„Der Tod- die andere Seite des Lebens“

„Jede Seele ist unsterblich; denn das stets Bewegte ist unsterblich. Was aber ein anderes bewegt und von einem anderen bewegt wird, das hat, sofern es ein Aufhören der Bewegung hat, auch ein Aufhören des Lebens.“ Platon, Phaidros

Gestern, am Gründonnerstag, hatte ich seit längerer Zeit mal wieder eine Supervision mit Ehrenamtlichen der Hospizarbeit. Während des intensiven Austausches sagte eine Teilnehmerin, ich solle das doch einmal aufschreiben, was hier besprochen wurde, bzw. was ich mit ihnen an der Grenze des Sagbaren erarbeitete. Das ist natürlich nicht eins zu eins möglich, weil wir an konkreten einzelnen Situationen gearbeitet haben. Aber umso wichtiger erscheint es mir, unabhängig von den einzelnen Fällen (aber mit ihnen im Hintergrund),  einmal einen größeren Zusammenhang zu versuchen zur Frage des Umgangs mit dem Tod. (Praxis-Hintergrund dafür ist meine zunehmende Supervisionsarbeit seit 2015 im Bereich der Hospizarbeit). (Anbei der Aufsatz als PDF)

Die Hospizbewegung ist eigentlich eine Bürgerbewegung, wie sie viele im 20. Jahrhundert entstanden sind, die sich um eine Not kümmern, die ohne eine solche Bewegung, meist übrigens global, keine Heimat hätte. Hier seien nur exemplarisch Amnesty International, oder auch Greenpeace genannt, aber die Zunahme dieser freien Bürgerbewegungen kann als eigentlicher zivilisatorischer und kultureller Fortschritt angesehen werden. Die Hospizbewegung hat als ‚Not‘ das Sterben aufgegriffen. Wie sterben Menschen? Kann man sie dabei begleiten, damit sie nicht allein sterben müssen? Diese Frage ist natürlich erst ins öffentliche Bewusstsein getreten durch  einzelne Menschen, in diesem Fall vor allem durch Elisabeth Kübler-Ross in den siebziger Jahren. Dazu nötig waren zwei gesellschaftliche Entwicklungen, ein Entfernen des Sterbens aus der Alltagskultur und die Verschiebung des Sterbens in die Einrichtungen, wie Altenheime und Kliniken und gleichzeitig, gegenläufig zur Institutionalisierung des Menschen, die immer stärkere Betonung der einzelnen Persönlichkeit, so dass das Sterben immer weniger Teil des normalen Lebensprozesses war, stattdessen immer mehr zu einem Geschehen wurde, das den einzelnen Menschen ganz bewusst und ganz persönlich existentiell betrifft. Die Frage, was ein ‚gutes Sterben‘ ist,klingt ja an sich schon paradox und führt auch in der Hospizbewegung zu interessanten Vorstellungen und Auseinandersetzungen.(Das soll an anderer Stelle einmal angeschaut werden) Ähnlich wie die Frage nach der ‚guten Geburt‘ beruht sie aber darauf, dass ein bis dahin mehr animalisches natürliches Geschehen beim Eintritt und beim Austritt des Lebens nicht mehr gewährleistet ist und auch nicht mehr der Bewusstseinslage heutiger Menschen entspricht. So war es für meine Frau und mich sehr hilfreich bei der Geburt unserer Kinder nicht nur eine Hebamme zu haben, die sich mit diesem Prozess auskennt, sondern von dieser auch über das, was bei einer Geburt geschieht oder geschehen kann, ausführlich informiert zu werden. Ähnliche Prozesse wurden dann ja auch für das Sterben von den Protagonisten der Hospizbewegung erforscht. So dass die Sterbebegleiter bei ihren Begleitungen im Hintergrund durch ihre Ausbildung und durch ihre Erfahrungen eine Art inhärenter Struktur des Sterbeprozesses besitzen (der sich natürlich in jedem Einzelfall individuell ausprägen wird).

Die Spanne einer solchen Begleitungsarbeit ist allerdings sehr groß. Von der Begleitung von Menschen, die mit vollem Bewusstsein angesichts einer tödlich verlaufenden Erkrankung sich Unterstützung durch Sterbebegleitung wünschen, d.h. auch die  bewusste Auseinandersetzung mit Tod und Sterben suchen,  bis zu dem Menschen, der im Altenheim, vielleicht gar nicht mehr ansprechbar, vielleicht sogar ohne präsente Angehörige, alleine stirbt, und allen anderen möglichen Formen, reicht die Arbeit der Sterbebegleiter*innen. Kein Wunder auch, dass in den letzten Jahrzehnten die Unterstützung von Menschen an der Schwelle zum Tod immer mehr ins Bewusstsein und in die professionelle Versorgung aufgenommen wurde. Palliativ-Medizin, Palliativ-Stationen, stationäre Hospize, Kinderhospize usw. wurden aufgebaut und erhalten aus der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit und Spenden. Parallel entsteht immer mehr wissenschaftliche Forschung und Professionalisierung in diesem Gebiet, so dass sich die ehrenamtlichen Sterbebegleiter manchmal fragen, was für sie eigentlich noch bleibt. Man kann trotzdem feststellen das Sterben hat einen (neuen) Platz in unserer Kultur gefunden. Einen Platz, der auch immer weniger religiös, oder konfessionell bestimmt ist, stattdessen allein auf konkreter Menschlichkeit beruht.

Ein ‚Nebeneffekt‘ dieser neuen Menschlichkeit ist, dass mit und durch die Tätigkeit in der Sterbebegleitung eine ganz neue menschliche Spiritualität entsteht, die meist gar nicht wahrgenommen wird, weil sie kein Überbau mehr ist, sondern erlebte Wirklichkeit. Sie wird auch oft  noch durch Rückgriffe auf alte spirituelle und religiöse Formen gestützt und manchmal sogar verborgen. Aber die Wirklichkeit dieser menschlichen Zuwendung im Sterben schafft für die beteiligten Menschen einen Raum, in dem die Zeit sich anders verhält als im normalen, immer schneller verfließenden Bewusstseinsleben des Alltags. Auch entsteht eine Intensität des Daseins, die von sich aus schon Sinnhaftigkeit schafft. Eine Sinnhaftigkeit, die die überlieferten Formen der Spiritualität kaum noch bieten können. Und die Hinwendung und Bewegung in diesen Räumen des Sterbens befruchtet merkwürdigerweise das Leben der Begleitenden, so dass diese ihre Tätigkeit als eine Art Nahrung und Ernährung für das eigene Leben erleben. Diese mehr hintergründige Wirkung der Sterbebegleitung auf die Lebenden, haben ja auch Angehörige von Sterbenden, aber bei diesen, vergeht diese Wirkung oft wieder im Alltag. Auch den Sterbebegleitenden ist diese Wirkung teilweise bewusst, aber erst im Austausch mit anderen verobjektiviert sich diese Wirkung als eine Tatsache, die sich mitteilen und teilen lässt. Man kann sogar in den Situationen, in denen man sich über diese Erfahrungen und Erlebnisse austauscht, bemerken, dass ein ähnlicher Raum, eine ähnliche Wirklichkeit entsteht, wie in den Sterbesituationen. Diese Wirklichkeit wird oft gespeist von der eigenen Erkenntnisbemühung an den eigenen Verständnisgrenzen, an dieser Bemühung können die beteiligten Verstorbenen anscheinen partizipieren in ihrer eigenen nachtodlichen Entwicklung. Insofern gilt auch für die Sterbebegleitung die wichtige Maxime, das man gar nicht das Sterben alleine beurteilen kann, sondern schauen muss, wie es weiter geht. (Das setzt allerdings voraus, dass man ein solches Weitergehen zumindest in Betracht zieht).

Es ist interessant diesen Grenzbereich des Lebens, das Sterben von Menschen, genauer kennenzulernen. Denn das Sterben ist der ja Bereich, in dem sich zwei Seiten der menschlichen Existenz berühren: Leben und Tod. Das heißt, ich kann in diesem Bereich den Unterschied zwischen Leben und Tod anfangen zu bemerken. Ich erinnere mich zu Beispiel an verschiedene Schilderungen von Begleiterinnen, die bei Sterbenden saßen und sich mit diesen in dem Zwischenraum zwischen Leben und Tod bewegten, und die berichteten wie es auf sie wirkte, wenn dann Angehörige, oder auch Pflegepersonal, mit beiden Beinen fest im Leben stehend, den Raum mit dieser Festigkeit und Lautstärke durcheinanderbrachten. Erst durch diesen Unterschied wurde ihnen aber die vorherige Stimmung umso deutlicher. Meist erschien sie dann im Rückblick wie eine Märchenstimmung, im Unterschied zu der zu festen schwellenfreien Wirklichkeit des Lebens. Wenn man solche Erfahrungen in diesem Grenzbereich ernstnimmt, dann kann man dort etwas über einen Bereich erfahren, der nicht so einfach zu erkunden ist, den Bereich des Todes.

Der Tod wirkt, gewissermaßen aus der Zukunft in diesen Sterberaum (des Lebens) hinein und verändert diesen ganz konkret. Man kann also den Tod in diesem Dämmerbereich des Lebens immer besser kennenlernen. Man nimmt diese Möglichkeit meist aber nicht ernst, weil man das Sterben nur als defizitären Lebensprozess begreift und erlebt (gerade als naher Angehöriger). Das heißt man vergleicht den jetzigen Zustand mit den vergangenen Lebensmöglichkeiten und mit dem Menschen von vorher und stellt fest, das Jetzt ist irgendwie weniger. Begibt man sich aber in die jetzige Realität des anderen Menschen würde man oft, selbst wenn der andere Mensch nicht mehr bei Bewusstsein ist, den anderen Raum bemerken und die neue Wirklichkeit, die diesen Raum mitbestimmt.

Sterbebegleitung ist also heute eine reale Möglichkeit an die Wirklichkeit des Todes heranzukommen. Ich würde auch behaupten wollen, dass dies für viele Menschen, die eine Hospizausbildung machen ein wichtiges Motiv ist, bewusst oder nur teilweise bewusst. Dazu passt auch, dass wenn ich die Teilnehmer*innen in der Supervision befrage, warum sie sich der Hospizarbeit angeschlossen haben, viele die Erfahrung mit dem Tod eines nahen Angehörigen nennen, die eine Art Bewegung in diese Richtung initiiert hat. Gleichzeitig gibt es aber eine gewisse Scheu, die eigenen Erfahrungen in diesen Räumen mit Tod und Sterben ernst zu nehmen als Erkenntnismöglichkeit für die Frage nach der Wirklichkeit des Todes als andere Seite des Lebens. Das hat etwas damit zu tun, dass diese Erfahrungen pur erlebnisbezogen und subjektiv erscheinen, sobald man versucht sie in herkömmlichen Beschreibungsarten und Vorstellungen zu äußern. Die andere Möglichkeit sie vollständig zu verobjektivieren ruiniert diesen Bereich aber noch mehr. So bleibt oft nur das Schweigen über das Erlebte. Es ist ja schon für Trauernde nach dem Tod eines Partners oder Kindes kaum möglich sich ihrer nicht betroffenen Umwelt über ihre Lage verständlich zu machen. So dass auch in solchen Fällen oft nur hilfreich ist sich mit anderen Menschen darüber auszutauschen, die zumindest in ähnlicher Lage sind. Das macht es auch verständlich, dass sich die Hospizvereine immer wieder mit Anfragen von trauernden Menschen konfrontiert sehen und inzwischen auch vermehrt Angebote an gemeinsamer und individueller Trauerbegleitung entwickelt haben (inklusive der entsprechenden Ausbildung). Dies betrifft insbesondere auch Kinder und Jugendliche, die einen nahen Angehörigen verloren haben und einen Raum suchen, in dem sie mit ihrer Trauer leben können. (Für mich als Supervisor bedeutet das, dass ich seit einigen Jahren auch mit Kindertrauerbegleitern arbeite und relativ neu auch mit Gruppen, die Trauercafes leiten). Das bedeutet ja, dass sich die Hospizarbeit, die ursprünglich eben die Arbeit mit Sterbenden war immer mehr erweitert zu einer Arbeit mit Trauernden und damit auch zu einer Arbeit mit Verstorbenen. Anscheinend vermutet man in der Gesellschaft,  eine gewisse Kenntnis und Erfahrung mit dem Sterben und damit mit dem Tod könne auch hilfreich sein für den Umgang mit der Zeit danach. Das ist insofern schlüssig, weil schon die Begleitung des Sterbens zu einem großen Teil darin besteht die Angehörigen des Sterbenden zu begleiten und sich ansprechbar zu zeigen für das Thema Tod und Sterben, denn oft fällt es den Menschen schwer den nahenden Tod ihres Angehörigen sich klar zu machen und erst recht mit dem Sterbenden darüber zu sprechen. So dass der sterbende Mensch und die Angehörigen durch dieses nicht sprechen können voneinander abgeschnitten sind.

Obwohl also die Erfahrungen mit Tod und Sterben die Hospizmitarbeiter*innen geradezu als sehr geeignet erscheinen lassen, um auch das Trauern mit den Angehörigen begleiten zu können, zeigt sich doch immer wieder eine Gemeinsamkeit mit den Trauernden: Man fühlt sich doch unsicher in Bezug auf den Tod selbst. Das Sterben als Teil des Lebens ist immerhin ein noch Übergangsbereich; der Tod selbst bleibt als Lebensbereich dunkel. Dies zeigt sich besonders in den extremeren Trauersituationen, wenn es um Suizid, Unfälle und andere Lagen geht, gerade auch bei jüngeren Menschen. Man könnte jetzt natürlich ganz einfach sagen, das müssen wir auch gar nicht so genau wissen was mit dem Tod ist, wir kümmern uns ja um die Angehörigen. Aber in Wirklichkeit sind die Trauerphasen der Angehörigen nur unter zwei Prämissen zu verstehen und zu begleiten: Erstens welches Verhältnis/Verständnis hat der/die Trauernde zum/vom Tod und zweitens welches Verhältnis hat(te) der/die Verstorbene zum Tod. Alleine die Lebensseite des Trauerns zu begleiten, erscheint mir unter dieser Perspektive als unzureichend. Meist wird Trauern dann als eine Art Lebensprozess verstanden, der irgendwann einfach abklingt oder abklingen sollte. Die Berührung, Begegnung mit dem Tod ist aber im Grunde mehr als nur eine normale Lebenserfahrung, sie ist das einschneidende Erlebnis mit der Frage: was von mir bleibt eigentlich? Sie relativiert auch das irdische Leben,  alles erscheint plötzlich nicht mehr so wichtig und bedeutsam, so dass die normalen Lebensantriebe wie erlöschen. Eine enge Beziehung zu einem Verstorbenen kann dazu führen, dass man versucht in diesen Bereich zu gelangen,  um die Beziehung fortzusetzen (Orpheus und Eurydike). Begriffe wie Trauerarbeit, Loslassen lernen erscheinen in solchen Lagen irgendwie hohl. Sie nehmen die Bewegung und die Beziehung der Betroffenen nicht wirklich ernst. Es ginge doch eher darum, wie eine solche Beziehung zu Verstorbenen gelebt werden kann, ohne dass der Lebende tot sein muss, oder der Verstorbene wieder leben soll.

Ich habe deshalb gestern (in der Supervision) versucht darauf hinzuweisen, dass eine solche Trauerbegleitung gewissermaßen immer beide Seiten im Sinn haben muss. Es ist nicht immer die intensive Trauer psychologisch erklärbar aus der Psyche der trauernden Person, es kann sich auch um eine Wirkung des Verstorbenen auf die trauernden Menschen handeln. Eine solche Wirkung ist bei intensiven Beziehungen natürlich viel direkter und es ist gar nicht so einfach möglich das eigene Seelische von dem Seelischen des Verstorbenen zu unterscheiden. Man kennt ja schon in der normalen Psychologie das Phänomen der Übertragung, einfach ausgedrückt, nicht jedes Gefühl, das ich erlebe, ist immer auch mein eigenes Gefühl. Umso mehr gibt es solche Übertragungen in den Fällen, wo das Gegenüber kein wirkliches Gegenüber mehr ist, sondern gar nicht mehr so klar zu verorten ist, was innen und außen ist. Umgekehrt wird auch wieder die Entwicklung auf der Seite der Angehörigen eine Wirkung auf den Verstorbenen haben. Ich würde sogar behaupten wollen, dass eine solche Entwicklung eher auf der Seite der noch lebenden Menschen möglich ist und die Verstorbenen davon abhängig sind für ihre eigene Entwicklung. Es ist ja relativ einfach zu denken, dass ein inneres Festhalten des anderen Menschen in einer vergangenen Form, diesen stört sich in seiner jetzigen Existenzform zurechtzufinden. Man hat es also wie mit einer Art Gleichung zu tun, wo eine gegenseitige Abhängigkeit gegeben ist. Für ein richtiges Verständnis ist es also hilfreich sich immer klarer zu machen, wie Verstorbene und Lebende eine Einheit bilden (wollen) und wie dies gehen kann.

In diesem Sinne ginge es in der Trauerbegleitung nicht um eine mehr psychologische Stütze der Angehörigen in ihrem Trennungsschmerz, sondern es geht schlicht um die Weiterentwicklung der Beziehung zu den Verstorbenen. Eine solche Weiterentwicklung ist aber nur möglich, wenn ich die Weiterexistenz der Verstorbenen grundsätzlich erst einmal voraussetze, denn in dem Bereich nichtsinnlicher Existenz gilt die Regel, dass nur das existiert, dass ich auch denken kann. Dabei ist dieses Denken nur der Anfang, es gilt dann, ähnlich wie bei der Frage des Sterbens, in eine Erfahrungs- und Erlebnisebene einzusteigen und sich mit den unterschiedlichen Seinsweisen in Leben und Tod auseinanderzusetzen. Man kann sich dann auch die Frage stellen, ob es eventuell sogar eine gemeinsame Wirklichkeit gibt, die sich gar nicht existentiell unterscheidet. Mit Platon gesprochen, identifiziere ich in mir den Bereich, der „stetig bewegt wird“, möglicherweise sogar den Bereich der stetig bewegt. Dies ist gewissermaßen die Voraussetzung, dass ich lerne mich dann in derjenigen Sphäre zu bewegen, die als Sphäre des Todes mir erscheint: Die Schwärze.

Die Schwärze ist das, was von vielen Menschen als Wirklichkeit des Todes als erstes erlebt wird, wenn sie existentiell durch den Tod eines nahen Menschen betroffen sind. Es ist ein ganz konkretes seelisches Schwarz Erleben. Ich habe dies selbst einmal erlebt nach dem Suizid eines Menschen, den ich begleitet habe. Diese Schwärze ist massiv und beeindruckend. Es ist nichts was man in dieser Schwärze noch finden kann. Es ist alles Sinnliche ausgelöscht und man hat kein Mittel dieser Schwärze als innerem Seelenerlebnis Herr zu werden. Sie beherrscht einen vollständig und löscht damit das eigene Seelenleben wie aus. Alle normalen Seelenregungen sind erst einmal wie tot und alle Bewegungen sind wie gelähmt. Das Erlebnis dieser Schwärze ist m.E.  ein wichtiges (Durchgangs)Erlebnis, wenn man nicht in problematischer Weise die Tatsache des Todes umgehen will. Es ist eine wirkliche seelische Konfrontation mit der Realität des Todes (von der Seite des Lebens aus). Es ist die Schwelle zwischen Tod und Leben und diese verlangt sehr massiv Anerkennung ihrer Realität. Meistens ist diese Schwärze so erschreckend, dass sie die Menschen vollständig lähmt, das normale äußere ‚bunte‘ Leben hat keine Relevanz neben dieser inneren Schwärze. Oft wird dann mit der Zeit der Blick von diesem (inneren) Schwarzen abgewendet oder abgelenkt, weil man kein Mittel findet, um seiner Herr zu werden. Was ist diese Schwärze? Und wie wäre mit ihr so umzugehen, dass sie nicht umgangen wird, aber auch nicht gemieden wird?

In dem Buch ‚Das Wesen der Farben‘ von Rudolf Steiner (genauer sind es Vorträge von 1921), das ich vor einigen Jahren in meinen ‚Forschungswegen mit der Farbe‘ zusammen mit einigen Maler*innen studiert habe gibt es eine wundervolle Stelle zum Schwarz. Ich zitiere sie hier ausführlich: “Aber versetzen Sie sich selbst jetzt in das Schwarze: Alles ist absolut schwarz um Sie herum – die schwarze Finsternis – da kann in einer schwarzen Finsternis ein physisches Wesen nichts machen (wichtig also: ein physisches Wesen kann da nichts machen R.W.) Leben wird aus der Pflanze vertrieben, indem sie zur Kohle wird. Also das Schwarze zeigt schon, dass es dem Leben fremd ist, dass es dem Leben feindlich ist. An der Kohle zeigt sich das; denn die Pflanze, indem sie verkohlt, wird schwarz. Also Leben? Da ist nichts zu machen im Schwarzen. Seele? Es vergeht uns die Seele, wenn das grausige Schwarz in uns ist. Aber der Geist blüht, der Geist kann durchdringen dieses Schwarze, der Geist kann sich darinnen geltend machen.“ Und Steiner kommt zu dem Begriff des Schwarzen: “Schwarz stellt dar das geistige Bild des Toten.“ Also Leben gibt es nicht im Schwarzen und ein normales Seelisches hat auch in der Schwärze keine Existenzmöglichkeit. Ich kann also mit der Schwärze eine erste reale Erfahrung der Wirklichkeit des Todes und damit einer nicht-sinnlichen Wirklichkeit machen.

Ähnliche Erfahrungen kann man bezüglich der Schwärze machen in der Wirklichkeit des Schlafes, oder wenn man versucht in die Zukunft zu schauen, oder in das sogenannte Unbewusste, oder Unterbewusste Bewusstsein bringen möchte. Die Begegnung mit der Schwärze ist so verstanden eine Berührung mit einer geistigen Realität und in dieser gelten andere Gesetze als in der sinnlichen Wirklichkeit. Werden solche Berühren mit geistiger Wirklichkeit nicht im Bewusstsein erlebt, sondern tauchen mehr in den Organismus unter, also in die Lebensprozesse, sorgen sie dort für Entzündungen und für Schmerz. Schwärze im Leben wird zu Schmerz. Da wird das Leben nicht nur seelisch ausgelöscht, sondern auch organisch.

Das Schwarz ist aber nur ein erstes Bild des Toten. Dieses Bild hat aber so viel (geistige) Kraft, dass es in der Lage ist die lebendige Wirklichkeit des trauernden Menschen unwichtig und irreal erscheinen zu lassen. Es trennen sich äußere Erscheinungen und innere Wesenhaftigkeit. Aber diese geistige Schwärze hat irgendwie von selbst keinen Inhalt. Das äußere Leben hat einen Inhalt aber keinen Kern mehr. Man ist also durch den Tod herausgerissen aus seinem eigenen Leben. Man kann hinter diesen Bewusstseinsschritt, hinter dieses Erlebnis aber nicht wieder zurück in seine alte Normalität, auch wenn dies die Umgebung immer wieder verlangt. Stattdessen gilt für die Beziehung zu dem Verstorben das Gleiche, wie für die Beziehung zu meinem Leben: Ich muss sie ganz neu aufbauen!

Ich muss meinem Leben und meiner Beziehung neue, nur durch mich geschaffene Realität geben. Das geht erst einmal nur im ganz Kleinen. Es gilt darauf zu achten, welche, möglicherweise ganz neue Bewegungen mir möglich sind. Es gilt darauf zu achten, ob möglicherweise ganz kleine Interessen in mir auftauchen und diese dann aufzugreifen, obwohl sie vielleicht üblicherweise von mir und meiner Umgebung nicht ernst genommen würden. Das betrifft auch eine andere Intensität von Wahrnehmungen und Naturerlebnissen, die plötzlich möglich werden. Natürlich ist mein altes Leben, meine Vergangenheit noch da, aber sie bekommen erst in dem Maße wieder Realität für mich, indem ich solche erste freie Bewegungen mache. Das alte Leben wird so eher zu einer Art Material für das neue Leben, möglicherweise auch zu einem gewissen Widerstand.

Die eigentliche Trauerbegleitung würde insofern darin bestehen diese Prozesse selbst zu kennen und zu verstehen und jemanden in diesen Prozessen zu begleiten. Abnehmen kann man niemandem dieses Erleben. Aber man kann gewissermaßen die Zukunft in diesen Prozessen repräsentieren, dadurch dass man nicht in der Schwärze steckenbleibt, sondern den Durchgang erleben und denken kann. Der Sinn des Todes wird dann in seiner Befreiungswirkung erlebbar, eine Befreiungswirkung von einem problematischen Verhältnis, das ich zu mir selbst und meinem Leben habe. Hier kann der Tod des anderen Menschen zum Entwicklungsmittel für den Lebenden werden. In den Entwicklungsbewegungen und Empfindungsveränderungen kann dann wiederum der Verstorbene mitleben und miterleben. Erst eine solche Verbindung von Verstorbenen und Lebenden ist eine ganze Wirklichkeit und wird auch als eine erfüllte Wirklichkeit erlebt.

Karfreitag 15.4.2022

siehe auch meinen Beitrag Leben und Tod – Leben mit Verstorbenen

Literatur: Platon, Phaidros

                R. Steiner, Das Wesen der Farben, 1. Vortrag 6. Mai 1921 GA 291, S. 39

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