Ich-Entwicklung begleiten
Zwischenzeitlich hatten wir zwei Treffen zur Ich-Entwicklung und ich war noch im Loidholdhof bei Vortrag und Seminar von Wolf-Ulrich Klünker zum Thema ‚Die Grenzen der Ich-Erfahrung‘ und in Haus Arild zum Vortrag ‚Menschlichkeit als therapeutische Kraft‘. Aus all dem zusammen ergeben sich für mich einige interessante Perspektiven, die ich im folgenden Beitrag versuche, zusammen zu bringen.
In unserem letzten Treffen vor der Sommerpause haben wir uns mit dem Pendelschlag des Ich im Wollen auseinandergesetzt. Ein Thema, bei dem die Luft sehr dünn wird! Auch die Psychologie und die Philosophie haben sich mit dem Willen an sich schon immer schwergetan. Das für mich für ein menschenkundliches Verständnis des Willens Nützlichste habe ich immer in der Nikomachischen Ethik von Aristoteles gefunden, in dem Aristoteles den Zusammenhang des Fühlens mit dem Willen beschreibt. Anknüpfend an die alte Mysterienaufforderung von Delphi ‚Alles mit Maß‘ entwickelt er ein Maß, als individuelle Empfindung, wann ein Willens-Gefühl übermäßig und wann es eigentlich zu schwach ausgeprägt ist. Ein Zuviel an Mut ist Tollkühnheit und eventuell schädlich, ein Zuwenig ist Feigheit und auch nicht empfehlenswert. Für das richtige Maß gibt es aber nun einleuchtender Weise kein äußeres Kriterium, sondern nur das für das einzelne Individuum richtige Maß. Dieses gewinnt wiederum nicht durch die Theorie, sondern durch die Erfahrung des Zuviel und des Zuwenig. Der Wille besteht nun eigentlich darin das Gute (Richtige) zu wollen. Das Gefühl, oder das Fühlen ist dabei das Empfindungsinstrument und gleichzeitig aber auch der Motor, die Energie. Martina Rasch hat in unserem vorletzten Treffen einen Zusammenhang Rudolf Steiners aus der Allgemeinen Menschenkunde beigetragen. (Das sind die Vorträge, die Steiner vor den Lehrern zur Begründung der Waldorfschule gehalten hat) Martina Rasch hat zwei Aspekte des Willens (und des Gefühls) geschildert. Einerseits den Zusammenhang von Gefühl und Wille; – das Gefühl ist der gestaute („zurückgehaltener Wille); und der Wille ist das ausgelebte („ausgeführte“) Gefühl. Im Menschen staut sich im Gefühl Wille. Durch den Menschen lebt sich im Willen gestautes Gefühl aus. Im Stauen und Zurückhalten kommt der Wille im Gefühl zu einem Bewusstsein von sich selbst; im Ausführen wird das Gefühl realisiert. Gleichzeitig kann diese Ausführung eigentlich nie vollständig geschehen, es bleibt immer eine Art ‚Rest‘ über, der wieder als keimhafter Wille neues Leben schafft. (Ja dieser Rest setzt sich sogar durch den Tod fort). In dieser Möglichkeit des Zurückhaltens und der Möglichkeit des Ausführens ist die Möglichkeit für den Eingriff des Ich gegeben. Ich kann bewusst stärker Zurückhalten und bewusst stärker ausführen. Auf diese Weise kann sich das Ich eine Empfindung des individuellen und richtigen Maßes erarbeiten. Dabei wird in den eigentlichen Inhalt des Gefühls/des Willens nicht eingegriffen. Das gilt natürlich auch für Übungs-, Erziehungs- und therapeutische Zwecke: In der bewussten Gradierung des Gefühls entsteht eine bewusstere Umgangsweise und gleichzeitig eine Stärkung des individuellen Willens, ohne dass ich mich selbst oder den anderen inhaltlich manipulieren muss. (So kann man bestimmte Gefühle, wie z.B. Angst nicht wegmachen, aber durch ‚aushalten‘, also eine Willenstätigkeit, in ein erträgliches Maß bekommen).
Der zweite Aspekt, den Martina Rasch aus der Allgemeinen Menschenkunde eingebracht hat, war die Schichtung die Steiner mit dem Willen vornimmt: Die erste Form des Willens sieht er im Instinkt, der sich in der Form des physischen Leibes auslebt. Wenn der lebendige Organismus diesen Instinkt ergreift, wird daraus Trieb, wenn dieses jetzt seelisch bewusster wird, entsteht die Begierde, wenn der Mensch Instinkt, Trieb und Begierde erfasst wird es zum Motiv, weitergehend wird daraus Wunsch, Vorsatz und Entschluss. Die letzten drei Formen des Willens wurzeln laut Steiner schon in der Zukunft, im Nachtodlichen, oder auch in den Wesensgliedern des Menschen, die im Leben noch nicht entwickelt sind (Stand 1919!). Es ist für die folgenden Gedanken wichtig sich einmal etwas länger mit dieser Anschauung umzugehen. Auch einmal bei sich selbst mit diesen Begriffen zu schauen, wie sich Gefühl und Wille da zeigen und differenzieren. Wenn man das tut kann man sehr deutlich spüren, dass das eigene Wollen mehr eine Art Zukunft in uns ist, die uns zieht, als dass er eine Art Druck aus der Vergangenheit ist. Man kann bemerken, dass für den Willen tatsächlich gilt, dass seine Ursache in der Zukunft liegt, in dem Wunsch das Gute zu verwirklich. (Aristoteles hat einmal als psychologische und ethische Kernaussage formuliert, dass die Menschen das tun, was sie tun, weil sie meinen, dass es das für sie Gute ist. Der Irrtum, dass es auch wirklich das Gute ist, ist beim ‚Meinen‘ immer inbegriffen). Die echte ‚causa finalis‘, also die Ursache, die aus dem Ziel entspringt, gilt also sehr speziell für den Willen. Wir wollen das Gute, ohne zu wissen was das ist. Unter anderem daran liegt es, dass die Zukunft so dunkel erscheint.
Unsere Gefühle haben also sehr viel damit zu tun, wie wir mit der Zukunft, wie wir mit unserem Willen umgehen. Die Zukunft ist die Existenzform des Geistigen, das noch nicht geworden ist. Berührt man diese Wirklichkeit zu stark (oder berührt sie einen zu stark), kann man deutlich Angst bekommen. Berührt man sie zu wenig, weil man ihr vielleicht ausweichen will, kann man eher depressive Gefühle haben, weil jeder Zukunftsbezug fehlt, gewinnt der Vergangenheitsbezug die Überhand (oder umgekehrt!). Wir haben in unserem letzte Treffen auch sehr gravierende Fälle von Entwicklungsstörungen besprochen. So wurde mit im Gespräch deutlich, dass Menschen, die in der frühen Kindheit starke Verwahrlosung und Misshandlung erlebt haben, in der Instinkt und Triebentwicklung schwer gestört sein können. Das kann bedeuten, dass sie sie zwar einerseits kognitiv wie Erwachsene erscheinen und behandelt werden wollen, aber in der Gefühls- und Willensentwicklung die Fähigkeit zur Zurückhaltung und Ausführung nicht richtig erwerben konnten. Dadurch haben sich Gefühl und Wille nicht ausreichend differenzieren können. Gefühl ist immer auch Wille und Wille immer auch Gefühl. Diese noch symbiotische Einheit grundlegender menschlicher Lebenselemente führt in der Folge häufig zu ähnlich symbiotischen, aber auch aussichtslosen Beziehungen, bzw. zur Schwierigkeit überhaupt Beziehungen wirklich zuzulassen. (Diese Form der Entwicklungsstörung wird heute meist als sozial emotionales Handicap beschrieben – so. z.B. Hellmuth Johnson. Die üblichen pädagogischen Methoden versagen bei dieser Störungsform meist vollständig!)
Martina Rasch wies daraufhin, dass bei dem Ausführen des Willens, bzw. des Motivs, immer ‚leise Wünsche‘ mitklingen. Steiner hat dieses leise mitklingende als das bezeichnet, was nach dem Tode übrigbleibt. Man könnte aber heute vielleicht schon dieses ‚leise Mitklingende‘ als eine erste Form des Willensbewusstseins beobachten. Gewissermaßen als eine Art objektives Echo aus der Zukunft/ der Wirklichkeit auf meine Willensausführung. Wolf-Ulrich Klünker spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von ‚leisen Intentionen‘, die man beachten solle. Dies ist nicht ganz das Gleiche, deutet aber in eine Empfindung des Willens hinein, die für uns sprechend werden kann. Voraussetzung dafür ist aber immer, dass man auch willentlich unterwegs ist. Wenn man Wille und Gefühl biographisch anschaut, kann man beide in der frühen Kindheit noch als Einheit wahrnehmen, die sich zunehmend ausdifferenziert. Das was ursprünglich Wille war, wird immer mehr Gefühl, und das was ursprünglich Gefühl war, wird immer mehr Wille. Es durchkreuzen sich beide. Dadurch werden sie aber auch gegenseitig empfindungsfähig. So dass der Wille immer mehr sensibel wird, und das Gefühl immer willensartiger. Durch diese Bewegung wird der Wille bewusster und das bewusstsein willensnäher, und beide dadurch realistischer was die Zukunft angeht, und umgekehrt das Reale, das Gewordene bekommt dadurch mehr Zukunft.
Eine Möglichkeit dieses sich biographisch vollziehende Geschehen bewusst zu ergreifen findet sich in dem Text von Wolf-Ulrich Klünker, den wir im letzten Treffen ansatzweise angeschaut haben. Der Aufsatz ‚Wer bleibt?‘ u.a. veröffentlicht in dem Buch ‚Die Antwort der Seele – Psychologie an den Grenzen der Ich-Erfahrung‘, beschreibt die Möglichkeit des Ich willensmäßig an den Folgen des eigenen Erlebens und Handelns dranzubleiben. Ich zitiere hier einen Absatz aus diesem Aufsatz und hänge den ganze Aufsatz unten an. In der Arbeit damit haben wir bemerkt wie dieser Zusammenhang einerseits durchaus direkt einsichtig ist, aber wie schwer es ist, damit in eine gemeinsame Arbeit zu kommen. Aber wie der Text ja selbst sagt, dieses Erlebnis ist nur begrenzt aussagefähig. Es kommt mehr darauf an, was man daraus macht. Die massive Identifizierung mit dem gegenwärtigen Erleben, wird durch den Umgang mit einem solchen Text ja stark in Frage gestellt. Und in dieser Hinsicht wirkt der Text, das konnte man in unserer Arbeit bemerken, nicht nur theoretische/deskriptiv, sondern die Wirklichkeit schaffend, von der er handelt.
„Wie werden zukünftige Wirkungen, die bereits heute ursächlich sind, bewusstseinsfähig? Wie kann eine innere Orientierung, wie kann aus Selbsterkenntnis folgend allmählich ein Selbstgefühl entstehen, das zukunftsbezogen ist – obwohl selbstverständlich Wirkungen aus der Vergangenheit virulent bleiben? Es ist damit die Frage nach dem Bewusstsein für ein noch nicht sichtbaren, weil noch nicht in der Ist-Welt existenten Bereich angesprochen; für einen Bereich übrigens, der gerade weil er noch nicht gegeben ist, auch kaum Gegenstand für äußere oder innere Manipulation werden kann. – Bewusstseinsfähigkeit kann für die Lebensebene der Zukunft entstehen, wenn die Zukunftswirkungen von Ereignissen, Taten, Gedanken etc. weiter beobachtet werden. Ich muss also einen Zusammenhang in die Zukunft hinein in meinem Bewusstsein herstellen, in dem ich innerlich mit dem verbunden bleibe, was jetzt geschieht. Dieses Bewusstsein ist eine Willensfrage, hängt von der Kraft der Intention ab, in Zukunft immer wieder an dasjenige anzuschließen, was jetzt Gegenwart ist – mich darauf zu besinnen, es zu erinnern, in einem Denken von weiten Zusammenhängen zu überprüfen, wie es weitergewirkt hat und auch im Moment noch wirkt. Damit erschließt sich das Bewusstsein den Zukunftsraum, damit wird umgekehrt die Zukunft selbst bewusstseinsfähig, ohne dass spekulative, wunschbezogene oder horoskopähnliche Gedanken auf sie angewendet werden. Die Zukunft bleibt offen, ist nicht determiniert, aber ich bringe eine Beobachtungsgabe hervor, die die Gegenwart für die Zukunft öffnet, die den alten Bewusstseinsraum transzendiert. Dabei ist die Vermutung sicher nicht ganz unberechtigt, dass eine solche neue, willensgetragene Aufmerksamkeit von vornherein auch die Erlebnisdimension der eigenen Existenz verändern wird, selbstverständlich nicht drastisch und abrupt, sondern allmählich und in zunächst kaum merklichen Veränderungen.“ (Wolf-Ulrich Klünker, Wer bleibt?)