Die Welt der Wirkungen aus dem Ich und die Schöpfung aus dem Nichts
„Es ist etwas entstanden in der Menschenseele, was durch nichts Früheres bestimmt ist, was aus dem Nichts heraus entstanden ist. Solche Schöpfungen aus dem Nichts entstehen fortwährend in der menschlichen Seele.“
In einem Artikel von Johannes Kiersch fand ich einen Hinweis auf einen „ungewöhnlichen Vortrag“ Rudolf Steiners, in dem er „ jedes menschliche Ich als von nun an verantwortlich für die weitere Weltentwicklung proklamierte.“ In diesem Vortrag: „Evolution, Involution und Schöpfung aus dem Nichts“ vom 17.6.1909 (GA107) finden sich dann tatsächlich einige wichtige Gedanken zum Thema Ich-Entwicklung. Die Ich-Entwicklung wird in diesem Vortrag verknüpft mit der Welt-Entwicklung. Und in ganz einfacher Weise wird hier der Übergang skizziert aus einer Welt der kausalen Verknüpfungen und Gesetze, einer Welt der Tatsachen, in eine Welt, die (nur noch) aus den Zusammenhängen besteht, die das Ich selbst gebildet hat. Diese Welt der Ich-Zusammenhänge entsteht zwar auf der Basis der alten Tatsachen-Welt, aber sie ist eine vom Ich vorgenommene ‚Schöpfung aus dem Nichts‘. Dieser Gedankenzusammenhang selbst kann, wenn man damit länger umgeht, einen eminent therapeutischen Charakter haben – vor allem auf alle Anschauungen, bei einem selbst, und auch bei anderen, die die Diktatur der Tatsachen, Gesetzmäßigkeiten, Kausalitäten als permanent fortlaufend denken und für die es keinen Weg aus dieser Welt der Tatsachen heraus gibt. (Für die speziellere Perspektive von Sozialarbeit und Sozialtherapie, aber auch Therapie überhaupt, ist es natürlich eine wirkliche Blickerweiterung, wenn man mit dem was da als Ich-Schöpfung beschrieben wird, auf die Entwicklung eines anderen Menschen schaut).
Was macht der Mensch mit den Tatsachen, denen er gegenübergestellt ist? Er kann sie in dreifacher Weise umwandeln, erweitern: 1. Er kann die Tatsachen in einen neuen Denkzusammenhang bringen (mit Hilfe des logischen Denkens). Das heißt, er untersucht welche Beziehungen es zwischen den Tatsachen gibt. 2. Er kann etwas Gefühlsmäßiges an ihnen erleben – „Wohlgefallen“ oder „Mißfallen“. 3. Die äußeren Tatsachen regen ihn zum Handeln an. Die Anregung und das Handeln sind davon abhängig, welches Verhältnis der jeweilige Mensch zur Sache hat. Dieses Verhältnis ist dadurch auf jeden Fall individuell und kaum austauschbar. Diese drei Zusammenhänge bildet der Mensch mit Hilfe der Tatsachen, aber gleichzeitig damit über sie hinausgehend, sie ‚aufhebend‘ als Tatsachen und als reine Ursache-Wirkungs-Beziehung. Es entsteht durch diese Ich-Tätigkeiten eine Welt aus dem Nichts, die zu der Welt, die schon vorhanden ist, dazukommt. Es gibt also Erlebnisse aus Tatsachen, und es gibt Erlebnisse, die sich aus der individuellen Beziehung zu den Tatsachen ergeben. Man muss sich nun vorstellen, dass es eine Wirklichkeit geben wird, die nur aus solchen Ich-Erlebnissen besteht, während die alte Tatsachenwirklichkeit immer mehr wegfällt (sie wird ja nicht mehr gebraucht). Das Ich erschafft (sich) so eine „Welt der Wirkungen“, während die Welt der alten Ursachen verschwindet. Eine Welt, die vom Ich ausgeht und die sich dadurch ständig verjüngt (die Vorstellung der Entropie gilt dementsprechend nur für die Welt der Tatsachen). Irgendwann hat das Ich alles „abgestreift“, was ihm einmal zur Verfügung gestellt worden ist und trägt nur noch das an sich, was es sich selbst erarbeitet hat, was es aus dem Nichts heraus gebildet hat. (Diese Welt h at das Ich jetzt schon als sein Eigen, wenn es nach dem Tod die äußere Welt abgestreift hat).
Jeder Mensch ist potenziell dazu in der Lage Beziehungen zwischen den Dingen zu untersuchen und zu denken, ist in der Lage ästhetische Urteile zu haben, kann sich zu Handlungen entschließen, die sich aus seinem Verhältnis zu der jeweiligen Sache für ihn ergeben. Damit ist er in einer anderen Lage als das Tier, dass nahezu vollständig an die Tatsachen seiner jeweiligen Welt gebunden ist. Diese Ur-Produktion des Menschen ist für die Entwicklung der Welt wichtig und notwendig. Man könnte etwas apodiktisch formulieren die Gesamtheit aller individuellen Gedankenzusammenhänge oder Denkmöglichkeiten, die Gesamtheit aller ästhetischen Gefühle, die Gesamtheit aller Willenshandlungen macht das aus, was man den ‚Zeitgeist‘ einer bestimmten Zeit nennen könnte. Diese menschlichen Verhaltensweisen bestimmen immer mehr die gesamte Wirklichkeit. Sie können sie damit bereichern und entwickeln, aber sie können sie auch verarmen und hässlich werden lassen. Auch diese menschlichen Möglichkeiten werden Teil der neuen Wirklichkeit. Eigentlich leben wir schon heute in dieser Wirklichkeit, in der alles, die ganze Weltentwicklung, von den Beziehungen der Menschen zu den Tatsachen abhängt. Denn es sind immer weniger die Tatsachen, die mich durch mein Leben tragen, als mehr die Zusammenhänge, die ich immer wieder neu bilden muss. Der Mensch war früher noch in Zusammenhänge eingebunden, in denen die Tatsachen ein Baustein waren, das Tragfähige war aber der Gesamtzusammenhang. Solche tragfähigen Zusammenhänge, die von außen gegeben sind, haben heute aber das Problem, dass sie die Ich-Kraft der Menschen unterfordern, insofern wirken sie meist pathogen, ich-schwächend, oder sie wirken gar nicht mehr, weil die in ihnen wirkende geistige Kraft inzwischen in die Menschen übergegangen ist. Die von alten Zusammenhängen entbundenen Tatsachen warten heute immer mehr darauf von individuellen Menschen eine Bestimmung zu erhalten.
Therapeutisch für das eigene Erleben (und damit auch für die Wirklichkeit) wäre es, sich diese Umkehrung der Verhältnisse klarzumachen, weil damit auch die kleinste individuelle Entwicklung des einzelnen Menschen in seinen Denkmöglichkeiten, Empfindungsmöglichkeiten und Handlungsmöglichkeiten nicht nur für diesen selbst heute wirksam wird, sondern auch einen Beitrag zu der gemeinsamen Wirklichkeit leistet, die aus der Ich-Entwicklung hervorgeht. Der Maler Per Kirkeby hat das einmal sehr einfach ausgedrückt. In seiner Selbstbefragung, warum er denn noch Bilder malen solle, wo es doch schon so viele Bilder gibt, fand er für sich die Antwort: Aber meine Bilder gibt es noch nicht!
Roland Wiese 2.3.2019