Eine Psychologie des Ich

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Von links: Johannes Reiner, Wolf-Ulrich Klünker, Maria Tolksdorf, Roland Wiese

Eine Psychologie des Ich

Ein Bericht von Martina Rasch
Mit dem Begriff ‹Psychologie des Ich› markiert Wolf-Ulrich Klünker einen Übergang von einer Psychologie der Seele zu einer Psychologie des Individuums. Zum gleichnamigen Seminar kamen am 9. und 10. April 50 Teilnehmer in die Delos-Forschungsstelle für Psychologie in Eichwalde, Berlin (DE).

Die ‹Psychologie der Ich› vollzieht eine neue Stufe zur Verwirklichung von Menschlichkeit. Sie intendiert in sich selbst Ich-Kraft zur Gesundung von Seele und Leib, Natur und Welt und überwindet eine bloße Deskription gegebener seelischer und leiblicher Situationen.
Der tätige Geist: das Ich
Für Psychiater Johannes Reiner geht es um ein darstellbares Verständnis anthroposophischer Psychotherapie, um sie in der Öffentlichkeit identifizierbar zu machen. Elemente der anthroposophischen Psychotherapie wie Menschenkunde, Reinkarnation und Karma, kosmologische Aspekte und Schulung des Therapeuten seien zwar definiert, eine Gesamtgestalt allerdings würde fehlen.
Der Sozialtherapeut Roland Wiese überprüfte die auf das Ich bezogenen Leitsätze und Ich-Aspekte im ‹Heilpädagogischen Kurs› aus heutiger Perspektive. Das Ich wird über den Begriff von einem Geistigen, das sich einen Leib aufbaut und inkarniert, sowie über Symptome, die auf diesen Begriff zu beziehen sind, angegangen. Dieser Ansatz steht im Gegensatz zu einer Psychologie, in der Symptome auf sich selbst oder auf den Leib bezogen werden, nicht aber auf einen tätigen Geist (Ich), der diese Symptome «in einem gesunden Versuch, sich mit dem Leib verbinden zu wollen, unabsichtlich produziert». Krankheit und Behinderung lassen sich so als Intensivierung dieser Verbindungserfahrung mit dem Leib und damit als Bewusstseinsmöglichkeit des Ich begreifen. Dieses Denken des Leib-Seele-Zusammenhangs als Bewegungsmodell lässt Gesundheit und Krankheit grundlegend dynamisch begreifen, weil es weder den Leib noch den Geist isoliert betrachtet: Der Mensch ist entweder zu viel (‹Epilepsie›) oder zu wenig (‹Hysterie›) durch den Leib hindurch in der Welt inkarniert. Krankheit und Behinderung werden so individuell begreifbar. Die Ich-Wirksamkeit des Therapeuten stellte Roland Wiese exemplarisch anhand von Rudolf Steiners Tätigkeit als Hauslehrer im Hause Specht dar.
Entbundenheit als neue Ich-Situation
Die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Maria Tolksdorf beschrieb eine tiefe, seelische Einsamkeit und Notlage von Jugendlichen als Ausdruck einer neuen Ich-Situation. Über ein selbstverständliches, natürliches Eingebundensein in soziale Strukturen und Wertesysteme verfügen Kinder und Jugendliche ihrer Erfahrung nach heute nicht mehr. Vielmehr erleben sie sich orientierungslos und in Gefühlen von Leere und Einsamkeit auf sich selbst zurückgeworfen. Für eine neue seelische Eingebundenheit sei eine Sensibilität auszubilden, die als neue Empfindung ihren Ursprung im Denken hat und als Willenstätigkeit, einen Empfindungsraum gestaltet, der diese neue seelische Eingebundenheit ermöglichen kann.
Neuer Ich-Seelenbegriff
Wolf-Ulrich Klünker schloss die neue Psychologie in einem großen zeitgeschichtlichen Bogen an den wissenschaftlichen Diskurs an, beginnend mit Aristoteles über Johannes Scotus, Thomas von Aquin und Albertus Magnus, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Rudolf Steiner und wies auf einen entscheidenden menschenkundlichen Topos hin: die konstitutionelle Veränderung vom Ich zur ‹Geistselbst-Berührung des Ich›. Diese Veränderung ist Folgewirkung einer seit 100 Jahren untergründig wirksamen Anthroposophie (auch jenseits ihrer Inhalte) und zeigt sich existenziell in der Labilität, Einsamkeit und Isolation des Ich. Die vormals tragenden konstitutionellen, seelischen und sozialen Ich-Stützen fallen immer mehr weg. Das Ich muss sich jetzt auf sich selbst gründen. Aber wie? Wolf-Ulrich Klünker verweist auf die Begriffe und Erfahrungen des abstrakten Denkens und ihre Folgewirksamkeiten in der Empfindung (‹Empfindungsraum hinter dem Denken›) und auf den abstrakten Willen, der in diesem Empfindungsraum eine neue Willenswirklichkeit eröffnet.
Neue Forschungshorizonte
Zentraler Ausgangspunkt der Psychologie des Ich ist diese neue Empfindungsbildung, die aus eigener, geistiger Tätigkeit und eigenem, abstrakten Willen hervorgeht. Sie hat das Vermögen, eine neue Seelenhaftigkeit zu erzeugen, die im Selbstgefühl zum Ich-Träger wird, und zwar mit allen leiblichen, seelischen und sozialen Konsequenzen.
Im Hinblick auf Therapie, Selbstbild und Ursachenbegriff wird aus diesem Ich-Seelen-Begriff heraus psychologisch Neues zu realisieren sein. Auch werden sich aus ihm neue Forschungsaufgaben zum Beispiel in der Organologie und der Psychosomatik ergeben. | Martina Rasch, Horstedt (DE)

Der Bericht erscheint in Die Wochenschrift, Das Goetheanum, Anthroposophie weltweit.

Die dargestellten Ergebnisse werden im Herbst 2016 als Buch von Johannes Reiner, Wolf-Ulrich Klünker, Maria Tolksdorf und Roland Wiese im Verlag Freies Geistesleben erscheinen.

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