wird er hier veröffentlicht, über diese Gruppe hinaus, die Perspektive auf die aktuelle Lage erweitern und vertiefen. Es ist scheint nicht zufällig zu sein, dass ich aktuell immer wieder mit der Zeit der neunziger Jahre inhaltlich und persönlich zu tun bekomme. In den neunziger Jahren, also kurz vor der Wende ins 21. Jahrhundert, waren schon einige Entwicklungen angelegt, geistig und existentiell, die jetzt erst symptomatisch virulent werden. Es kann  aufschlussreich sein sich diese Linien mit dem heutigen Bewusstsein zu vergegenwärtigen. 

 

„Das therapeutische Prinzip des menschlichen Ich ist das Geistselbst“ (W.U. Klünker in Konturen 9, 1998, S. 109)


Es sind keine einfachen Zeiten für das Ich. (Das wird immer wieder deutlich, wenn wir uns zu einem Zoom-Gespräch treffen und uns über die Lage der Einzelnen austauschen) Es ist schwierig sich in einer Situation individuell zu orientieren, wenn alle anderen aktuellen Formatierungen eher allgemeine, für alle Menschen zutreffende sein sollen und teilweise auch sind. Allgemeines wirkt auf Individuelles und Allgemeines soll dem Individuellen helfen. Es entsteht eine sehr große, kaum auszuhaltende Spannung für das individuelle Ich gegenüber der allgemeinen Gesellschaft. Auch Gruppen und Gemeinschaften haben es in dieser Situation nicht einfach – alle mesosozialen Zusammenhänge, Gruppen und Gemeinschaften werden zum Zerreißen angespannt zwischen den Positionen der Einzelnen und der Position der allgemeinen Umgebung. Man könnte es auch als Zerreißprobe erleben zwischen Subjektivität und Objektivität. Es fehlt eine Haltung und auch ein Denken, das in der Lage ist mit diesen Wirklichkeitsschichten, mit denen wir es zu tun haben, adäquat umzugehen. Unser Umgang damit reduziert sich im Kern auf eine technische, und damit eine äußerliche Praxis, die versucht das sich zeigende Geschehen unter Kontrolle zu bekommen. Aber alle technischen und pragmatischen Praxen sind notwendigerweise nicht individuell und auch schwer in die eigene Individualität zu integrieren. Sie erscheinen wie ein notwendiges äußeres Geschehen, zu dem aber keine innere seelische Verbindung herzustellen ist. Es bleibt ein merkwürdig zweidimensionales Prozess Geschehen ohne innere Tiefe. Die innere Tiefe dagegen vollzieht sich in den existentiellen subjektiven Prozessen. Hier bleibt das Individuum mit sich allein, ausgesetzt dem allgemeinen Geschehen. Alle Ansätze zu solidarischem Miteinander in einer solchen existentiellen Lage lassen sich nur schwer halten und befestigen.

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‚Maßstab Mensch‘: eine Fachstelle für freie Sozialarbeit

Das Jahr 2020 geht zu Ende und der Rückblick ist stark geprägt durch die alles beherrschende Situation mit der Corona Pandemie. Man könnte beinahe die Entwicklungen übersehen, die wir in diesem Jahr mit der Fachstelle Maßstab Mensch hatten. Im März diesen Jahres endete die Förderung durch die Aktion Mensch, die 4 Jahre lang den Start des Projektes ermöglicht hatte. Das bedeutete die Fachstelle musste jetzt ökonomisch auf eigenen Beinen stehen und die Arbeit musste sich aus den Erträgen der einzelnen Beratungen, Vermittlungen und Begleitungen finanzieren. Und am Ende des Jahres können wir festhalten, dass die Fachstelle ihr erstes ‚freies Jahr‘ nicht nur gut überstanden hat, sondern stetig gewachsen ist und sich entwickelt hat. Die Fachstelle selbst ist nun mit Martina Rasch besetzt. (Träger ist die Umkreis-Entwicklungsgemeinschaften gGmbH). In der Fachstelle Ost in Rosche im Raum Uelzen sind mit Kathrin von Kamen und Gabriele Arndt zwei Menschen in der Beratung, Vermittlung und konkreten Begleitung tätig. Und auch die Zusammenarbeit mit Christian Hardemann im Raum Syke/Diepholz hat sich weiterentwickelt. Parallel zur Entwicklung der Fachstelle ist auch die gemeinsame Forschungsarbeit am Thema Ich-Entwicklung weitergegangen. In der Corona-Zeit haben wir uns per Zoom ausgetauscht zum Thema ‚Ich-Entwicklung begleiten.‘ Zur Arbeit von Martina Rasch gehören nicht nur die Einzelfallberatung und die konkrete Realisierung der Vermittlungen vor Ort und mit den Behörden, im Rahmen der Fachstelle werden auch weiterhin Einrichtungen beraten, und Höfe mit dem Thema vertraut gemacht. Dies hat sich auch erweitert auf die Beteiligung an Workshops mit der Hochschule in Witzenhausen (Thomas van Elsen), in denen Studenten und Projektinteressierte gemeinsam an der Umsetzung von Projektideen arbeiten. (Angehängt habe ich einen Beitrag vom März 2020 von mir und eine Beschreibung der Fachstelle von 2018 von Martina Rasch).

von links: Martina Rasch, Kathrin von Kamen, Christian Hardemann, Reiner von Kamen in der Fachstelle Horstedt

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Ich-Entwicklung: Subjektiv-Objektiv

Im neuen Jahr setzen wir unsere kleine Reihe ‚Ich-Entwicklung begleiten‘ fort. In der Vorbereitung darauf bin ich mit der Frage umgegangen, wie man eigentlich bestimmt objektive Erfahrungen, die Menschen erleben müssen, z.B. Krankheit, Behinderung usw. mit der Frage der Ich-Entwicklung zusammendenken kann. Im Nachdenken über diese Frage ist mir klar geworden, dass es hierbei um eine Berührung von subjektivem Erleben mit objektiven Schicksalsereignissen geht. Eine solche Berührung birgt sehr unterschiedliche Möglichkeiten mit ihr umzugehen. Insofern ist es naheliegend diese Möglichkeiten einmal durchzugehen und dieses Spannungsverhältnis zwischen subjektiv und objektiv näher anzuschauen.

Ich-Entwicklung: Subjektiv-Objektiv

„Hegel sagt, Geist ist das, wozu er sich macht.“ Markus Gabriel (1)
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Ein kleines Erlebnis, das ich vor einigen Wochen hatte, zeigt wie unter einem Brennglas, was im Folgenden genauer untersucht werden soll: Bei einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie in Leverkusen Anfang Dezember 2019 war ich Teilnehmer eines Forums, in dem es um die partizipative Forschung im Bereich Psychiatrie ging. Partizipativ bedeutet in diesem Fall, dass Menschen mit Psychiatrieerfahrung, als sogenannte Experten aus Erfahrung, mit den professionellen Forschern zusammen die Forschungsfrage bearbeiten. Auf dem Podium saßen zwei Menschen, ein junger Mann und eine nicht mehr ganz junge Frau, er war Assistenzarzt in einer psychiatrischen Klinik, sie war Genesungsbegleiterin als Psychiatrieerfahrene. Die Veranstaltung war insofern sehr spannend, weil sichtbar wurde, dass die Einbindung der Experten aus Erfahrung (Peers) in die Forschung, die gesamte Fragestellung radikal verändern kann. In einer kleinen Szene wurden die radikal unterschiedlichen Perspektiven der beiden Protagonisten sehr deutlich. Während der Arzt und Wissenschaftler von psychiatrischen Diagnosen/Krankheitsbildern sprach, die Gegenstand der Untersuchung waren, sprach die Expertin von Erfahrungen der Menschen. Beim Zuhören konnte man den Eindruck haben beide sprechen von zwei völlig verschiedenen Sachverhalten: Der Arzt spricht von Psychosen, die Expertin von krisenhaften Erfahrungen. Merkwürdigerweise konnte man beim Zuhören die Empfindung haben, die Diagnose sei gar nichts Wirkliches, die Erfahrungen der Menschen dagegen schon. Die ‚Subjektivität‘ des Menschen mit der Erfahrung von krisenhaftem Erleben steht der scheinbar objektiven Beschreibung des Menschen mit der professionellen medizinischen Ausbildung gegenüber. Beide berichten von einem Durchgang, der für beide notwendig war, damit diese beiden Menschen irgendwie einen gemeinsamen Arbeitsansatz, eine Forschungshaltung gewinnen konnten. Einen Durchgang, der voraussetzte, dass der Arzt aufwachte an dem subjektiven Erleben des anderen Menschen. Er musste es ernst nehmen, die subjektive Erfahrung als eine Art Wahrheit verstehen lernen. Die andere Seite, die Frau mit der Erfahrung seelischer Krisen, musste sich ebenfalls überwinden, der normalerweise ‚herrschenden‘ scheinbar objektiven Sichtweise ihre individuelle Erfahrung entgegenzustellen. Aus dieser gegenseitigen Berührung und Durchdringung ergab sich ein veränderter Forschungsansatz und eine neue Art der Beschreibung. Eine Beschreibung der Wirkung von bestimmten Versorgungsstrukturen auf den Patienten, die in Ich-Sätzen ausgedrückt wurde.

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Leben und Tod – Leben mit Verstorbenen

Leben und Tod

Ich begleite seit einigen Jahren als Supervisor eine Gruppe eines Hospizvereines, die Trauerbegleitung für Kinder anbietet. Dort können Kinder, die einen nahen Angehörigen verloren haben, in einem geschützten Rahmen mit anderen Kindern spielend und sprechend mit ihrer Trauer umgehen. Oft ist dazu im häuslichen Rahmen nicht der Raum, weil die Angehörigen mit ihrer eigenen Trauer absorbiert sind von den Bedürfnissen der Kinder. Manchmal sind es auch besondere Situationen, wie der Suizid eines Elternteiles, der verarbeitet werden will. Die konkreten Geschichten der einzelnen Kinder regen in mir immer wieder Gedanken an, die im Gespräch mit der Gruppe als eine Betrachtungsmöglichkeit der Situation kurz auftauchen, die aber im Gespräch meist nicht ausgearbeitet werden können. Im Folgenden möchte ich einem solchen Zusammenhang etwas weiterdenken. Es ist selbstverständlich, dass die konkreten Geschichten der Kinder hier nicht geschildert werden können. Aber es sind einige Elemente in diesen Geschichten, die bei allen gleich sind: Die Wirkungen des Todes in das Leben. Die Bewegungen, die der Tod eines nahen Angehörigen im Leben der Hinterbliebenen auslöst. Die Kinder und auch die Erwachsenen waren gezwungen die Beziehung zu einem ihnen nahen Menschen umzuwandeln, weil dieser Mensch nicht mehr leibhaftig anwesend war. Weil dieser Mensch weg war, gestorben, die Beziehung aber weiterhin in ihnen lebt. Das Gefühl der Trauer speist sich aus dieser Situation. Am Ende unserer letzten Supervision tauchte deshalb die Frage auf, was eigentlich aus der Trauer wird.

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Beziehungen zu Verstorbenen und zu Lebenden

Wenn ein naher Mensch gestorben ist hat man als Angehöriger plötzlich zwei Arten von Beziehungen: die Beziehung zu den lebenden Menschen und die Beziehung zu einem (oder mehreren) verstorbenen Menschen. Schon die Beziehungen zu lebenden Menschen sind manchmal kompliziert, weil sich die Beziehung ja von zwei Seiten her entwickelt, und man deshalb nie genau weiß, was eigentlich gerade geschieht. Die Beziehung zu verstorbenen Menschen ist nun oft noch komplizierter, weil es dafür kaum Begriffe oder Umgangsweisen gibt, die allgemeingültig sind. Die wenigen Hilfen, die unsere Kultur (und aus diesem Blickwinkel ist dies hier geschrieben) für diese Beziehungen gibt, also Orte (Friedhöfe), Zeiten, also Gedenktage, sind auch gerade im Begriff sich zu verändern und zu individualisieren. Die Beziehung zu einem verstorbenen Menschen wird damit immer mehr davon abhängig, wie ich den Menschen denke in seiner Beziehung zu Leben und Tod, und welche Beziehung ich zu diesem speziellen Menschen im Leben hatte und jetzt im Tod haben will. Auch die Beziehung zu lebenden Menschen hat darin ihre Grundlage, die aber mehr unbewusst wirksam ist, weil  die Beziehung aus dem Leben heraus immer wieder neu gefüllt wird mit Inhalten des Lebens. Stirbt ein Mensch fällt diese Erfüllung anscheinend weg, und die Beziehung wird aus den Erinnerungen gespeist, also aus der Vergangenheit, dem vergangenen Leben. Es ist nicht einfach zu bemerken, dass auch die Beziehung zu einem Verstorbenen noch eine Zukunft hat und dadurch eine lebendige Gegenwart, die nicht allein vergangenheitsgeprägt ist. Ein solches Bemerken ist umso schwieriger, je mehr die Beziehungen zu den lebendigen Menschen, die Beziehungen zu den verstorbenen Menschen übertönen, weil sie fordernder und vordergründiger sind. Ich müsste mich als Erstes vielleicht darauf einstellen zwei sehr voneinander verschiedene Arten der Beziehung zu Menschen zu haben: zu Lebenden und zu Verstorbenen. Die Beziehung zu den Lebenden kann dabei ebenso wenig das Maß für die andere Art der Beziehung sein, wie umgekehrt. Eher könnte man davon sprechen, dass sie sich gegenseitig aneinander messen. Vielleicht in dem Sinne, dass die Beziehung zu Lebenden davon positiv befruchtet werden kann, dass ich eine bewusste Beziehung zu Verstorbenen haben kann und umgekehrt: Eine freie und bewusste Beziehung zu Verstorbenen ist geradezu darauf angewiesen, dass ich auch reale Beziehungen zu lebenden Menschen habe.

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Ich-Entwicklung begleiten 9.11.2019

Im September und Oktober hatte ich so viele Veranstaltungen, dass ich mit dem Nacharbeiten gar nicht hinterherkomme. So hatten wir am 21.9. die Vernissage von Elfi Wiese, am 22.9. die Eröffnung von Wolfgang Voigts neuem Atelier in Wennigsen, am 28.9. gleichzeitig ‚Ich-Entwicklung begleiten‘ und die Katalog-Vorstellung von Jasminka Bogdanovic in Dornach (so das Martina Rasch das Treffen zur Ich-Entwicklung alleine leiten musste). Am 19.10. hatten wir dann ein Forschungstreffen zum Thema ‚Die Sinne des Ich‘ in Horstedt. Und jetzt am 9.11. ging es weiter mit unseren Treffen zur ‚Ich-Entwicklung‘. Der Gesamtzusammenhang wird hier erwähnt, weil bei allen Veranstaltungen für mich das Thema ‚Ich-Entwicklung‘ explizit oder mehr hintergründig anwesend war.

Nachdem wir in den Treffen zur ‚Ich-Entwicklung‘ Anfang des Jahres mehr das Denken untersucht haben, ergab sich für die letzten Treffen mehr die Frage nach dem Willen. Martina Rasch hatte für sich eine Stelle aus der ‚Allgemeinen Menschenkunde‘ (R. Steiners) gefunden, mit der wir dann zwei mal gearbeitet haben, und die jetzt beim dritten Treffen noch einmal Ausgangspunkt war. „Erst wenn man den Willen wirklich erkennt, kann man auch wenigstens einen Teil der Gefühle erkennen. Denn ein Gefühl ist mit dem Willen sehr verwandt. Wille ist nur das ausgeführte Gefühle und das Gefühl der zurückgehaltene Wille. Der Wille, der sich noch nicht wirklich äußert, der in der Seele zurückbleibt, das ist das Gefühl: ein abgestumpfter Wille ist das Gefühl“ (4.Vortrag S.62) „Gefühl ist werdender, noch nicht gewordener Wille; aber im Willen lebt der ganze Mensch.“ (S.75).

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Selbstheilungskräfte des Ich

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„Selbstheilungskräfte des Ich“ – Der Titel dieses Beitrages war auch der Titel der Veranstaltung am Wochenende in der DELOS-Forschungsstelle in Eichwalde. Man kann das Seminar nennen, aber Wolf-Ulrich Klünker betonte schon in der Einleitung, dass es nicht so einfach ist eine Veranstaltung zu diesem Thema zu haben. Denn man könnte natürlich Veranstaltungen über die Selbstheilungskräfte noch und nöcher machen, ohne dadurch den Selbstheilungskräften auch nur einen Schritt näher zu kommen. Wie können aber die Selbstheilungskräfte im einzelnen Menschen selbst angesprochen werden, ohne das Ich der anwesenden Menschen zu umgehen? Interessant ist für mich die Wahrnehmung des Nachklangs der Veranstaltung – die inhaltliche Seite war sicherlich nicht unwichtig, aber viel wesentlicher erscheint mir, dass ich mich danach in einem anderen Zustand befinde als vorher. Man könnte es vielleicht so formulieren – ich empfinde sehr genau, ohne zu wissen, woher ich das wissen kann, das mein Zustand nach der Veranstaltung idealiter der ist, der mir möglich ist, in dem ich mich aber sonst nicht befinde. Ich erlebe mich ansatzweise in einer gewissen Identität von leiblicher und geistig-seelischer Möglichkeit. Ich schließe daraus verschiedene Dinge: Ich habe mich am Wochenende in der geistigen Bewegung und Bemühung mit den anderen und mit Wolf-Ulrich Klünker in einer Wirklichkeitsschicht aufgehalten, in der die Selbstheilungskräfte des Ich anwesend sind. Das, was und wie wir am Wochenende gesprochen und gefühlt haben sind die Selbstheilungskräfte. Man muss jetzt nicht meinen, dass das seelisch in irgendeiner Weise eine besondere Intensität hatte, weder während noch nach dem Seminar. Das Gefühl der Identität mit sich selbst (bis in den leiblichen Bereich hinein) ist nicht besonders aufdringlich, sondern eher leise. Es ist auch nicht zu beweisen, dass es irgendeinen Zusammenhang mit der Veranstaltung hat. Es ist mir aber innerlich vollständig klar, dass es so ist. Resümee: Die Selbstheilungskräfte (man kann sich mal fragen, wie man sich diese eigentlich vorstellt!) sind möglicherweise ganz anders. Sie sind vielleicht eine gewisse geistige Aktivität – Steiner hat es im Lebensgang (seiner Autobiographie) einmal so formuliert, dass man mit dem ganzen Menschen in das Denken, also in das geistige tätig sein, hineingeht. Selbstheilungskräfte, ein heute viel gebrauchter Begriff, zu Steiners Zeiten hätte man vielleicht noch vom ‚Lebensgeist‘ gesprochen. Ein Geistig-Seelisches, das in der Lage ist Leben aufzubauen. Natürlich ist eine solche Veranstaltung keine Dauermedikation, aber man kann für sich eine Art Modellerfahrung machen, welches Leben in welcher geistigen Aktivität eigentlich notwendig ist, um die Einheit zwischen Leben und Bewusstsein wiederherzustellen. Also welche Art von Bewusstsein lebenswirksam ist und, gleichermaßen, welche Art von Bewusstsein lebensschädigend wirkt. Beide Wirkungen beschränken sich dabei nicht auf den eigenen Organismus, sondern strahlen in die Lebenswirklichkeit insgesamt aus.

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