Wer wirkt, tastend?

 

In einem kleinen Forschungskreis arbeiten wir an der Frage der Sinne. Insbesondere der Zusammenhang der Sinne mit dem Ich, aber auch die Entwicklung der Sinne aus dem Ich ist Gegenstand unserer Gespräche. Am Sonntag den 9.8.2020 haben wir in Bonn bei Albrecht Kaiser an diesen Fragen weiter gearbeitet. Daraus haben sich für mich wieder einige weiterführende Forschungsfragen ergeben. Albrecht Kaiser ist praktizierender Osteopath und forscht und unterrichtet zu den historischen und therapeutischen Grundlagen dieser Praxis. Sein Ziel ist es eine Sprache für eine therapeutische Erfahrungslehre zu bilden, die diese auch für die Wissenschaft zugänglich macht und umgekehrt die Wissenschaft mit den Erfahrungen dieser Praxis zu berühren. Im Hintergrund geht es dabei immer um Frage, welches Menschenbild sich aus der Praxis ergibt, bzw. diese Praxis erst ermöglicht. Er hat eine Dissertation verfasst, die auch als Buch erschienen ist: ‚Die Wirklichkeit der Osteopathie, Studie zu einer am Leib orientierten Anthropologie‘ (Erschienen im Peter Lang Verlag, Berlin 2018) Ich möchte im Folgenden versuchen diese Anthropologie in Beziehung zu bringen zu einer aktuellen ‚Anthroposophie‘. Es kann dies nur ein erster tastender Versuch sein. Dieser Versuch wird dadurch erschwert, dass es immer kompliziert ist, ein konkretes Feld, wie z.B. die Osteopathie, mit eigener Geschichte und Begrifflichkeit und eigenen Binnenregeln und Sprechweisen von außen mit ‚fremden‘ Begriffen zu befragen. Noch schwieriger wird es, wenn man davon ausgeht, dass die Osteopathie eigentlich einer Weiterentwicklung bedarf, weil ihr historisches Fundament heute als Begründung nicht mehr ausreicht. Das ist auch daran zu erkennen, dass die Osteopathie, wie viele andere Therapieformen, auf der Suche ist nach Wirksamkeitsnachweisen. Dies gestaltet sich bei Therapieformen dieser Art generell als problematisch, da zunehmend nur noch große Studien mit signifikanten statistischen Nachweisen als relevant angesehen werden. Solche Nachweise sind aber bei individueller Behandlung generell unmöglich. Will man einen anderen Weg gehen, um Wirkung und Wirklichkeit einer therapeutischen Methode zu erforschen, und Albrecht Kaiser sucht in seiner Studie einen solchen Weg, muss man tiefer und gründlicher ansetzen.

Albrecht Kaiser versucht dies, indem er versucht die eigentlich nicht sprachliche Erfahrung des Therapeuten zu versprachlichen. Dies unternimmt er in zweifacher Weise. Erstens durch Befragung und Protokollierung der (subjektiven) Erfahrungen der Therapeuten selbst, zweitens mit Hilfe der Wahrnehmungsphilosophie (insbesondere Merleau-Ponty) um die Wahrnehmungen, die in der Berührung erfahrbar werden, auch generell verstehen zu können. Der dritte Schritt ist dann der Versuch eine Osteopathie des 21. Jahrhunderts zugänglich werden zu lassen. Dabei geht es dann um das Verständnis der Heilung als Selbstregulation, aber auch um die Frage einer speziellen Sprache für die Osteopathie mit Hilfe der Semiotik, also der Sprache der Zeichen. Albrecht Kaiser hat aber auch im 3. und 4. Teil seiner Studie die Geschichte der Osteopathie untersucht, um verstehbar zu machen, in welchen Grundannahmen, aber auch in welchen historischen Bedingungen, die Osteopathie von ihren Begründern entwickelt wurde. Mein eigener Versuch wird an genau dieser Stelle ansetzen. Ich habe den Eindruck, dass in den damals entwickelten Konzepten und Erfahrungen von Andrew Taylor Still und John Martin Littlejohn ein Ansatz enthalten ist, den es sich lohnt aus heutiger Perspektive freizulegen. Eine solche Freilegung würde auch über die Osteopathie hinauswirken können, und auch diese aus einer gewissen Verengung herausführen können, ohne das die therapeutischen Möglichkeiten verloren gehen müssen. Mein Ansatz in diese Schicht der eigentlichen Wirkung hinein kann allerdings nur punktuell sein, in gewisser Weise der Osteopathie ähnelnd, tastend (für die systematische Untersuchung sei auf das Buch von Albrecht Kaiser verwiesen).

Da der Aufsatz sehr lang ist, füge ich ihn hier als PDF an. Man kann ihn dann auch in Papierform lesen.

Wer wirkt, tastend

16.8.2020

 

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Der Fluss des Lebens – Lebensmechanismus und Lebensflüssigkeiten

Andrew Taylor Still (1828-1917) ist der Begründer der Osteopathie. Ihre Entwicklung setzt er selbst für das Jahr 1874 an. Sein zentraler Ansatz ist es nicht von einzelnen festgelegten (deskriptiven) Krankheiten auszugehen, sondern die Ursachen der (äußeren) Krankheiten in einer „verringerten oder verstärkten Nervenaktion“ zu sehen, „welche die Flüssigkeiten in Teilen oder im Ganzen des Körpers steuert.“ (S. 77) Es geht um das „Versagen der Nerven“, „die Lebensflüssigkeiten vernünftig zu steuern“ (ebd.). Still sagt explizit, dass er auf diesen zentralen Ansatz die Osteopathie errichtet hat und sich dieser für ihn auch in der Praxis (damals seit 25 Jahren) bestätigt hat. Albrecht Kaiser zeigt in seiner Arbeit den Zusammenhang dieses Ansatzes mit der Geist- und Seelenanschauung Swedenborgs auf. Bei ihm findet sich ebenfalls der Zusammenhang eines (ein)fließenden Seelischen, dass dann über die Flüssigkeiten dem Körper das Leben mitteilt. “Die Seele fließt in den menschlichen Verstand und durch ihn in den Körper – und bringt ein Leben mit sich, das sie beständig vom Herrn empfängt. So teilt sie das Leben indirekt dem Körper mit, worin sie durch eine sehr vertraute Vereinigung die Erscheinung schafft, dass der Körper lebendig ist.“ (S.83) Eine andere Stelle: „Die Seele ist die universale wesentliche Struktur des menschlichen Mikrokosmos bzw. Körpers. Sie ist universal gegenwärtig, mächtig, aktiv, bewusst, vorhersehend im gesamten Körper und seinen Organen“ (ebd.). Dies klingt durchaus ähnlich, wie Aristoteles und später die Scholastik die Seele im Verhältnis zum Organismus charakterisiert: anima forma corporis – oder die Seele ist die Form des lebendigen Organismus. Die Seele selbst lebt aus ihrer Beziehung zum Geistigen: Scientia forma animae (Thomas von Aquin in ‚Die Einheit des Geistes‘) Also die Wissenschaft, das Wissen, ist die Form der Seele. Im 18. Jahrhundert vollzieht sich der Übergang dieser mehr begrifflichen Wissenschaft vom Menschen in eine stärker empirische. Swedenborg hat nicht nur eine bestimmte spirituelle Anschauung versucht zu vermitteln, er hat auch die Verbindung ins Stoffliche gesucht. (Er hat z.B. auch Sektionen an Leichen durchgeführt). Man hat in dieser Zeit verstärkt nach den organischen Repräsentationen der seelischen Kräfte gesucht. Swedenborg hat einen solchen Vermittler in der Gehirnflüssigkeit gesehen. Diese wird als eine ‚geistige Flüssigkeit‘ angesehen: „Zum Zwecke der Vorbereitung des Blutes hat die Seele im Zerebrum ein erlauchtes chemisches Laboratorium, die sie in Elemente und Organe angeordnet hat. Durch dessen Dienst destilliert sie eine Lymphe und arbeitet sie heraus, die durch den seelischen Geist belebt wird und wodurch sie das Blut mit ihrer eigenen innersten Essenz, Natur und dem entsprechenden Leben inspiriert.“ (S. 84) Die Gehirnflüssigkeit, die im Unterschied zum Blut noch farblos und transparent ist, wird als Vorstufe der Blutentstehung angesehen und in dieser Form ist sie noch empfänglich für den seelischen Geist.“ Man kann den Versuch bemerken eine Verbindung zwischen Seele und Körper festzumachen. Dabei geht es im Gegensatz zu einem Substanzdualismus (wie ihn Descartes zu dieser Zeit vertritt), der unterscheidet zwischen ausgedehnter Substanz (Natur) und denkender Substanz (Geist) und eigentlich keine Verbindung zwischen beiden herstellen kann, darum, eine Brücke zu finden zwischen Seele und Leib. Swedenborg leitet dabei die, wie sich gezeigt hat, nicht unberechtigte Sorge, dass ein solcher Dualismus auseinanderfallen könnte in einen geistfreien Materialismus und eine leibfreie Religion. Aber auch sein Versuch des geistigen Menschenverständnis war fragil und hat trotz seiner Warnungen mit dazu geführt z.B. den Spiritismus zu fördern, also geradezu eine Materialisierung des Geistigen. Die Verbindung ist also nicht so leicht herzustellen und zu konkretisieren. Albrecht Kaiser deutet in seiner Darstellung an, dass der Bezug auf das Flüssige, den Fluss und das sich Verteilen im Leib einen gewissen Schutz vor einer solchen problematischen Substanzauffassung bieten kann, weil man mit ihrer Hilfe mehr in die Prozessualität des organischen Geschehens hineinkommen kann. Aufgelöst wird diese Problematik auch in der Osteopathie Stills nicht wirklich. Und diese ungelöste Frage des Überganges einer nichtkörperlichen Seele in einen körperlichen Organismus bleibt bis heute als Problem erhalten und wird mit allen möglichen Kompensationsversuchen umschifft. Gleichzeitig leben wir heute in den Folgen des Substanzdualismus von Descartes und betrachten mit diesem Hintergrund die Welt um uns herum und auch die entsprechenden medizinischen Konzepte. Man kann die Welt schon gar nicht mehr anders denken, wobei sich heute als erlebte Subjekt/Objekt Spaltung zeigt, was damals eine philosophische Frage war.
Der Fluss des Lebens fließt für Still in einem Körper, der als lebendiger Mechanismus verstanden wird. „Dies führte ihn zur Betrachtung der Flüssigkeiten des Körpers und des Nervensystems und dessen Fasern und Reflexzentren als zentralem Distributions-Mechanismus.“ Störungen in diesem zentralen Verteilungssystem führen dann zwangsläufig dazu, dass die entsprechenden Teile des Körpers aus dem Gesamten herausfallen und damit zur „Dislozierung und der Dysfunktion“ der entsprechenden Bereiche. Die Diagnose kann nach Still dann so vorgenommen werden, dass nach Abweichungen vom Normalzustand durch die Palpation, das Tasten, gesucht wird. Das Mittel die Störungen zu bemerken, ist die Palpation; das Mittel die Störungen zu beseitigen ist ebenfalls die Palpation, sie ermöglicht wieder den freien Fluss der „Lebensflüssigkeiten“. Der Therapeut braucht also „einen sehr gut ausgebildeten Tastsinn, eine gute Verbindung mit dem Sehsinn, ein klares mentales Bild des Normalzustandes, die Beherrschung der Schlussfolgerungsprozesse, sehr gutes anatomisches, physiologisches und chemisches Wissen, die Fähigkeit, dem Patienten als Symptomatologen zuzuhören. Das Konzept der Lebensflüssigkeiten in einem lebendigen Mechanismus muss, damit es nicht zu einer rein „technischen Praxis“ führt, mit dem „Konzept der actio palpationis als Kunstlehre verbunden“ werden, „welches Störungen der Aktion der Nerven sowohl erkennen als auch beseitigen kann ( Albrecht Kaiser S.101). Mit ‚Kunstlehre‘ ist eine Erfahrungswissenschaft gemeint. Der Therapeut generiert aus den einzelnen Wahrnehmungen Erfahrungszusammenhänge. Solche Erfahrungszusammenhänge werden dann zu ‚Organen‘ für wissende und gleichzeitig unterscheidende neue Wahrnehmungen. Ein solcher Prozess ist gleichermaßen horizontal zu denken, also immer größere Zusammenhänge einbeziehend, wie vertiefend, also immer tiefere Wirklichkeitsschichten erfahrend. Es sind solche Prozesse, die in der Nikomachischen Ethik von Aristoteles so charakterisiert werden, dass man sich bestimmte Fähigkeiten nur durch Ausübung erwerben kann. Ein guter Kithara-Spieler wird man nur durch Kithara spielen. Die Tastwahrnehmung des Osteopathen ist in diesem Sinne gar keine Tastwahrnehmung mehr. Sie nutzt das Tasten nur um ein umfassendes und vertieftes Wahrnehmen des Organismus des Patienten zu ermöglichen. Dies wird auch deutlich in den Schilderungen konkreter Tastprozesse am Patienten, die Albrecht Kaiser in seinem Buch untersucht. Mit Hilfe der Tastwahrnehmung steigen im Therapeuten vielfältige Wahrnehmungen und Empfindungen und Gedanken auf. Die Schulung und Erfahrung machen nun aus diesen vielfältigen Wahrnehmungen sinnvolle Erkenntnisse. Das Tasten setzt insofern zwar an der äußeren Berührung des Menschen an, dringt aber mit Hilfe des vertieften Tastens in die elementaren Verhältnisse des Organismus ein. Die elementaren Verhältnisse des Körpers sind die Grundbausteine des Organismus. Sie sind der Ausdruck dessen, wie das Ich in der Mischung der Elemente sich einen lebendigen Organismus aufbaut. Das Ich lebt in der inneren Formung der Elemente. Mit dem Tasten erfährt der Tastende nicht nur etwas über den äußeren Gegenstand und seine Oberfläche, sondern er erfährt beim lebendigen Menschen etwas darüber, wie die Druckverhältnisse, die Strömungsverhältnisse, die rhythmischen Verhältnisse (also die Atmungs- und damit Luftprozesse) sich in diesem konkreten Körper vollziehen. Er erfährt auch, und das ist ein ganz eigener Bereich, wie sich die Wärmeverhältnisse in diesem Organismus zeigen.

Das Tasten in dieser Lebenswirklichkeit ist aber nur möglich, wenn der Tastende dies mit Hilfe seiner eigenen Elementarverhältnissen unternimmt. Das bedeutet, mit den eigenen Druckverhältnissen, den eigenen Strömungs- und Pulsationsverhältnissen und natürlich mit den eigenen Wärmeverhältnissen. Ein lebendiger Organismus nimmt einen anderen lebendigen Organismus wahr. An der Tastgrenze der Haut dieser beiden Körper entsteht nun das Paradox, (das Albrecht Kaiser mit dem Begriff des ‚Chiasmus‘ kennzeichnet), dass die Berührung des anderen Menschen immer auch eine Selbstberührung ist. Der Berührende erfährt in der Berührung sein eigenes Sein bewusster als ohne diese Berührung. In der Berührung eines lebenden Organismus erfährt er dementsprechend sein eigenes Sein als lebendiger Organismus. Dabei ist der feine Unterschied zu beachten, dass in der Berührung eines unbelebten Gegenstandes die erste Rückstrahlung des eigenen Seins ein Stauungsprozess ist. Das eigene pulsierende Leben trifft auf ein nicht lebendes Gegenüber. Dieser Unterschied führt zu der Wahrnehmung, das der Gegenstand unbelebt ist (weil der Berührende sein eigenes Leben wahrnimmt, dass auf sich selbst zurückgeführt wird). Beim Berühren eines lebendigen Menschen trifft aber der eigene ‚Druck‘ auf den ‚Druck‘ des anderen Menschen, das eigene Pulsieren auf das Pulsieren des Berührten, die eigenen Wärmeverhältnisse auf die Wärmeverhältnisse eines anderen Menschen. Frage und Antwort sind hier ähnlich und unterscheiden sich doch. Mit dem eigenen ‚Leben‘ wird das ‚Leben‘ des anderen Menschen wahrgenommen. Voraussetzung dafür, dass eine solche wahrnehmende Empfindung auch bewusstseinsfähig wird, ist, dass der Berührende einerseits sich in die Berührung des anderen Körpers (träumend) hineinleben kann, und gleichzeitig den gesamten Prozess mit wachem Bewusstsein denkend begleiten kann. Eine solche Wahrnehmung ist aber nie ein reiner Abbildprozess. Lebendiges kann in diesem Sinne nicht abgebildet werden. Das Lebendige vollzieht sich als Geschehen in der Zeit und kann nur angehalten werden durch den Tod. Insofern ist auch kein reines Subjekt-Objekt Verhältnis in einer solchen Wahrnehmung zu erwarten. Der Wahrnehmende und Empfindende verändert schon in der Berührung die Elementarverhältnisse des eigenen und des anderen Organismus. Das Wahrnehmen und Empfinden des Lebens, modifiziert dieses Leben. Diagnose und Therapie oszillieren ineinander. Es gilt hier das alte Prinzip, das Schelling einmal so formuliert hat, das Leben kann man nur erkennen, indem man neues Leben schafft. Schelling bezog das auf etwas, das er ‚Natur‘ nannte. Das neue Leben ist in diesem Fall die Verbindung von Berührendem und Berührten in der Berührung. Es entsteht ein Übergangs-Leben zwischen beiden. Ein Leben, das aus der Verbindung und gleichzeitig aus dem Unterschied der Relation entsteht. Dieses Übergangs-Leben existiert natürlich nur in der Wirklichkeit der Beziehung zwischen diesen beiden Menschen, es ist dadurch potenziell und wirklich zugleich. Es realisiert sich erst insoweit es in den einzelnen Leben Folgen der Veränderung hat.

 

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Das Ich in den Elementen

Die elementare Wirklichkeit des Organismus ist sinnlich erfahrbar, sie ist aber gewissermaßen nur die Endstufe von Prozessen, die sich den Sinnen nicht zeigen. Ein wirkliches Erkennen der Elemente setzt voraus, dass ich zu dem elementaren Geschehen begrifflich hinzufüge, was sich in ihnen realisiert, ansonsten besteht die Gefahr, dass man im Einsteigen in die elementare (sinnliche) Wirklichkeit von den Kräften dieses Geschehens mitgerissen wird. Dies war in den alten Mysterien Einweihungen, aber auch aber natürlich auch weitergehend in den Erkenntnistheorien der Philosophie immer Thema. Rudolf Steiner hat diese Thematik neu aufgegriffen und dargestellt. Insbesondere in den ‚Mysteriendramen‘, in denen geschildert wird, wie ein solcher Einweihungsprozess (in den schon dekadent gewordenen ägyptischen Mysterien) falsch läuft, weil dem Hierophanten in der entsprechenden elementarischen Situation vom Begleiter nicht der dazugehörige Begriffszusammenhang gegeben wird. Rudolf Steiner hat diese Wirklichkeiten für die damalige Gegenwart (1924) versucht neu zu fassen. Insbesondere in den Vorträgen und Mantren der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft kann man solche Versuche finden. Ein solcher Versuch, der für unseren Zusammenhang weiterführend sein kann findet sich in der Stunde vom 22. April 1924. Denn in den dortigen Mantren findet sich eine Anleitung, die das Empfinden für die Elemente begrifflich leitet und die deutlich macht, dass im lebendigen Organismus in den Elementen etwas formend und bildend wirkt. Dieses Wirkend geht über den reinen sinnlich erfahrbaren Elementarprozess hinaus; es ist aber auf den jeweiligen Elementarprozess spezifisch bezogen.
Steiner weist in der erläuternden Stunde darauf hin, dass der Mensch als Kind ein einziges großes vibrierendes Sinnesorgan ist, das in diesem Mitvibrieren mit seiner Umgebung intensiv verbunden ist. „Das Kind nimmt alles, was in seiner Umgebung geschieht, so wahr, wie wenn sein ganzer Körper Sinnesorgan wäre. Deshalb macht es alles nach, weil alles weitervibriert in ihm und wiederum in derselben Weise, wie es in ihm vibriert, durch seinen Willen aus ihm heraus will.“ Der Leib des Kindes ist noch so ‚flüssig‘ und in Entwicklung, dass er in den ersten Lebensjahren noch kein festes Widerlager gegenüber den Sinneswahrnehmungen bietet, sondern mehr ein mitlebendes Organ ist. Das Kind spiegelt also nicht die Umwelt in seinen Sinneswahrnehmungen, sondern es lebt sie mit. Je mehr das Kind sich dann in die Schwerkraft hineinstellt, durch das Stehen und Gehen, desto mehr „hört das intime Sinne-Sein des Kindes auf“. Es gliedert sich immer mehr das Sinnesleben des Kindes auf in das in den unteren Sinnen aktiv tätige Ich und das in den oberen oder äußeren Sinnen anscheinend passiv erlebende Bewusstsein. In dieser Ur-Form des intimen Mitlebens der Umgebung, die dann im weiteren Verlauf verloren geht, ist gleichzeitig ein Modell gegeben, dass auch dem erwachsenen Menschen den Weg aufzeigt, wie er wieder in eine solche, nun aber vollbewusste Verbindung mit der Umgebung kommen kann. Die Formulierung bei Steiner ist erstaunlich: Er verlangt, dass „wir uns als Tastorgan erleben, als ein einziges großes Tastorgan, das unser ganzer Leib ist.“ Die nahezu unbewusst verlaufende Sinnestätigkeit der unteren Sinne wird ins Bewusstsein des Erlebens gehoben – und dadurch wird ein Prozess angestoßen, der immer weiter zurückführt auf denjenigen der tastet. Der erste Schritt in dieses Tasten hineinzukommen besteht darin sich denkend und empfindend klar zu machen, das man nicht nur tastet, wenn man etwas bewusst anfasst, man also über den Druck die Oberfläche eines Gegenstandes wahrnimmt. „Sie tasten in Wirklichkeit fortwährend, indem Sie durch Ihren ganzen Körper von oben nach unten sich auf die Erde stellen und die Erde mit ihren Fußsohlen betasten.“ Dieses unbewusste Tasten kann nun in die Beobachtung gestellt werden. Dann kann man bemerken, wie man in den Erdenkräften eine „Stütze“ für das eigene Dasein hat. Wie der Mensch in diesen Erdenkräften unbewusst tastend „drinnensteht“, das gibt ihm ein Gefühl des Seins – durch den Rückstoß des Tastens. Man kann sogar noch weiter gehen, das gesamte Erleben von Ganzheiten auch von anderen Gegenständen, also ihr Sein, ist abgeleitet von diesem Grundgefühl menschlichen Körperseins. Ein solches Empfinden ist aber ohne den entsprechenden begrifflichen Zusammenhang nicht freizulegen; der begriffliche Zusammenhang muss aber auch real erlebt werden.
Eine zweite Stufe des inneren Erlebens ist dann das Tasten selbst in die Beobachtung zu nehmen. Was tastet da in den Erdenkräften. Steiner beschreibt dieses Tasten selbst als die „vibrierenden Wasserkräfte“, „die Flüssigkeitskräfte“, die als Blut und andere Flüssigkeiten im Körper „wellen und weben“. Auch dieses „wellen und weben“ vollzieht sich normalerweise unbewusst, es wird im Alltagsbewusstsein nur da bemerkbar, wo es zu einem stärkeren Pulsieren kommt, weil es sich an einer Stelle staut. Würde der Mensch nur in den Erdenkräften stehen, ohne die Flüssigkeitskräfte, würde es ihm so gehen wie dem Stein, er würde zerfallen. Die Flüssigkeitskräfte sind im Gegensatz zu den vertikalen und punktuellen Erdenkräften Zusammenhangskräfte, sie hängen zusammen mit dem was Steiner als ‚Äther‘ bezeichnet. „Die Wasserkräfte, welche in uns sind, die bilden uns eigentlich zu dem gestalteten Menschenleib aus dem Weltenäther heraus.“
Eine dritte Stufe wird dann so geschildert, dass man sich in dasjenige versenkt, „was das in der Flüssigkeit webt und lebt. Wir können das innerlich fühlen, dann, wenn wir zum Beispiel den Atem fühlen. Dann werden wir entdecken, wie wir als Menschen aus den Wesen des Atmens, aus den Wesen der Luft heraus fortwährend gepflegt werden.“ Die Unterscheidung mit Hilfe der Begriffe führt dazu, dass das sinnliche Erleben der Elemente sich differenziert und gleichzeitig in der Differenzierung der einzelnen Kräfte deren spezifische seelisch-geistige Wirkung bemerkbar wird: Stützen, Bilden, Pflegen.
Diers ist auch auf der vierten Stufe so, das ist da, „wo wir uns innerlich durchwärmt fühlen, wo wir aufmerksam werden auf unsere eigene uns erfüllende Wärme, die im Atem, die in allem lebt, was luftförmig ist in uns. Denn nur durch dasjenige, was luftförmig in uns webt und lebt, wird die Wärme in uns, die uns auch körperlich verinnerlicht, in uns erzeugt.“ Die Wärme nimmt für Rudolf Steiner als Element eine Sonderstellung ein. Dies zeigt sich schon an der Charakterisierung der Wärme als etwas, das uns auch körperlich verinnerlicht. Die Wärme bezeichnet er als ‚Helfer‘. Während die anderen drei Elemente nur erlebt werden können, also mit dem Tastgefühl die Erdenkräfte, dem Erleben die plastischen Wasserkräfte und dem Erfühlen die pflegenden Luftkräfte, kann die Wärme mit dem Denken durchdrungen werden und ist die Wärme auch selbst durchdringend. Steiner betont sogar, dass der gesamte Organismus, bis in die Differenzierung der Wärme der einzelnen Organe vom Gedanken durchdrungen werden kann, weil der Gedanke im Übergang in die Wärme diese zur ‚Flamme‘ macht, zum ‚Feuer‘ macht. Die Wärme wird durchleuchtet. Der Gedanke durchleuchtet „sich differenzierend in die verschiedenen Farbnuancen hinein, die einzelnen Organe.“ Im strömenden Fühlen ist diese Feuerkraft selbst als ‚Helfer‘ zu erdenken.
Steiner hat mit dieser Aktualisierung und Erneuerung der antiken Elementenlehre ein Gegenbild zu einem rein materiell atomistischen Körperverständnis geschaffen. Dabei werden die Elemente, Erde, Wasser, Luft und Feuer und ihre Kräftewirkungen auf den Menschen bezogen. Der Mensch erlebt nicht allein das elementare Geschehen, sondern die darin wirkenden Kräfte, die ihm selbst als Grundlage dienen. Er kann die Funktion der Kräfte erleben, Stütze zu sein, plastische Bildekraft, Pfleger im Atem, und im Feuer „haben wir nicht nur Pfleger, sondern Helfer, Kameraden, Wesen, die gleichgeartet sind mit uns.“ Ein solches Durchfühlen des Leibes ist die erste Stufe weiterer solcher Durchfühlungsmöglichkeiten.
Während alle äußeren technischen Möglichkeiten scheinbar das Innere des Menschen durchleuchten, in Wirklichkeit aber immer nur äußere Prozesse oder Gegenstände abbilden, ist mit der hier geschilderten Methode das wirkliche menschliche Innere erreichbar. Diese Tatsache ist sowohl erkenntnistheoretisch wichtig für weitere Beurteilungen von Erkenntnismethoden des Lebens und des Seelischen, sie ist aber auch ganz deutlich diagnostisch und therapeutisch von grundlegender Bedeutung.

 

3
Fazit

Die Wirklichkeit der Osteopathie und anderer ähnlicher Therapien könnte insofern darin gründen, dass der Therapeut durchaus die Möglichkeit haben kann, diese von innen zu erlebenden Prozesse von ‚außen‘ zu erleben, oder auch mitzuerleben. Er erlebt den sich innerlich in seinem Erleben und Fühlen bildenden Menschen. Er kann dies durch sein Tasten freilegen. Dabei kann er das Ineinander weben der Elementarwirkungen bemerken, sowohl in seinem gesunden Zusammenwirken wie in seinen Störungen. Dies wäre die unterste elementare Schicht des Organismus und sie wird hier nur deshalb so ausführlich geschildert, weil diese der Eingang ist auch zu weiteren, tieferen Schichten der Individualität oder Entelechie des anderen Menschen. Denn ähnlich wie hier die elementaren Schichten unterschieden und damit freigelegt wurden, können natürlich auch die in diesen, also im Organismus wirkenden seelischen und geistigen Schichten freigelegt werden. Denn diese sind ja die eigentlichen ‚Formkräfte‘ im lebendigen Organismus. Mit der wichtigen Unterscheidung, dass der Gedanke den Organismus durchleuchtet und durchfeuert ist schon angedeutet, dass der Organismus sich in diesem Denk/Feuerprozess, also einem Licht/Wärme Geschehen durchorganisiert und durchfühlt. Dabei wirken natürlich nicht nur bewusste meditative Gedankenausrichtungen in diese Schicht hinein, das Denken wirkt immer über den Wärmeprozess in die gegenseitige Wahrnehmung der Organe (und mit Organe sind hier alle funktionellen Einheiten gemeint) und damit in deren elementare Einbindung und Grundlegung. Man könnte den Organismus etwas überspitzt als die Rückseite des individuellen Denkens bezeichnen. Dabei werden die Formkräfte der Gedanken zu Empfindungskräften des organischen Lebens. Das setzt aber voraus und bedeutet zugleich, dass der Inhalt des Denkens nicht an sich von Bedeutung ist, sondern der innere Bezug des Denkenden zu seinen Gedanken (Inhalten). Die durchdringende Wirkung des Gedankens als Licht-Wärme-Formung und Empfindung ist abhängig von einem ebensolche Wärme-Licht Prozess im Denken. Ansonsten wird das Denken den Organismus nicht als Empfindungskraft durchdringen, sondern an den Elementen abprallen. Es trennen sich dann Elementarwirklichkeit und Bewusstseinsprozess tendenziell.
Die äußerlich tastende therapeutische Berührung kann hier modellhaft, das heißt überbrückend und übergänglich einen ersten Ansatz für eine neue innere Selbstberührung und Durchdringung anlegen. Sie kann vor allem auch vorhandene Läsionen oder auch Störungen wieder empfindend in den Fluss bringen. Denn nach dem oben aufgezeigten Organismus Verständnis sind sowohl die Stützwirkungen des Physischen, wie die plastischen Bildekräfte des Flüssigen usw. ansprechbar und ineinander verwoben und miteinander verbunden. Die Gründer der Osteopathie haben mit ihrem Denken über den lebendigen Organismus eine gute Grundlage gelegt, die aber aus einem aktuellen Verstehen heraus erweitert und vertieft werden können. Die Monografie von Albrecht Kaiser hat eine erste Stufe dieser zu erarbeitenden Wirklichkeit der Osteopathie freigelegt, den Übergang von den Gründern durch die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Wissenschaftsentwicklung des 20. Jahrhunderts hindurch bis ins 21. Jahrhundert hinein. Es erscheint aus heutiger Sicht wichtig, dass sich ein medizinischer Weg bis in die Gegenwart erhalten konnte, der einen Zugang zum Inneren des Menschen, das heißt zum lebendigen Organismus sucht und diesen verbindet mit der Individualität des Therapeuten. Aber dieser Weg ist in seiner Entwicklung davon abhängig, ob es gelingt einen differenzierten Begriff dieses inneren menschlichen Organismus zu bilden, der in der Lage ist diesen individuell weiterzuentwickeln.

Roland Wiese 15.5.2020

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