Ich-Entwicklung Begleiten, 24. April 2021
Der folgende Beitrag ist kein Protokoll des letzten Zoom-Treffens in unserer Forschungs- und Arbeitsgruppe ‚Ich-Entwicklung Begleiten‘. Es ist mehr ein Versuch Begriffe aus dem Leben heraus zu gewinnen, die in der Lage sind mit diesem Leben umzugehen. Insofern bildet unser Treffen den realen Hintergrund für den folgenden Beitrag, er kann aber vielleicht, und deshalb wird er hier veröffentlicht, über diese Gruppe hinaus, die Perspektive auf die aktuelle Lage erweitern und vertiefen. Es ist scheint nicht zufällig zu sein, dass ich aktuell immer wieder mit der Zeit der neunziger Jahre inhaltlich und persönlich zu tun bekomme. In den neunziger Jahren, also kurz vor der Wende ins 21. Jahrhundert, waren schon einige Entwicklungen angelegt, geistig und existentiell, die jetzt erst symptomatisch virulent werden. Es kann aufschlussreich sein sich diese Linien mit dem heutigen Bewusstsein zu vergegenwärtigen.
„Das therapeutische Prinzip des menschlichen Ich ist das Geistselbst“ (W.U. Klünker in Konturen 9, 1998, S. 109)
Es sind keine einfachen Zeiten für das Ich. (Das wird immer wieder deutlich, wenn wir uns zu einem Zoom-Gespräch treffen und uns über die Lage der Einzelnen austauschen) Es ist schwierig sich in einer Situation individuell zu orientieren, wenn alle anderen aktuellen Formatierungen eher allgemeine, für alle Menschen zutreffende sein sollen und teilweise auch sind. Allgemeines wirkt auf Individuelles und Allgemeines soll dem Individuellen helfen. Es entsteht eine sehr große, kaum auszuhaltende Spannung für das individuelle Ich gegenüber der allgemeinen Gesellschaft. Auch Gruppen und Gemeinschaften haben es in dieser Situation nicht einfach – alle mesosozialen Zusammenhänge, Gruppen und Gemeinschaften werden zum Zerreißen angespannt zwischen den Positionen der Einzelnen und der Position der allgemeinen Umgebung. Man könnte es auch als Zerreißprobe erleben zwischen Subjektivität und Objektivität. Es fehlt eine Haltung und auch ein Denken, das in der Lage ist mit diesen Wirklichkeitsschichten, mit denen wir es zu tun haben, adäquat umzugehen. Unser Umgang damit reduziert sich im Kern auf eine technische, und damit eine äußerliche Praxis, die versucht das sich zeigende Geschehen unter Kontrolle zu bekommen. Aber alle technischen und pragmatischen Praxen sind notwendigerweise nicht individuell und auch schwer in die eigene Individualität zu integrieren. Sie erscheinen wie ein notwendiges äußeres Geschehen, zu dem aber keine innere seelische Verbindung herzustellen ist. Es bleibt ein merkwürdig zweidimensionales Prozess Geschehen ohne innere Tiefe. Die innere Tiefe dagegen vollzieht sich in den existentiellen subjektiven Prozessen. Hier bleibt das Individuum mit sich allein, ausgesetzt dem allgemeinen Geschehen. Alle Ansätze zu solidarischem Miteinander in einer solchen existentiellen Lage lassen sich nur schwer halten und befestigen.
In unserem heutigen Treffen habe ich angesichts dieser Lage, aber auch angesichts unserer inhaltlichen Entwicklungswege der letzten Male, angesprochen, dass wir uns jetzt eigentlich mit einer Art Steigerung des Ich beschäftigen müssen, weil das einfache Ich anscheinend als Denk- und (Er)Lebens-Form in dieser Situation nicht ausreicht und sich als überfordert erleben muss. In der Anthroposophie gibt es für die Entwicklungsstufe nach dem Ich (genauer nach der Bewusstseinsseele) den Begriff des Geistselbst. Eine erste Erweiterung des Ich-Begriffes haben wir uns in den vergangenen Treffen mit dem Begriff des Umkreis-Ich oder des Schicksals-Ich, oder auch mit dem Begriff W.U. Klünkers, des peripheren Ichs, geschaffen. Darauf können wir jetzt zurückgreifen, wenn wir uns klarer machen wollen, was mit Geistselbst gemeint sein könnte.
W.U. Klünker hat den Begriff des Geistselbst, der bei Steiner noch ein wenig abstrakt und systematisch wirkt, gefüllt mit Charakterisierungen, die dem heutigen Leben und Erleben nahe sind. Schon 1998 wird von ihm die Problematik des Ichs in der Selbsterkenntnis und im Selbsterleben dahingehend beschrieben, dass das Ich sich nicht wirklich zu greifen bekommt, wenn es versucht, sein „ <> seelisches Inneres“ zu erkennen. Ebenso wenig ist es für das Ich möglich sich dadurch zu bestimmen, dass es sich mit seinen wechselnden Lebensstimmungen identifiziert. Er kommt zu dem Schluss: „Das Ich muß sich erst ein geistiges Milieu schaffen, in dem es sich selbst entwickeln, zeigen und damit auch für die Selbsterkenntnis durchsichtig werden kann.“ (Konturen 9, S. 105). Diesen Begriff des ‚geistigen Milieus des Ich‘ halte ich für eine ganz wichtige Erweiterung und Ergänzung des psychologischen Ich-Begriffes. Er ist für die Bildungen, die wir hier im ‚Umkreis‘ immer wieder versucht haben, das grundlegende Motiv.
Eines meiner ersten philosophischen Bücher war Ende der siebziger Jahre das Buch von Ortega y Gasset, El Hombre y la gente, (Der Mensch und die Leute, 1957). Mich sprach damals die Frage an, wie der einzelne Mensch in diese allgemeine Menschheit hineingestellt ist. Psychologisch existentiell in dem Erlebnis, das man in der Stadt als einzelner Mensch in seinem Innerleben eingeschlossen ist und nicht wirklich mit all diesen anderen Menschen um einen herum in eine wirkliche Beziehung kommt. Die Frage wie diese Situation der Vereinzelung lebbar ist, wobei ich immer der Einzelne bin und die anderen die Masse. Wie also die Anonymisierung der anderen Menschen zur Masse aufgehoben werden könnte, das war schon als junger Mensch für mich eine existentielle Frage. Denn das 20. Jahrhundert ist geprägt von einem Menschenbild, das den Menschen, und gerade auch den politischen Menschen als Masse betrachtet, die man nur in richtiger Weise (technisch) manipulieren muss. Und dieses Menschenbild ist mit dem Ende des 20. Jahrhundert nicht überholt, sondern wird nur um eine Stufe weiter abstrahiert durch die technischen Möglichkeiten den Menschen in seine Daten aufzulösen. Ortega y Gasset hat schon damals eine Art Gegenformel für die existentielle Verengung des Ich gefunden, die sich als ‚Zirkunzialismus‘ in der Formel „Ich bin Ich und meine Lebensumstände“ («Yo soy yo y mis circunstancias») sich ausdrückt. Natürlich ist das noch nicht der Schritt über das Bestehende hinaus, aber es erweitert den Begriff des persönlichen inneren Ichs schon einmal um den Bezug auf die eigenen Lebensumstände, ohne das Ich damit wieder in eine ‚Gruppe‘ oder ‚Klasse‘ zu entsorgen.
Der Begriff des ‚Umkreis-Ich‘ oder eines nötigen Entwicklungs-Umkreises für das einzelne Ich, geht dagegen davon aus, dass die bestehende Umgebung des Ich nicht zwangsläufig die ist, die für seine Entwicklung förderlich ist. Die Bildung eines solchen Entwicklungsmilieus für die eigene Ich-Entwicklung ist somit der erste wirkliche Schritt dieser Entwicklung. Mein Denk- und Lebens- Ansatz damals Ende der achtziger Jahre entspricht sehr präzise dem, wie es Wolf-Ulrich Klünker 1998 formuliert: „Die Arbeit am kulturellen Milieu des Ich ist damit eine entscheidende Aufgabe seelischer Therapie, Prophylaxe und Hygiene. Denn es wäre ja denkbar, dass seelisches Leid oder gar Erkrankung vorliegt, weil das Ich nicht in der Lage ist, sich selbst das geistige Milieu zu schaffen, in dem es zur Erscheinung kommen kann; dann wäre durch biographische Retrospektive gar nicht die Ursachenebene für die Lebensschwierigkeiten zu erreichen.“ (ebd. S. 106) Therapie und Heilung bestünde also nicht, wie es damals (und heute) üblich war zu denken, den Menschen wieder in normale Lebensumstände zurückzuführen, oder seine Gesundheit wiederherzustellen, sondern darin neue Umgebung, neue Möglichkeiten der Erfahrung und damit der Selbsterfahrung zu bekommen, die die Ich-Entwicklung erst ermöglichen. Eine solche Perspektive beinhaltet immer zwei Momente, die innere des Ich als ‚Sehnsucht‘ nach Entwicklung und die äußere, oder von außen kommende Möglichkeit der Milieubildung. Die Milieubildung ist wie von zwei Seiten zu denken. Im Innen muss eine Art Bewegung, Interesse, Intention in diese Richtung vorliegen, oder als vorliegend von außen vorausgesetzt werden; von außen können Entwicklungsbedingungen diese innere Bewegung fördern oder hemmen („so ist das Ich nicht einfach <>, sondern es wird so, wie es sich zeigen kann, und zwar entsprechend den Anregungen, die es kulturell erhält“.“ Klünker ebd. S. 106).
Zum Entwicklungs-Milieu des Ich gehört natürlich mehr als nur eine konkrete menschliche und kulturelle Umgebung, „auch jede Art von geistiger Kultur“ bildet „die geistige Atmosphäre für Ich-Entwicklung!“ (S. 105). Rudolf Steiner hat deshalb diese Milieubildung sowohl für die engere menschliche Umgebung gesehen (Übergang psychischer Symptomatik vom Stärkeren auf den Schwächeren), wie auch für die Begriffe, also das allgemeine zivilisatorische Denken, – beides kann krank machen oder heilend wirken (im Votum für Psychiatrie). „Denn die Sachen liegen gerade durchaus so, dass, ich möchte sagen, durchaus überall sich gradlinige Strömungen von den Symptomkomplexen des gestörten psychischen Lebens ziehen lassen zu den gerade heute im öffentlichen Leben vielfach Gang-und-Gäbe-Vorstellungen, die nun gar nicht als krankhaft gelten, sondern die eben allgemein angenommen werden.“ (R. Steiner GA 314, S. 268, 1920) Also, die Begriffe, mit denen man sich allgemein zivilisatorisch denkt, können entwicklungsfördernd oder hemmend für die Ich-Entwicklung wirken. Das bedeutet, der Geistselbst-Begriff ist an sich nicht so klar räumlich oder sozial einzugrenzen, wie es das psychologisches Ich-Erleben im eigenen Leib ist. Das Geistselbst ist insofern nicht einfach da, sondern es muss vom Ich inhaltlich bestimmt und entwickelt werden, und es ist nur als indirekte Wirkung seelisch erlebbar. Diese ersten gewissermaßen äußerlichen Ansätze das Geistselbst zu erfassen, können aber schon für die Ich-Entwicklung von Nutzen sein. Denn für die Ich-Entwicklung gälte dann, dass eben „die nähere und weitere seelische, soziale und geistige Umgebung“ des Ich nur dann förderlich sein kann, wenn sie „vom Ich selbst in jedem Moment tätig, d.h. milieuschaffend gestaltet“ wird (S. 107). Es gibt also nicht die perfekte Umgebung für das Ich, es sei denn das Ich schafft sie sich immer wieder neu! Eine große Gefahr besteht dann in einem mehr restaurativen Kultur und Milieubegriff, in dem Sinne, dass man schon wüsste, was für die Entwicklung anderer Menschen gut wäre. Entwicklungsanregend wirkt insofern immer nur die eigene Entwicklungsbemühung, im Sinne einer eigenen kulturschaffenden Tätigkeit. Nur die eigene aktuelle Tätigkeit kann tatsächlich entwicklungsfördernd und ausstrahlend wirken.
Wolf-Ulrich Klünker findet in seinem Beitrag „zwei zentrale therapeutische Fragestellungen“, die das Ich über seine eigenen erst einmal vorhandenen Begrenzungen hinausführen können. „Erstens: Was interessiert mich wirklich geistig?(…) Und zweitens: Wie kann sich das Denken so erkraften, dass ihm für die Zusammenhänge von Mensch und Welt nicht immer nur das Nächstliegende einfällt und damit auch das seelische Erleben in die Enge treibt und schließlich veröden lässt.“ (S.108ff.) Diese Stärkung und Erweiterung des Denkens führt dann dazu, dass das Ich sich nicht mehr nur in sich selbst erlebt, sondern es beginnt sich in seiner Umgebung zu erleben, „es wird sich selbst bewusst in seiner Abhängigkeit von dem geistigen Milieu, in dem es lebt; es bemerkt wie seine Lebensprobleme auf eine existentiell zentrale Erkenntnisfrage weisen; es findet sich in immer feinere Zusammenhänge der Weltwirklichkeit hinein. In einen Begriff konzentriert: Das Ich erlebt sich in eine Realität gestellt, die geisteswissenschaftlich als Geistselbst bezeichnet wird. Das therapeutische Prinzip des menschlichen Ich ist das Geistselbst; wenn es nicht an dessen Bildung arbeitet, gerät das Ich-Erleben in seelische Engführung. Daraus vermag es sich zu befreien, sobald es sich selbst in dieser Bildungsbewegung als geistiges Wesen wiederfindet.“ (S.109).
Wenn ich ein wenig die letzten Jahre überschaue, in denen wir mit vielen verschiedenen Menschen vielfältige inhaltliche und persönliche Entwicklungsschritte gegangen sind, dann kann ich sehen, dass für die meisten Menschen die schwierigste Aufgabe darin besteht, mit der erreichten Sensibilisierung in Erkennen und Empfinden in die Welt hineinzukommen. Es kann sogar eher zu Stauungs- und Stagnationsgefühlen führen, wenn man sich erst einmal der eigenen geistigen Lage in der vorhandenen geistigen und menschlichen Umgebung beginnt bewusst zu werden. Der Übergang von der Sensibilisierung, also der immer feineren und differenzierteren und damit auch individualisierten Empfindungsfähigkeit, die sich aus einem verstärkten Denken ergibt, in eine Individualisierung der eigenen Willenswirksamkeit ist ein Schritt, der gerade am Anfang nur schwer selbst wahrzunehmen ist. Gerade für diesen Übergang ist es wichtig auch eine menschliche Umgebung zu haben, die diesen Übergang miterleben kann. Die ersten Schritte in der ‚Geistselbstberührung des Ich‘ (W.U. Klünker) können aber zur Folge haben, dass sich auch hier zeigt, wer eigentlich wirklich in der Lage ist sich gegenseitig mitzuerleben. Eine solche Berührung wirkt in einer ersten Folge in meine soziale Umgebung konstellierend hinein. Alte Gruppenzusammenhänge müssen sich zwangsläufig in dieser mehr karmischen Entwicklungsanforderung als überholt zeigen. ‚Karmisch‘ meint hier eine aus der Zukunft in die Gegenwart wirkende Entwicklungsintention. Entscheidend ist, wer sich mit wem wirklich in einer Entwicklungsbewegung befindet und diese konkret mitgeht. Das kann nicht moralisch voneinander gefordert werden. Das entwickelt sich anhand der menschlichen und sachlichen Verhältnisse als Realität und hat insofern eine gewisse Wahrheitscharakteristik. Das beinhaltet aber auch eine etwas unbürgerliche Schärfe in der Beziehungsentwicklung und auf der anderen Seite eine durchaus großzügige Unbedingtheit – „unconditional love“, wie es Jeff Bezos mal als eine notwendige Erfahrung für sich beschrieben hat. Nur eine solche intentionale Zukunftskraft ist aber in der Lage auch große Gegensätze und Unterschiede im Sein der einzelnen Menschen zu überspannen und aufzuheben und gleichzeitig die Wirklichkeit zu individualisieren.
In einem zweiten Teil werde ich versuchen die zentrale Erkenntnis- und Lebensfrage noch weiter zuzuspitzen. Es geht um den Unterschied zwischen ‚Psychologie‘ und ‚Mechanik‘.