Zentrales Ich und Umkreis-Ich

In einem  neuen Aufsatz von Wolf-Ulrich Klünker, ‚Das neue Tier und der Engel‘, (erschienen in der Wochenschrift ‚Das Goetheanum‘ am 5.4.2019) habe ich eine Beschreibung der Beziehung zwischen zentralem Ich und Umkreis-Ich gefunden, die meine Perspektive in meinen Beiträgen zur Ich-Entwicklung der Wahrnehmung und zum peripheren Ich des Schicksals erweitern, verdeutlichen und vertiefen kann. 

Das Alltagsbewusstsein erlebt sich normalerweise als eine Art Spiegel-Bewusstsein. Das bedeutet, das was ich denke, vorstelle, imaginiere wird nicht automatisch Wirklichkeit. Es erscheint nicht verbunden mit der Wirklichkeit. Genau dieses nicht in die Kraftwirklichkeit eingebundene Spiegel-Bewusstsein ist aber die Grundlage für die Freiheit des Menschen. Das erst einmal kraftlose Bewusstsein kann zum Ausgangspunkt werden für eine Individualisierung der Wahrnehmung und der Wirklichkeit. Wolf-Ulrich Klünker hat den Engel in der mittelalterlichen Tradition immer als die wirklichkeitsschaffende Kraft im Natur- und im Schicksalszusammenhang angesprochen. Der Engel ist aber in diesen Zusammenhang den er hält eins zu eins eingebunden. Die Verbindung zwischen dem kraftlosen Bewusstsein des Menschen und dem kraftwirksamen Bewusst-Sein des Engels liegt nicht in den (Spiegel)Bildern der Wahrnehmung und des Bewusstseins, sondern in den „individuell <spiritualisierten> Empfindungen der Welt, in denen innere Verbindungen des Menschen mit den Dingen  gleichsam real werden – hier wird eine nicht gegebene, sondern eine intendierte Welt Wirklichkeit (…)“. „Die <große >, realitätsbildende Kraft des Engels geht aus von der <kleinen> Intentionskraft und Imaginationskraft des Menschen, der aus imaginativer Kraft heraus eine Zukunftswelt imaginiert, mit der er wirklich verbunden ist.“

Durch diese Entwicklung verändert sich auch die Wahrnehmung  und damit das Selbstgefühl des Menschen. „Die Wahrnehmung ist dann nämlich nicht mehr nur Bild der Welt, sondern Ausdruck erkrafteter und wirksamer individueller Weltbeziehung: Nur an Letzterer kann der Engel anknüpfen. Damit verbindet sich der Engel auch mit dem entsprechenden Selbstgefühl des Menschen. Das Selbstgefühl bezieht sich dann nicht nur auf den eigenen Innenraum, sondern der Weltausschnitt, mit dem ich imaginativ und intentional verbunden bin, individualisiert sich und wird zu einer Art Umkreis-Ich. Das zentrale, in mir erlebte Ich steht in ständigem Austausch mit dem peripheren Ich, ich erlebe mich an der Welt, und die Welt wird in diesem Selbsterleben nicht nur abgebildet, sondern weiterentwickelt.(…)Das zentrale <innere>Ich bildet intentional Imaginationen; Selbstgefühl entsteht aus dem Zusammenwirken des zentralen Ich mit dem peripheren, das sich in der angedeuteten Weise mit der Welt verbindet. In diesem individuellen Wechselspiel ruht gleichsam eine Zukunftswelt; in ihr kann heute der Engel wirklichkeitsbildend wirksam werden, indem er sich mit dem individuellen Erleben und Wahrnehmen verbindet.“ (…)

In dieser Beschreibung zeigt sich wieder der Pendelschlag des Ich, oder hier das Wechselspiel zwischen zentralen Ich und peripherem Ich. Es zeigt sich aber auch eine Zielrichtung der Ich-Entwicklung. Das Ich wird hier zum Ausgangspunkt auch einer neuen Welt–Entwicklung. Dabei bleibt das Ich aber ganz klein und unscheinbar in seinen Anfängen und seiner Anfangskraft. Problematisch wird es, wenn das Ich an dieser Schwelle sich mit seinen Imaginationen und ihrer Bedeutung identifiziert, oder aber auch die Kraft-Resonanz der Wirkungen auf sich bezieht. Es muss in der kleinen Bewegung zwischen Punkt und Umkreis wirksam bleiben.

(Titelbild: Ramona Rehn, Atlantis, Foto mit Lochkamera)

Roland Wiese 16.4.2019

Der vollständige Aufsatz ist hier als PDF zu lesen. Das neue Tier.WUK.4.19

 

 

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